von Alissa J. Rubin, «International Herald Tribune»
Es gibt wenige Gewissheiten in einer Zeit, in welcher der Rückzug der Nato-Truppen an Tempo zulegt, aber eines ist sicher: Die Kontinentaleuropäer sehen die Zukunft Afghanistans wesentlich düsterer als ihre amerikanischen und britischen Gegenüber.
Aus kontinentaleuropäischer Sicht wird mit dem Schwinden von westlicher Unterstützung und Militärausgaben eine wirtschaftliche Depression heraufziehen; die heute schon endemische Korruption eskaliert gefährlich, da afghanische Machthaber die Kriegsindustrie bis auf den letzten Penny melken, bevor sie versiegt; die Sicherheit bleibt trügerisch – und das nicht nur wegen der Taliban, sondern weil in weiten Teilen des Landes ethnisch fundierte Milizen wieder aktiv werden.
Die Amerikaner und Briten hingegen sprechen von Möglichkeiten: Die afghanischen Sicherheitskräfte verbessern sich; Präsident Karzai hat versprochen, sich nicht zur Wiederwahl zu stellen, was eine glaubwürdige Wahl ermöglichen wird; und die Taliban scheinen offen für Friedensgespräche zu sein, nur nicht gerade jetzt.
Bei diesen unterschiedlichen Szenarien, die in der letzten Woche in Interviews mit ausländischen Amtsträgern dargelegt wurden, handelt es sich um mehr als nur semantische Fragen. Es geht dabei um grundsätzliche Differenzen in den Schlussfolgerungen der Alliierten darüber, wieviel man in Afghanistan erreicht hat und wieviel mehr man noch dafür ausgeben sollte.
Diese Frage wird am Nato-Gipfel vom Wochenende in Chicago im Mittelpunkt stehen, wobei sich das Hauptaugenmerk darauf richten wird, auf zehn Jahre über das Ende der Nato-Mission im Jahre 2014 hinaus Zusagen von Nato-Mitgliedstaaten und anderen Ländern für die Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte zu erhalten.
«Viele europäische Länder befinden sich in einer Wirtschaftskrise, stehen vor Wahlen und ihre Bürger sind nach elf Jahren des Krieges müde», sagte ein europäischer Diplomat hier. «Daher ist das Bereitstellen von umfangreichen Geldmitteln für die afghanischen Sicherheitskräfte für uns keine so klare Priorität.» Wie andere für diesen Artikel Interviewte sprach der Diplomat über die Unterstützungsdiskussionen unter der Bedingung, anonym bleiben zu können.
Jedermann glaubt, dass letztendlich – konkret am Ende der Konferenz am Montag – die Unterstützungszusagen für ein Ziel von jährlich 4,1 Milliarden Dollar für die nächsten zehn Jahre vorliegen werden, um Afghanistan bei der Aufrechterhaltung seiner Sicherheitskräfte zu unterstützen. Die Amerikaner planen, ungefähr zwei Drittel davon bereitzustellen.
Trotzdem geben viele europäische Länder das Geld widerwillig, die meisten, weil sie es vorziehen würden, das Geld für Spitäler und Schulen auszugeben anstatt für Armeen. Und selbst wenn sie an der Konferenz in Chicago einwilligen, das Geld für die Unterstützung der Sicherheit einzusetzen, sind sie in Sorge, dass ihre Parlamente dadurch abgeneigt sein werden, im Juli an der Konferenz in Tokio, an der es mehr um die zukünftigen Wiederaufbauprojekte in Afghanistan gehen wird, weiter Gelder zu zahlen. Und in Momenten grösserer Offenheit wünschen einige laut, dass das Geld für Länder verfügbar bleiben könnte, die mehr Erfolgschancen haben als Afghanistan.
«Was die Agenda von Karzai und den Vereinigten Staaten beherrscht, ist die Sicherheit – die Militärstrategie, die nächtlichen Raubzüge, Festnahmen und all das übrige», äusserte ein anderer europäischer Diplomat. «Deshalb wird nichts passieren, egal wie sehr wir die Afghanen drängen, die Fragen der Regierungsführung und Korruption anzugehen. Aber das sind Dinge, die uns wichtig sind und für die man sich in den Hauptstädten interessiert.»
Der Aussenministerrat der Europäischen Union veröffentlichte im Vorfeld des Treffens in Chicago am Montag ein Pressecommuniqué, das betont, dass die afghanische Regierung eine «aufrichtige Anstrengung» zur Regierungsführung und Verminderung der Korruption unternehmen müsse.
Die Amerikaner und Briten sagen beharrlich, sie wollten nicht dabei enden, die Entwicklungsausgaben zu vernachlässigen. Aber in Chicago legen sie ihre Priorität eindeutig darauf sicherzustellen, dass genug Geld für die Sicherheitskräfte vorhanden ist, um eine Wiederholung dessen zu vermeiden, was 1991 geschah: Damals strich die Sowjetunion ihre finanzielle Unterstützung für das Militär unter Najibullah, dem kommunistischen Herrscher, den die Sowjets nach ihrem Abzug 1989 zurückliessen. Als das Geld ausblieb, kollabierte seine Regierung innerhalb weniger Monate.
«Alle haben wirtschaftliche Probleme, aber dies ist eine ernste Sache», sagte ein höherer amerikanischer Beamter. «Sicherheitskräfte können nicht unzureichend finanziert werden, ohne dass das gravierende Gefahren für den Staat bedeutet.»
Doch obwohl die Amerikaner eine breite westliche Koalition wollten, taten sie sich selber keinen Gefallen, als sie im Januar im Vorfeld von Chicago eine Liste herumschickten, auf welcher der jeweilige Betrag stand, den man von jedem Land erwartete: Man verlangte von Kanada 125 Millionen Dollar, von Finnland 20 Millionen Dollar, von Frankreich 200 Millionen Dollar, von Schweden 40 Millionen – unter anderen. Nur bei Griechenland, dessen Regierung zahlungsunfähig ist, wurde eine Ausnahme gemacht.
Die Liste hinterliess bei den anderen Ländern ein Gefühl, als befänden sie sich in einem Teppichbasar, in dem der Ladenbesitzer den Betrag ansetzt, von dem er weiss, dass er ihn bekommen wird. Die Liste wurde gar «Erwartetes Plansoll» («Target Asks») genannt.
«Als Vorgehensweise war das etwas unverblümt, und wir dachten: ‹So. Warum hat man uns bei der Übung, Zahlen bereitzustellen, nicht einbezogen?›» äusserte ein europäischer Diplomat.
Ein anderer Diplomat schaute sich die Liste an und wunderte sich, warum von seinem Land eine höhere Zahlung verlangt wurde als von einem anderen Land vergleichbarer Grösse. «Man sagte uns: ‹Ihr spielt in einer höheren Liga› und wir sagten: ‹Ja, aber wir wollen nicht mehr als unseren Anteil zahlen.›»
Ergebnis bisher ist, dass die Länder etwa 60 Prozent des Betrages anbieten, den die Amerikaner von ihnen wünschten. Grossbritannien hat bereits angekündigt, es werde 110 Millionen Dollar aufwenden – wenig mehr als die Hälfte der 200 Millionen Dollar, die man von den Briten erwartete. Von Frankreich verlangte man 200 Millionen Dollar, aber nach der Wahl eines sozialistischen Kriegsgegners zum Präsidenten – François Hollande – nimmt niemand an, dass es soviel beisteuern wird, auch wenn verschiedene Diplomaten äusserten, sie glaubten nicht, dass Hollande mit leeren Händen zur Konferenz nach Chicago komme.
Ein höherer US-Beamter sagte, die Amerikaner nähmen die europäische Zurückhaltung wahr, aber in der Praxis sei das wichtigste, dass die Vereinigten Staaten bei der Unterstützung Afghanistans die Nase weiterhin vorne haben – zum Teil aus einem Gefühl der Verantwortung, dass die vergangenen elf Jahre Krieg nicht umsonst gewesen sein können, denn ohne weitere amerikanische Unterstützung würden sich viele Gewinne höchstwahrscheinlich in nichts auflösen.
«Was es wirklich braucht, sind wir», sagte der Beamte mit Bezug auf die Vereinigten Staaten. «Deshalb war das strategische Partnerschaftsabkommen vor Chicago so wichtig.»
Das am 1. Mai von Präsident Barack Obama und Präsident Karzai in Kabul unterzeichnete strategische Partnerschaftsabkommen zwischen Afghanistan und den USA verpflichtete die Vereinigten Staaten, Afghanistan während der nächsten zehn Jahre unter anderem bei der Entwicklung der Wirtschaft sowie Rechtstaatlichkeit und Sicherheit zu unterstützen.
Der Widerwille der Europäer, Geld für Sicherheit auszugeben, entspringt nicht einem Mangel an Interesse an Afghanistan. Viele europäische Länder hatten hier seit mehr als 25 Jahren Entwicklungsbemühungen und humanitäre Anstrengungen unternommen; angesichts dessen hätten die Amerikaner leichtes Spiel haben sollen, als sie Dollars zusammentrieben. Aber nach Jahren der Entwicklungsprogramme, die weit hinter den Erwartungen des Westens zurückblieben, stehen sie der Aussicht skeptisch gegenüber, noch mehr Geld in die Verteidigung eines afghanischen Staates zu pumpen, zumal das Vertrauen vieler Europäer in diesen Staat schwindet.
Sie sind abgeschreckt durch eine beunruhigende Bilanz von Korruption und Menschenrechtsverletzungen und schrecken vor der Perspektive zurück, dass die Situation nach dem Rückzug der Nato in einen Bürgerkrieg umschlagen könnte. Ihrer Meinung nach basieren die Vorhersagen der Amerikaner auf Bestfall-Szenarien.
«Das Hauptziel ist jetzt, einen landesweiten Konflikt zu verhindern, der sich zu einem regionalen Konflikt ausweitet», so ein europäischer Diplomat: «Wir haben geringe Erwartungen für 2014.»
Ein weiterer europäischer Diplomat, der Jahre im Land verbrachte, schilderte, wie Afghanistan aus dem Bewusstsein seines Landes schwand. «Unsere Medien erwähnen Afghanistan nicht einmal mehr», sagte der Diplomat: «Letztendlich sind wir Europäer; wir müssen uns um Nordafrika kümmern – es liegt näher; wir können erklären, warum es wichtig ist. Wir müssen uns um Weissrussland kümmern; es ist beinahe ein Nachbar. Aber Afghanistan ist sehr weit weg.» •
Quelle: International Herald Tribune vom 17.5.2012
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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