Die Wirtschaftsverfassung der Schweiz als Dritter Weg? (Teil 1)

Die Wirtschaftsverfassung der Schweiz als Dritter Weg? (Teil 1)

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

zf. Die heutige Finanzkrise hat dazu geführt, dass nicht nur das Geld-, sondern auch das Wirtschaftssystem auf dem Prüfstand stehen.
In diversen Ländern werden Vorstösse eingereicht, welche die Wirtschaft auf eine neue Grundlage stellen wollen. In der Schweiz haben Willy Cretegny und eine Gruppe Weinbauern vor kurzem die Volksinitiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller» lanciert (vgl. Zeit-Fragen vom 18. Juni 2012). Sie fordert die Bürger auf, die Frage der schweizerischen Wirtschaftsordnung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Globalisierung zu durchdenken und zu diskutieren. Der folgende Artikel soll die Traditionslinien, auf welche sich die Initiative stützt, nachzeichnen. Der zweite Teil des Artikels folgt in einer der nächsten Nummern von Zeit-Fragen.

Manche Beobachter fragen sich, warum sich das liberale «Modell Schweiz» in der Krise als relativ erfolgreich erwiesen hat. Vor einigen Wochen ist an der Universität Basel eine juristische Dissertation mit dem Titel «Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit» (St. Gallen/Zürich 2011) von Johannes Reich erschienen – heute Assistenzprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich. Er untersucht den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit nicht nur rechtlich, sondern er zeigt auf, wie dieser Grundsatz als Ordnungsrahmen nach der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 entstanden ist und wie er sich bis heute weiterentwickelt hat. Reich bezieht in seiner Untersuchung zahlreiche politische, ökonomische und soziale Faktoren in ihrer geschichtlichen Entwicklung mit ein. Das macht dieses 500seitige Werk so wertvoll. Im folgenden sollen die Grundgedanken daraus – in Verbindung mit andern Autoren – nachgezeichnet werden – auch für Leser, die mit juristischen Fachbegriffen nicht vertraut sind.

Zunftordnung und zunftähnliche Genossenschaften

21 selbständige Kantone schlossen sich 1848 zu einem Bundesstaat zusammen. Damit wurden wirtschaftlich stark unterschiedliche Gebiete zu einer politischen Einheit zusammengefügt. In wirtschaftlicher Hinsicht ging es vorerst nur darum, den Güterverkehr und den Austausch von Dienstleistungen über die Kantonsgrenzen zu vereinfachen. Einen Ordnungsrahmen festzulegen, der für die Wirtschaft des ganzen Landes gelten würde, war gar nicht möglich.
Die Wirtschaft der Schweiz vor 1848 war in vielen städtischen Regionen geprägt durch das Zunftwesen. Zünfte sind genossenschaftlich organisierte Vereinigungen von Handwerkern und Kaufleuten, die erstmals in Basel 1226 erwähnt wurden. Das Bedürfnis nach einem angemessenen Einkommen war wegleitend – und nicht maximaler Verdienst. Diesem Ziel dienten die regulierten Löhne, Preise und Produktionsmengen. Markenzeichen waren auch die hohen Qualitätsstandards und die sorgfältige Lehrlingsausbildung. Zünfte waren aber nicht nur wirtschaftliche Verbünde, sondern auch Solidargemeinschaften in einem begrenzten Raum. Ihre Statuten waren nicht auf die Gewinnmaximierung ausgerichtet, sondern sie sollten den Lebensunterhalt sichern in gegenseitiger Selbsthilfe, die auch Unterstützung für Familienangehörige miteinbezog. Typische Zunftstädte waren Zürich, Schaffhausen, Basel und St. Gallen. Der sogenannte Zunftzwang war Bestandteil des Zunftwesens und wurde von den städtischen Behörden durchgesetzt. Nur Zunftmitglieder durften ein Gewerbe oder ein Handwerk ausüben.
In den Bergkantonen hatten sich die Säumer seit vielen Generationen zu zunftähnlichen Genossenschaften zusammengeschlossen, die Personen und Güter über die Alpen transportierten. Diese Genossenschaften hatten ihre Wurzeln im 13. Jahrhundert, als die Eidgenossen sich ihre Rechte und ihre Freiheit von den Habsburgern erkämpft hatten.

Faktoren für eine förderliche Wirtschaftsentwicklung in der Schweiz

Manufakturen, industrielle Heimarbeit und Handel lassen sich schon im Mittelalter beobachten – vor allem in der Herstellung von Uhren und Textilien. Die Rohstoffe (damals Baumwolle, Seide, Metalle) wurden importiert und hochwertige Fertigprodukte zu einem grossen Teil wieder exportiert. (Auch heute werden fast die Hälfte der Produkte und Dienstleistungen wieder exportiert.) Zölle waren im Mittelalter meist reine Finanzquellen, die von allen Reisenden auf Einfuhr oder Ausfuhr erhoben wurden. Der Kaufmann zahlte bei der Durchfahrt Zoll. Dabei spielte es keine Rolle, ob sich die Zollstellen an den Landesgrenzen oder im Landes­innern befanden. Das änderte sich mit dem Entstehen der Nationalstaaten. Der französische Wirtschaftsminister Colbert entwickelte im 17. Jahrhundert das System des Merkantilismus. Mit einem ausgeklügelten System der Wirtschaftslenkung wollte er den Volkswohlstand heben bzw. die Machtentfaltung des Adels finanzieren. Die einheimischen Manufakturen wurden staatlich gestützt und an den Grenzen mit protektionistischen Zöllen vor ausländischer Konkurrenz geschützt. Die Voraussetzungen waren jedoch nicht überall gleich. Vor allem zentralistische Grossstaaten wie Frankreich und England waren in der Lage, ihre Wirtschaft auf diese Weise zu lenken. So schrieb Professor Bosshard im Buch «Die Schweiz als Kleinstaat in der Weltwirtschaft» (das eine Gruppe von Professoren der Hochschule St. Gallen im Jahr 1941 geschrieben hat): «Weit weniger wurden die europäischen Kleinstaaten vom Merkantilismus ergriffen, am wenigsten wohl die Schweiz. Alle Historiker sind sich darüber einig, dass die Schweiz vom merkantilistischen Geist kaum berührt wurde. Die lose föderative Struktur des eidgenössischen Staatswesens, das Fehlen einer politischen Zentralgewalt und schliess­lich die zu Beginn des 16. Jahrhunderts eingetretene Glaubensspaltung haben während drei Jahrhunderten jede straffe Koordination der politischen und wirtschaftlichen Kräfte in unserem Lande verhindert. […] Das einzige, was der schweizerische Staatenbund dem Unternehmer gewähren konnte, war die wirtschaftliche Freiheit. […] Der beständige Konkurrenzkampf zwang die Fabrikanten fortwährend zur höchsten Ausbildung ihrer kaufmännischen und technischen Qualitäten, zwang sie, immer neue Märkte zu suchen und immer neue Artikel zu kreieren.»
Es gab weitere Faktoren, die die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz damals prägten:
–  Die Neutralitätspolitik erwies sich als wirtschaftlicher Vorteil, weil das Land von Kriegen verschont blieb und sich die Kosten einer imperialen Politik sparen konnte. Das wirkte sich direkt auch auf die Steuern aus. 1845 – unmittelbar vor der Gründung des Bundesstaates – war die Steuerbelastung in Zürich 14mal geringer als in London und 6mal geringer als in Paris.
–  Seit dem 16. Jahrhundert flohen viele protestantische Flüchtlinge aus den Religionskriegen vor allem in Frankreich und in Italien in die Schweiz. So schrieb Professor Bosshard: «Ein gewaltiges Potential von kaufmännischer und gewerblicher Erfahrung, technischer Intelligenz wie auch moralischer Kraft wurde so von aussen in die Schweiz hineingestossen.»
Professor Rappard, ein anderer Autor aus dem Professorenteam der Hochschule St. Gallen, bezeichnet die Schweiz in der Zeit von 1500 bis 1800 als das industriereichste Gebiet Europas, das gegen die merkantilistische Politik der Grossmächte ankämpfte. So gelang es zum Beispiel, mit Frankreich langjährige Freihandelsverträge abzuschliessen, in denen die Schweiz als Gegenleistung für offene Grenzen den «Export» von Söldnern angeboten hatte. Waren die Zollschranken in Europa allzu hoch, wurde das Überseegeschäft für die schweizerische Industrie zum Rettungsanker. «Die farbenprächtigen Zeugdrucke und Mouchoirs der Toggenburger Handweberei und die berühmten Sarongs und Batiks der Glarner Baumwolldruckerei fanden ihren Weg über die Türkei nach Persien und Hinterindien, nach den malaischen Inseln, nach den Philippinen und Japan wie auch in das Innere Afrikas.»

Ringen um eine Wirtschaftsverfassung

Zurück zur Dissertation von Johannes Reich: In der Bundesverfassung von 1848 war ein wirtschaftlicher Ordnungsrahmen, der das ganze Gebiet der Schweiz umfasste, nur in Ansätzen vorhanden. Der Güteraustausch zwischen den 21 Kantonen sollte erleichtert und allfällige Hindernisse abgebaut werden. Der erste gesamtschweizerische Zolltarif auf Grund der Bundesverfassung von 1848 war ein reiner Fiskalzoll. Er gab dem Bundesstaat, der damals keine Steuern erhob, die Finanzmittel, um funktionieren zu können. Nur vereinzelt meldeten sich Stimmen aus den Kantonen, die nach ausländischem Vorbild Schutzzölle für die inländische Wirtschaft verlangten. In den Jahren danach ging es darum, kantonsübergreifend in den unterschiedlichen Landesteilen eine Art «Binnenmarkt» zu errichten (um einen heute geläufigen Begriff zu verwenden).
Dass die geschlossene Zunftordnung der grossen Städte in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum keinen Platz mehr haben würde, war schnell klar. Vieles aus dem Zunftwesen konnte jedoch weiter geführt werden – wie zum Beispiel die sorgfältige Berufsbildung –, nicht jedoch der Zunftzwang. Dem Bürgertum fiel es auch nicht allzu schwer, neue Wege zu gehen. Musste es doch feststellen, dass sich die Industrialisierung in den ländlichen Gebieten ohne Zunftordnung besser entwickelte. So finden wir heute viele Industriedenkmäler aus jener Zeit – vor allem Textilfabriken – in ländlichen Gebieten. Ein Proletariat, wie es zum Beispiel in England um Grossstädte wie Manchester herum entstanden war, gab es kaum. Die Fabrikarbeiter auf dem Land hatten oft neben ihrer Arbeit in der Fabrik noch einen kleinen Bauernbetrieb und nahmen lange Wege in Kauf, um zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen.
Für die Bergkantone war es auch nicht so einfach, sich in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum einzufügen. Zunftähnliche Genossenschaften organisierten den Personen- und Güterverkehr über die Alpenpässe. Diese Transportgesellschaften hatten – wie bereits erwähnt – ihre Wurzeln im 13. Jahrhundert, als die Eidgenossen begannen, für ihre Rechte und ihre Freiheit in den Krieg zu ziehen. So kam es nach 1848 zu zahlreichen Klagen und Einsprachen gegen die ­Politik des neu gegründeten Bundesstaates, die darauf gerichtet war, einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt einzurichten. Bundesrat und Parlament nahmen die Einsprachen sehr ernst und nahmen sich viel Zeit, die Konflikte einvernehmlich zu lösen.
Ein Beispiel: Ein Reglement des Kantons Uri regelte den Transport von Gütern und Reisenden über die Alpenpässe. Es legte den Fuhr- und Traglohn fest und bestimmte, dass ein Haushalt nicht mehr als sechs Pferde halten dürfe. Die Transportgesellschaft stand jedem Einwohner des Bezirks Urseren mit Schweizer Bürgerrecht offen. Die Säumer von Urseren hatten somit ein Monopol für die Gotthardroute.
Eine Kommission des Ständerates muss­te nun dieses Reglement prüfen. Gemeinsame Tarife seien durchaus zulässig, fanden die Parlamentarier, nicht jedoch die Bestimmung, dass ausschliesslich die Einwohner des Bezirks Urseren Genossenschafter sein durften. Die Kommission betonte, dass die zunftähnlichen Genossenschaften über Jahrhunderte auf verdienstvolle Weise die Strassen über die Alpen unterhalten hätten. Von nun an sei aber der Kanton zuständig und das Monopol nicht mehr gerechtfertigt. In diesem Sinne änderten die Bergkantone eine Vielzahl von Reglementen oder hoben sie auf. In solchen Debatten entwickelte sich nach und nach das «Princip der Wirtschaftsfreiheit», das 1874 als «Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit» in der Bundesverfassung Aufnahme fand. Gemeinsame Tarife und auch genossenschaftliche Statuten seien zulässig, sie dürften aber nicht das Gewerbe vor Konkurrenz schützen, wie dies zuvor die Zünfte in den Städten und zunftähnliche Genossenschaften in den Bergkantonen getan hatten.
So gilt auch im heutigen Genossenschaftsrecht das Prinzip der «offenen Tür». In einer Genossenschaft müssen jederzeit neue Mitglieder aufgenommen werden können. Wohl dürfen die Statuten den Beitritt an gewisse Voraussetzungen knüpfen. Sie dürfen den Eintritt nicht übermässig erschweren (OR 839).
Die exportorientierte Industrie und ihre Vertreter plädierten dafür, den Freihandel so beizubehalten, wie sie ihn schon seit Jahrhunderten kannten.

Hohes Niveau der direkten Demokratie bereits im 19. Jahrhundert

Die politischen Bemühungen in den Jahren nach 1848 waren vom Ziel geleitet, der Wirtschaft im neu gegründeten Bundesstaat einen gemeinsamen Ordnungsrahmen zu geben. 1866 wurde zum ersten Mal gesamtschweizerisch über strittige Punkte abgestimmt. Die Stimmbürger stimmten über neun Vorlagen ab, von denen die meisten direkt oder indirekt Wirtschaftsfragen betrafen – wie die Regelung des geistigen Eigentums, Rechte der Niedergelassenen, Besteuerung, Masse und Gewichte und ähnliches mehr. Die Stimmbürger lehnten 8 Vorlagen ab, was das Parlament veranlasste, nochmals über die Bücher zu gehen. 1872 stimmten die Stimmbürger ein erstes Mal über die neue total revidierte Bundesverfassung mit vielen Neuerungen ab und lehnten ab (weil sie sie als zu zentralistisch empfanden). Wiederum nahm das Parlament Korrekturen vor. 1874 stimmte das Volk der neuen Bundesverfassung mit über 60 Prozent Ja-Stimmen zu. Sie enthielt immer noch viele Neuerungen – so zum Beispiel das Recht der Volksinitiative und des Referendums. Die Stimmbürger konnten mit 30 000 Unterschriften bewirken (Art. 89), dass über ein vom Parlament beschlossenes Bundesgesetz abgestimmt werden musste (fakultatives Referendum). Oder sie konnten mit 50 000 Unterschriften eine Verfassungsrevision bewirken, über die ebenfalls abgestimmt werden musste (Volksinitiative, Art. 120). Diese weitreichenden Neuerungen waren nur möglich, weil die Bevölkerung in den Gemeinden und Kantonen die direkte Demokratie schon lange Zeit «geübt» bzw. gelernt hatte. – Man stelle sich vor, die Schweizer Bevölkerung (und nicht nur eine gelehrte Elite!) galt bereits im 19. Jahrhundert als fähig, in komplexen Wirtschaftsfragen zu entscheiden und über Totalrevisionen der Verfassung zu befinden!

Wirtschaftsverfassung von 1874

Die neue Bundesverfassung von 1874 gab der Wirtschaft einen gemeinsamen Ordnungsrahmen, der als «Wirtschaftsverfassung» bezeichnet werden kann, um einen modernen Begriff zu benutzen. Dieser Rahmen soll hier im Wortlaut wiedergegeben werden:
Art. 31. Die Freiheit des Handels und der Gewerbe ist im ganzen Umfang der Eidgenossenschaft gewährleistet.
Vorbehalten sind:
a. Das Salz- und Pulverregal, die eidgenössischen Zölle, die Eingangsgebühren von Wein und geistigen Getränken sowie andere vom Bund ausdrücklich anerkannten Verbrauchssteuern, nach Massgabe des Art. 32.
b. Sanitätspolizeiliche Massregeln gegen Epidemien und Viehseuchen.
c. Verfügungen über die Ausübung von Handel und Gewerbe, über Besteuerung des Gewerbebetriebs und über die Benutzung der Strassen.
Diese Verfügungen dürfen den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit selbst nicht beeinträchtigen.

Erläuterungen

Diese wenigen Zeilen enthalten den Kern der schweizerischen Wirtschaftsverfassung – bis heute. Sie ist in der heutigen Bundesverfassung moderner und ausführlicher ausformuliert. Ihr Gehalt ist aber im wesentlichen gleich geblieben. Diese Zeilen enthalten so viel, dass sie erläutert werden müssen:
Johannes Reich erklärt das so: Die Handels- und Gewerbefreiheit – heute Wirtschaftsfreiheit – ist in der Schweiz ein verfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht des einzelnen Bürgers – wie zum Beispiel die Versammlungsfreiheit oder die Niederlassungsfreiheit. Jedes Freiheitsrecht findet seine Grenzen in den Belangen der Gemeinschaft. Die öffentliche Sicherheit oder Gesundheit oder auch sozialpolitische Anliegen setzen Schranken. So bestimmte zum Beispiel Art. 34 der Verfassung von 1874 ausdrücklich: «Der Bund ist befugt, einheitliche Bestimmungen über die Verwendung von Kindern in den Fabriken und über die Dauer der Arbeit […] aufzustellen. Ebenso ist er berechtigt, Vorschriften zum Schutze der Arbeit gegen einen die Gesundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb zu erlassen.» Dies geschah wenige Jahre später im – für damalige Zeiten – fortschrittlichen eidgenössischen Fabrikgesetz und später im Arbeitsgesetz.
Ein weiteres Beispiel: Die Verfassung von 1874 verbot den Betrieb von Spielbanken, um die Familien vor dem Ruin zu schützen. Dieses Verbot wurde 1928 und 1958 in zwei weiteren Abstimmungen gelockert. So wurde der Spieleinsatz auf 10 Franken beschränkt. Die Stimmbürger hoben dieses Verbot in einer weiteren Abstimmung vor wenigen Jahren als nicht mehr zeitgemäss auf. Dazu ist anzumerken: Vielleicht wäre es besser gewesen, das Spielbankenverbot auf Banken auszudehnen, die mit ihrem Geld auf fahrlässige Art spielen.

Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit

Artikel 31 der damaligen Bundesverfassung bestimmt, dass das Recht des Bürgers auf die Handels- und Gewerbefreiheit (heute Wirtschaftsfreiheit) eingeschränkt werden darf. Diese Einschränkungen dürfen jedoch den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit nicht beeinträchtigen. Wie ist das gemeint?
Auch dazu ein Beispiel aus der Arbeit von Johannes Reich: Im Kampf gegen den Alkoholismus haben die Kantone schon damals den Handel mit alkoholischen Getränken eingeschränkt – wie sie dies auch heute noch tun. Zahlreiche Gemeinden gingen damals noch einen Schritt weiter und beschränkten die Zahl der Gastwirtschaften auf ihrem Gemeindegebiet. Der Dichter Jeremias Gotthelf (1797–1854) hat die Gefahren, die damals von den Gastwirtschaften ausgingen, in seinen Romanen eindrücklich beschrieben. Eine Gemeinde würde jedoch gegen den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit verstossen, falls sie beabsichtigt, die ansässigen Gastwirte vor weiterer Konkurrenz zu schützen. Nur – lässt sich das eindeutig feststellen? Eine Kommission des Ständerats beurteilte solche und ähnliche Fragen damals als «äusserst difficil und oft geradezu tüftelig». 1874 versandte der Bundesrat deshalb ein Kreisschreiben an alle Kantonsregierungen mit folgendem Inhalt: Die Festlegung von Höchstzahlen von Gastwirtschaften verstosse gegen den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit, und die Kantone sollten den Alkoholismus vor allem mit Steuern bekämpfen. Damit war jedoch das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft und auch kirchliche Organisationen waren mit dem Bundesrat nicht einverstanden und sammelten 50 000 Unterschriften für eine Volksinitiative, die das Ziel hatte, den Gemeinden in der Verfassung das Recht zu geben, die Zahl der Gastwirtschaften auf ihrem Gemeindegebiet zu beschränken. – 1885 kam es zur Abstimmung, und die Initianten bekamen Recht.
Die Stimmbürger haben das letzte Wort, auch wenn es darum geht, den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft – in unserem Beispiel für die Gastwirtschaften – festzulegen. Das obige Beispiel zeigt, dass der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit nicht absolut gilt. Abweichungen sind erlaubt, falls sie in der Verfassung vorgesehen sind.     •

«Dieses Mal ist alles anders»

hk. Bei jeder Wirtschaftkrise wurde dem Volk vorgegaukelt, dass es gar keinen Grund zur Beunruhigung gebe und man nur die Finanzexperten machen lassen solle. In diesem Zusammenhang haben die beiden Autoren ihre Überlegungen zu Wirtschafts- und Finanzkrisen in verschiedenen Jahrhunderten unter den Titel gestellt: «Dieses Mal ist alles anders.» Die Parole ist auch jetzt zu hören und wird erst noch ergänzt durch das Schlagwort: «There is no alternative.» Das Volk – der Souverän in der Demokratie – darf alles, nur nicht nachdenken.
Die Verfasser Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff sammelten alle ihnen zugänglichen Daten in 66 Ländern und über 800 Jahre, die zu Regierungs- und Bankenkrisen und in der Folge zu anhaltendem und deutlichem Rückgang der Wirtschaftsleistung eines Landes geführt haben.
Auf der Grundlage der profunden wissenschaftlichen Auswertung des Datenmaterials überzeugen sie den Leser von der Möglichkeit, Krisen vorherzusehen und auch rechtzeitig zu verhindern. Sie unterbauen ihre These mit Beispielen bis hinein in die Gegenwart. Regierungen und Banken jedoch, so bemerken sie, wiederholen vor einer neuen Krise stets: Dieses Mal sei alles anders. Besonders ausführlich wird dies am Beispiel der gegenwärtigen (und zweiten) Weltwirtschaftskrise gezeigt.
Um Krisen künftig zu vermeiden, schlagen sie vor, eine internationale zentrale Behörde zu schaffen, die relevante Daten über das Kreditverhalten aller Banken und Regierungen dieser Welt einfordert und auswertet. Diese Behörde soll diesen zudem die Massnahmen vorschreiben, die eine vorhersehbare Krise schon im Keim ersticken würden. Diese Behörde, so meinen wir, untergräbt die Souveränität der Staaten der Welt, so wie der ESM die der Staaten Europas untergräbt. Auch werden die Banken erfahrungsgemäss ihre Geheimdaten nicht freigeben.
Der Hauptberater der Verfasser ist Vincent Reinhart (ein Verwandter von Carmen M. Reinhart?). Er war etwa 25 Jahre bei der FED tätig. Die Verfasser argumentieren aus einer systemimmanenten Sicht, sie beschreiben die Symptome sehr gewissenhaft und sorgfältig und schlagen eine Lösung zur Symptombehandlung vor. Sie erwähnen dabei jedoch mit keinem Wort die eigentliche Ursache der Krankheit in unserem Wirtschaftssystem: Unser heutiges Geld nämlich trägt Zinsen, die von der FED in deren eigenem Interesse vorgegeben werden (sie wurde 1913 von den reichsten Familien der USA gegründet und beeinflusst heute die Zentralbanken weltweit).
Zinsen und Zinseszinsen vermehren weltweit das Vermögen der Reichsten mit ex­ponentieller Geschwindigkeit auf Kosten der wertschöpfenden Bürger. Die Schulden der Bürger und deren Regierungen dagegen vermehren sich gemeinsam mathematisch exakt spiegelbildlich. Ohne auf die Ursache der Krankheit einzugehen, werden ausführlich und aufwendig deren Symptome beschrieben und bewertet. Das allein kann, so meinen wir, zu keiner grundsätzlichen Behebung des Problems führen.
Weiterhin meinen wir, dass ein Zentral­institut, das Regierungen und Banken weltweit zügeln kann, ein gefährliches Instrument ist, weil mit diesem die Hochfinanz gestärkt und die Mitgestaltung der Bürger eingeschränkt wird.

«RBC Daily»: Internationale Offshore-Konten in Billionenhöhe

Der Umfang der Geldmittel, die Tycoons der ganzen Welt auf nicht deklarierten Offshore-Konten horten, kann sich auf 32 Billionen Dollar belaufen, stellt James Henry, der ehemalige leitende Wirtschaftsexperte von McKinsey&Co, fest. Aus Russland sind laut dieser Studie seit dem Beginn der Privatisierungen im Jahr 1990 rund 800 Milliarden Dollar geflossen, zitiert die Wirtschaftszeitung «RBC Daily» am Montag die Studie von Henry. Noch mehr Geld sei nur aus China geströmt – 1,2 Billionen Dollar. Das allerdings im Laufe von 40 Jahren.
«Wie eine Analyse auf der Grundlage von Daten des IWF, der Internationalen Verrechnungsbank und der nationalen Zentralbanken gezeigt hat, liegt der Umfang der Schattenreichtümer auf nicht deklarierten Konten bei mindestens 21 Billionen und maximal 32 Billionen Dollar», schreibt die Zeitung. «Dabei bezeichnet Henry seine Schätzung als konservativ, weil sie nur die Finanzaktiva berücksichtigt – ohne Immobilien, Yachten und Kunstwerke.»
«129 Staaten mit mittlerem und unterdurchschnittlichem Einkommensstand, auf die 85 Prozent der Weltbevölkerung, 51 Prozent des globalen BIP, 75 Prozent der Gold- und Devisenreserven und 4,1 Billionen Dollar Aussenschulden entfallen, wurden in der Studie unter die Lupe genommen […] So wurden laut James Henry 798 Milliarden Dollar aus Russland transferiert. ‹Wir waren bemüht, möglichst weit zurückzuschauen, die Angaben der internationalen Institutionen boten uns aber nur den Zeitraum ab 1990 an›, sagte James Henry in einem Gespräch mit der Zeitung. Global gesehen ist China mit 1,189 Billionen Spitzenreiter, diese Mittel wurden aber im Laufe von 40 Jahren aus dem Lande geschafft. Dritter ist Südkorea mit 779 Milliarden Dollar, gefolgt von Brasilien mit 520 Milliarden, Kuwait mit 496 Milliarden, Mexiko (417), Venezuela (406) und Argentinien (399).»
«Ein wesentlicher Teil der Summen aus Russland ist bei der Privatisierung der Staatsaktiva in den 90er Jahren gewonnen worden, stellt Henry fest. Teilweise kommen die Mittel von den Offshore-Konten als Investitionen nach Russland zurück, offiziell werden sie aber als ‹ausländische Investitionen› eingetragen.»
«Das globale Schattenkapital gehört weniger als zehn Millionen Menschen», fügt Henry hinzu. Eine aktive Rolle bei der Steuerhinterziehung spielen Privatbanken (im Bericht werden sie als «pirate banks» bezeichnet).

Quelle: <link http: de.rian.ru business>de.rian.ru/business/20120723/264040483.html

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