«Weg der reformerischen und massvollen Mitte»

«Weg der reformerischen und massvollen Mitte»

«Politische Gemeinschaftsgestaltung in der Wechselwirkung von Freiheit und Autorität, Selbstbehauptung und -hingabe der freien Persönlichkeit» – zu einem Buch über Gerhard von Scharnhorst

von Karl Müller

Vor 15 Jahren, 1997, veröffentlichte der emeritierte Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim, Klaus Hornung, eine Biographie über den preussischen Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst.
Schon in seiner Einleitung machte Hornung deutlich, dass es ihm nicht um eine blosse Rückschau geht, sondern auch (und vor allem) um die deutsche Gegenwart. Er beklagt den «Geschichtsverlust einer kleingeistigen Zeit» und zitiert den rheinischen liberalkonservativen Patrioten Joseph von Görres, der kurz vor der Revolution 1848 durchaus kritisch geschrieben hatte: «Das Volk, welches seine Vergangenheit von sich wirft, entblösst seinen feinsten Lebensnerv gegenüber allen Stürmen einer wetterwendischen Zukunft.»
«[…] der Mangel an historischer Kenntnis und Erkenntnis in unseren Tagen schwächt die politische Urteilskraft und die individuelle wie kollektive Fähigkeit zur Orientierung. […] Tatsächlich wirkt sich historischer Gedächtnisverlust in politischem Identitäts- und Realitätsverlust aus», schreibt Hornung unserer Gegenwart ins Stammbuch. Positiv gewendet: «Die Memoria gehört zu den grossen Quellen und Kräften nicht nur der geschichtlichen Selbstbehauptung, sondern auch der Humanität der Völker und Kulturen, wenn sie nicht ‹in die inhumane Kälte eines neuen Barbarentums› abgleiten wollen.» Und: «In allen Kulturnationen haben daher die Grossen des Geistes und der Tat ihren festen Platz. Ein Volk ehrt sich selbst und seine Würde, gewinnt Orientierung und Kraft aus der stets neuen Vergegenwärtigung ihres Wesens und ihrer Leistung.»
Es ist hier nicht der Ort, den Lebensweg Gerhard von Scharnhorsts im Detail nachzuzeichnen – von einem in relativ einfachen Verhältnissen aufgewachsenen, glücklicherweise von positiven Vorbildern geprägten Soldaten und Offizier, zuerst im ausgehenden 18. Jahrhundert in Hannoverschen Diensten, der es bis zu einem (zu früh verstorbenen) General und Reformer der preussischen Armee brachte. Nicht der Ort, im Detail die Zeitumstände zu schildern, in denen Scharnhorst lebte – eine Zeit gewaltiger Umbrüche, des Ausgreifens eines imperiale Machtansprüche erhebenden Frankreichs, die Zeit eines durch eine totale Niederlage im Schock erstarrten und in vielerlei Hinsicht verkrusteten preussischen Staates. Das alles ist Klaus Hornung auf eine hervorragende Art und Weise gelungen – nicht nur inhaltlich, sondern auch sehr leserfreundlich. Und wer die Biographie über Scharnhorst liest, der kommt nicht umhin, in dieser Persönlichkeit einen «Grossen des Geistes und der Tat» in der deutschen Geschichte zu sehen.
Hier soll es mehr um das Grundsätzliche gehen, um das für die deutsche Gegenwart und Zukunft möglicherweise Hilfreiche. Klaus Hornung hat dem in seiner Biographie ausreichend Raum gegeben.
Patriotismus, so schreibt der Duden, ist die «Liebe zum Vaterland», eine «gefühlsmässige Bindung an Werte, Traditionen und kulturhistorische Leistungen des eigenen Volkes bzw. der eigenen Nation». Die Deutschen tun sich noch immer schwer mit ihrem Patriotismus. Bislang scheint es so, als dürfe der deutsche Patriotismus immer nur ein reduzierter sein. Manchen aus der älteren Generation versperrt der «braune Koloss der Nazizeit» (Hornung) noch immer den Weg. Das ist verstehbar und kein Grund zum Vorwurf. Und vielleicht immer noch besser als eine andere Seite der Medaille. Denn was ist los mit denjenigen Deutschen, mit dem Teil der sogenannten heutigen deutschen Eliten, der doch wieder auffällig selbst- und machtbewusst auftritt?
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man den Eindruck gewinnen, dass der Anspruch einer vom Ziel der Humanität getragenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und auch mit jeder anderen Spielart des Totalitarismus geschwunden ist. Ödön von Horvath sprach in seinem 1937 erschienenen Roman «Jugend ohne Gott» von einem kalten, nihilistischen «Zeitalter der Fische» und charakterisierte damit den Grundzug einer das soziale Wesen des Menschen verleugnenden Geisteshaltung und emotionalen Verarmung vor der grossen Katastrophe.
Wenn Suche nach der eigenen Identität auch heisst, sich im Du des Mitmenschen zu spiegeln, sich selbst zu erkennen und sich in Beziehung zum Du zu entwickeln und zu entfalten, immer mit dem Blick auf die gemeinsame Gegenwart und Geschichte; wenn es darum geht, die Gesetze des sozialen Lebens zu erkennen und anzuerkennen, dann erkennt man auch, dass der heutige Relativismus, der Konstruktivismus und der Nihilismus ein tödliches Gift sind, das zur Agonie oder in die Hybris führt.
Gerhard von Scharnhorst hat uns etwas anderes vorgelebt. Eine gründliche Beschäftigung mit ihm und mit seiner Biographie kann deshalb ein Gegengift sein.
Klaus Hornung geht auf «gängige» Meinungen über Scharnhorst und die preussischen Reformen ein und schreibt hierzu: «In solchen Urteilen offenbart sich freilich ein unserer Gegenwart eigentümliches Verhältnis zur Geschichte, das sie nicht so zur Kenntnis nehmen will, ‹wie sie wirklich gewesen ist›, sondern sie gern als Instrument von ‹Geschichtspolitik› im Dienste jeweils aktueller Herrschafts- und Ideologieverhältnisse gebrauchen möchte, gewissermassen als ‹abrufbares Sortiment von Stützmaterialien› für die Meinungen und Ziele der Gegenwart.»
Für solche Zwecke scheint ein unvoreingenommener Blick auf die Zeit und die Person Gerhard von Scharnhorsts zu stören, könnte doch eine ehrliche Auseinandersetzung auch zu den Quellen eines gesunden deutschen politischen Patriotismus und Nationalbewusstseins führen.

Erneuerung zur Verteidigung des Bewahrenswerten

Klaus Hornung erkennt in den Bemühungen der preussischen Reformer in den Jahren um 1800 den Versuch der Befreiung von einer Herrschaft mit imperialem Anspruch. Nicht abrupt und revolutionär, sondern umsichtig und Schritt für Schritt, nicht aggressiv – Scharnhorst kritisierte zum Beispiel jede Art von Angriffskrieg –, sondern im Sinne einer Erneuerung zur Verteidigung des Bewahrenswerten.
Damals war es der französische Kaiser Napoleon, der sich die Erde im Namen des «Fortschritts» untertan machen wollte. Den Reformern um Scharnhorst ging es, so Hornung, darum, «Staat und Gesellschaft grundlegend zu erneuern» und dabei das zu beachten, was Clausewitz 1805 wie folgt formulierte: «Für das Glück der Völker darf jetzt kein zweites Rom entstehen; welches auch die neue Schöpfung ist, die sich aus der politischen Krise erzeugt, es dürfen nicht ganze Nationen an den Triumphwagen einer einzigen gefesselt liegen.» Hornung kommentiert, dies sei «das Leitbild der Reformer und Patrioten» gewesen: «Ihr Weltbild wurde von der Vorstellung eines Kosmos gleichberechtigter Völker und Staaten in Europa bestimmt, in deren Rahmen sich ‹Patriotismus› und staatsbürgerliche Gesinnung entfalten konnten, während Napoleons Kaisertum sich mehr und mehr als Erneuerung des alten französischen Hegemonialanspruchs mit den neuen Mitteln einer revolutionär-universalistischen Emanzipations- und Herrschaftsidee erwies.»
Scharnhorst, so Hornung, habe sich «gegen die Verlockungen der Revolution und für die Reform des geschichtlich gewachsenen Staates entschieden». Sein Programm war das der «Bewahrung durch verbessernde Veränderung». Einer «einseitig individualistischen Auffassung, die in Staat und Politik Regelmechanismen allein für die individuellen Interessen erblickte», erteilte er eine Absage. Seine Ideale waren die der «politischen Gemeinschaftsgestaltung in der Wechselwirkung von Freiheit und Autorität, Selbstbehauptung und -hingabe der freien Persönlichkeit.» Scharnhorsts Weg, so Hornung, war der «Weg der reformerischen und mass­vollen Mitte».
Scharnhorst gilt als politischer Reformer des preussischen Heeres, und in einer Gegenwart, in der das moderne Söldnertum auch Deutschland zu erfassen droht und von die deutsche Bundeswehr führenden Offizieren «archaische Kämpfer» und nicht mehr «Staatsbürger in Uniform» nachgefragt werden, ist auch diesbezüglich an dessen konkrete Leistung zu erinnern.
Scharnhorst forderte von den Soldaten, «politisch denkende und urteilsfähige Bürger» zu sein, die eine «Mitverantwortung für das Gemeinwesen» haben. Er setzte sich ein für das «Leitbild des gebildeten Offiziers», der sich durch «charakterliche Integrität, Selbstachtung und Kameradschaft, Pflichterfüllung und Korpsgeist sowie Patriotismus und Rückhalt in geschichtlichen Vorbildern und ihren geistigen Kräften» auszeichnet. Scharnhorst forderte «die Fähigkeit zur realitätsnahen, tabufreien Analyse der äusseren und inneren Lage des Gemeinwesens». Führungsverantwortung hiess für ihn, seine ganze Kraft der Aufgabe zu widmen, «Existenz, Freiheit und Dauer des Gemeinwesens zu sichern».
Scharnhorst habe für ein neues Bild von Staat und Politik gestanden, für einen nach aussen starken und «im Inneren freiheitlichen und sittlichen Staat. Er sollte sich auf die historisch gewachsene kulturelle und geistige Wirklichkeit eines Volkes gründen, ein Gemeinwesen, mit dem die autonome freie Persönlichkeit sich identifizieren kann und das seinerseits die sittliche Autonomie des einzelnen respektiert, schützt und aus dem wechselseitigen Austausch von Freiheit und Autorität seine besten inneren Kräfte gewinnt».
Es hat eine Zeit in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, da hat man sich noch offen zu den Idealen Scharnhorsts bekannt. 1965 hatte das bundesdeutsche Verteidigungsministerium einen «Traditionserlass» formuliert, in dem auch der Reformer Scharnhorst gewürdigt wurde. Der Erlass erinnerte an die Tugenden und Grundhaltungen, die Scharnhorst von Soldaten gefordert hatte: «Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, Achtung vor der Würde des Menschen, Grossherzigkeit und Ritterlichkeit, Kameradschaft und Fürsorge, Tapferkeit und Hingabe, Gelassenheit und Würde in Unglück und Erfolg, Zurückhaltung in Auftreten und Lebensstil, Zucht des Geistes, der Sprache und des Leibes, Toleranz, Gewissenstreue und Gottesfurcht.»
Tugenden und Grundhaltungen also, über die nicht nur heutige Soldaten, sondern alle Bürgerinnen und Bürger, gleich welcher gesellschaftlichen Stellung, nachdenken können. Die wertvolle Biographie von Klaus Hornung über Gerhard Scharnhorst kann dabei eine Hilfe sein.    •

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