Afghanistan: unsinkbarer US-Flugzeugträger

Afghanistan: unsinkbarer US-Flugzeugträger

von Matin Baraki*

Die Anschläge des 11. September 2001 wurden zum Anlass des Krieges gegen Afghanistan, obwohl dieser lange vorher geplant war. Wie die «Washington Post» am 19. Dezember 2000 berichtete, hatte die Clinton-Administration schon neun Monate vorher einen Krieg am Hindukusch in Erwägung gezogen. Hierüber gab es Konsultationen mit den Regierungen Russlands und Usbekistans. Da die usbekische Regierung sich weigerte, ihr Territorium für eine US-Aggression gegen Afghanistan zur Verfügung zu stellen, musste der Krieg zunächst verschoben werden. Auch der ehemalige Aussenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte, dass der Krieg gegen Afghanistan vor dem 11. September beschlossen worden war, denn im Juli 2001 war seine Regierung seitens der USA darüber informiert worden. Ende September 2006 brüstete sich auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton damit, einen Krieg gegen Afghanistan geplant zu haben. Sowohl dieser Krieg als auch der gegen den Irak waren Bestandteil der «Greater Middle East Initiative» der Neokonservativen.
Nach der Vertreibung der Taliban 2001 bestand eine reale Chance, die Staatlichkeit Afghanistans wiederherzustellen. Noch während des Krieges gegen Afghanistan fand unter Uno-Ägide Ende 2001 eine internationale Konferenz auf dem Petersberg statt, auf der die Grundlage für den künftigen Status des Landes gelegt wurde. Auf Druck der über 20 anwesenden US-Vertreter wurde unter Beteiligung dreier islamistischer und einer monarchistischen Gruppe eine Regierung für Kabul gebildet. Hamid Karsai, der seit Beginn des afghanischen Bürgerkrieges enge Verbindungen zur CIA unterhielt, wurde zum Übergangministerpräsidenten ernannt. Da diese Regierung weder Legitimation noch Rückhalt in Afghanistan hatte, wurde sie von einer Schutztruppe der Nato-Staaten nach Kabul begleitet und vor Ort weiter gesichert. Damit hat die Nato eine militärische «Lösung» des Konfliktes favorisiert. Afghanistan ist seitdem zu einem regelrechten Übungsplatz von USA und Nato geworden, wo die neuesten Waffen und die Einsatzfähigkeit der Soldaten, die weitere Entwicklung sowie die Einsatzfähigkeit der US-Drohnen, der Nachfolgertyp der französischen Mirage und die gepanzerten Bundeswehrfahrzeuge in der afghanischen Kriegsrealität getestet werden.
Auf Grundlage des Petersberger Fahrplans war Karsai dann 2002 auf einer Ratsversammlung zum Präsidenten gewählt worden, wobei 24 Stimmen mehr abgegeben wurden als Abgeordnete anwesend gewesen waren. Im Vorfeld dieser Wahl hatten die USA für 10 Millionen Dollar Stimmen für ihn gekauft. Die «New York Times» nannte die Art und Weise, wie die Wahl zustande gekommen war, «eine plumpe amerikanische Aktion». Bei dieser «Aktion» waren Uno und EU sowie die USA als Hauptakteur mit ihrem Botschafter Zalmay Khalilzad präsent. Alle Beschlüsse wurden entweder im Büro Karsais oder in der US-Botschaft gefasst. Sowohl Uno- wie EU-Vertreter nickten die getroffenen Entscheidungen nur noch ab. Damit büss­ten sie ihre Neutralität und Glaubwürdigkeit ein. Es war dann nur logisch, dass die Nato auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul am 28. Juni 2004 die Unterordnung der Schutztruppe «International Security Assistance Force» (Isaf) unter Nato-Kommando beschloss. Das Land wurde nach einem Operationsplan des Nato-Hauptquartiers unter den Besatzern in vier Sektoren aufgeteilt. Dadurch wurden die Aufsichtsfunktion der Uno, die Souveränität und Eigenstaatlichkeit Afghanistans aufgehoben. Diese Demütigung der Afghanen war der Nährboden, auf dem der Widerstand gedieh. Da die USA für sehr lange Zeit im Lande bleiben wollen, haben sie die dafür notwendigen Voraussetzungen geschaffen.

Wirtschaft Afghanistans willentlich zerstört

Noch vor den Parlamentswahlen 2005 hatte Karsai eine sogenannte «Nationale Konferenz» einberufen, auf der 100 Personen aus seiner Entourage zusammen kamen, die ihn bevollmächtigten, mit den USA einen Vertrag zu schliessen, auf dessen Grundlage die US-Armee auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben kann. Die 2011 und 2012 unterschriebenen Verträge Karsais mit der Nato und die bilateralen Verträge mit den USA, Deutschland und Grossbritannien erlauben diesen Ländern, unter dem Deckmantel als Berater und Ausbilder auch nach dem Abzug der Nato-Kampftruppen über 2014 hinaus in Afghanistan zu bleiben. Damit wird das Land am Hindukusch zu einer Militärkolonie und bleibt weiterhin ein unsinkbarer Flugzeugträger der USA und der Nato. Da das Kabuler Kabinett bis zu 50% aus American Afghans besteht, den Rest stellen Euro-Afghanen und einige willfährige Warlords, hatte die Nato keine Mühe, beliebige Verträge dem Kabuler Marionettenregime abzuverlangen. Hier spielen auch die in allen Ämtern präsenten US-Berater eine wichtige Rolle. «Verträge binden den Schwachen an den Starken, niemals aber den Starken an den Schwachen», stellte schon vor fast 300 Jahren Jean-Jacques Rousseau fest.
Ab 2002 leitete die Karsai-Administration eine Politik der offenen Tür ein. Dadurch wurde die Wirtschaft Afghanistans zerstört. Wie der damalige Kabuler Wirtschaftsminister Amin Farhang hervorhob, waren 99% aller Waren Importe. Der einheimischen Wirtschaft wurde jegliche Entwicklungschance genommen, sie exportiert fast nichts. Zum Beispiel hat Deutschland 2010 Waren im Werte von 269 Millionen Euro nach Afghanistan geliefert. Während es umgekehrt nur 24 Millionen Euro waren, hauptsächlich Teppiche. Die Heroinbarone nutzen den «Wirtschaftsboom» zur Geldwäsche. Sie investieren nur im Luxussegment, wie Hotels, Häusern und Lebensmitteln für den Bedarf zahlungskräftiger Ausländer, statt sich im Wiederaufbau des Landes zu engagieren, was zur Verbesserung der Lage für breite Schichten der Bevölkerung führen könnte. Sie und die korrupte Elite bringen ihre Dollars lieber ins Ausland. Der ehemalige 1. Vizepräsident, Ahmad Zia Masud, wurde am Dubaier Flughafen mit 50 Millionen Dollar im Koffer zunächst festgenommen und dann freigelassen. Am 11. März 2010 meldete Tolo-TV, dass fünfzehn hochrangige Politiker unter anderem Gouverneure, Botschafter, Generale der Polizei und Kabinettsmitglieder von Karsai, wie Sediq Tschakari, Minister für Pilgerfahrt und religiöse Angelegenheiten, Rafi Atasch, Präsident für Luftfahrt, Wahidullah Schahrani, Minister für Transportwesen, und Wirtschaftsminister Amin Farhang wegen Korruption zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Dies bestätigte sowohl der Justizminister Habibullah Ghaleb vor dem Parlament als auch Faqir Ahmad Faqiryar, Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes, am 13. März 2010 auf einer Pressekonferenz. Farhang soll 4 Millionen Dollar aus dem Haushalt seines Ministeriums unterschlagen haben. Dies bestätigte der Generalstaatsanwalt Ishaq Aloko. Dem Spiegel zufolge soll Farhang gar 19 Millionen Dollar unterschlagen haben. Da Farhang einen deutschen Pass besitzt, ist er zu seiner Familie in die Bundesrebublik zurückgekehrt. Nach neuesten Informationen hat der amtierende Finanzminister Hazrat Omar Zakhelwal 1,8 Millionen Dollar auf seine Privatkonten überwiesen.

Armut und sexuelle Gewalt – das Ergebnis der Nato-Besatzung

Seit die Nato den Abzug von Kampftruppen angekündigt hat, verlassen täglich Millionen Dollar illegal das Land. Der Präsident der Zentralbank gab offiziell an, dass 2011 über 4 Milliarden Dollar, das entspricht dem Jahresbudget der Regierung, ausser Landes gebracht worden seien.
Demgegenüber verschlechtert sich die Lage der Bevölkerung zunehmend. Die Arbeitslosigkeit beträgt etwa 70% mancherorts, vor allem in Osten und Süden sogar 90%. Dort sympathisieren bereits 80% der Menschen mit den Taliban. «80 Prozent der Bevölkerung Afghanistans leben am Existenzminimum. Jedes Jahr drängen eine Million junger Leute auf den Arbeitsmarkt.» Das ist das Ergebnis der 11jährigen Nato-Besetzung Afghanistans. Den Afghanen waren einmal blühende Landschaften versprochen worden. Seit elf Jahren müssen sie erleben, dass der Westen «eine Menge Lügen erzählt und falsche Versprechungen macht». Selbst in Kabul funktionieren weder Wasser- noch Stromversorgung. Wegen der katastrophalen sanitären Verhältnisse kam es in den heissen Sommermonaten wiederholt zu Cholera-Epidemien. Für den einfachen Bürger sind die Mietpreise in der Stadt unerschwinglich geworden.
Die afghanischen Frauen haben viele Feinde: Armut, alltägliche Gewalt oder Entführungen. «Die Vergewaltigungsrate ist extrem angestiegen, was in der Geschichte unseres Landes völlig untypisch ist», sagt Zoya, eine Aktivistin von der maoistischen Frauenorganisation «Revolutionary Association of the Women of Afghanistan» (RAWA). Da die Vergewaltiger keine nennenswerten Strafen zu befürchten haben, sind die Frauen vogelfrei. Hinzu kommt noch, dass Vergewaltigung als ausserehelicher Geschlechtsverkehr gilt und die Frauen dafür sogar gesteinigt werden können. «Erst vor kurzem hat Präsident Karsai die Vergewaltiger eines zwölfjährigen Mädchens begnadigt.» Gegenüber amnesty international äusserte ein internationaler Helfer: «Wenn eine Frau zur Zeit des Taliban-Regimes auf den Markt ging und auch nur einen Streifen Haut zeigte, wurde sie ausgepeitscht – heute wird sie vergewaltigt.»
Zu dem unsäglichen Petersberger Fahrplan hätte es eine Alternative gegeben, die jedoch nie in Erwägung gezogen wurde. Der optimale Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer repräsentativen Regierung gewesen. Unter strengster Kontrolle nicht der «internationalen Gemeinschaft», sondern der Blockfreien Staaten, der Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens- und Frauenorganisationen hätten Wahlen für eine Ratsversammlung durchgeführt und dort eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden müssen. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul nichts zu befürchten. Schlimmstenfalls hätte man, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt worden wäre, die Blockfreien und die islamischen Staaten in die Pflicht nehmen können. Damit wäre auch den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen worden, denn Afghanistan wäre dann nicht von «ungläubigen Christen» und dem «grossen Satan» besetzt. Diese Alternative war jedoch von Anfang an unerwünscht. Aber es ist noch nicht zu spät, die Petersberger Fehler zu korrigieren.
Ein Wiederaufbau, der ein «Krieg gegen den Hunger» wäre, wie es «Senlis Council» formuliert, müsste die erste Priorität sein. Die Milliarden Dollar, auf diversen internationalen Geberkonferenzen dem Land versprochen, fliessen über die 6000 in Kabul stationierten und mit allen Vollmachten ausgestatteten NGOs, die «oft gegeneinander, statt miteinander» arbeiten, in die Geberländer zurück. Einheimische Unternehmen erhalten von ihnen kaum Aufträge. Der zum Planungsminister ernannte Franco-Afghane Ramazan Bachardoust wurde, als er die Machenschaften der NGOs, die er «als die neue al-Kaida in Afghanistan bezeichnet», aufdecken wollte, von Karsai entlassen.

500'000 zivile Opfer

Afghanistans ökonomische Perspektive liegt in der Abkoppelung von kolonialähnlichen wirtschaftlichen Strukturen und der Hinwendung zu einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und Pakistan sowie in einer Süd-Süd-Kooperation.
Die von der Nato favorisierte «militärische Lösung» kann es nicht geben, dazu ist sie ein gigantischer «Ressourcenschlucker». Von 2002 bis 2006 wurden in Afghanistan 82,5 Milliarden Dollar für den Krieg ausgegeben, jedoch nur 7,3 Millarden. für den Wiederaufbau. «Damit übersteigen die Militärausgaben die Hilfsmittel um 900 Prozent.» Der Krieg kostet jede Woche 1,5 Millarden Dollar. Selbst offizielle Angaben beziffern die Kriegskosten allein für die USA bis Ende 2011 mit 440 Millarden Dollar. Der Einsatz der Bundeswehr kostete 2008 über 536 Millionen Euro, 2009 waren es schon etwa 690 Millionen. Das Institut für Deutsche Wirtschaftsforschung (DIW) gibt die jährlichen Kosten mit 2,5 bis 3 Milliarden Euro an. Selbst «mit einem Abzug 2011 würde der Krieg insgesamt zwischen 18 und 33 Milliarden Euro kosten», hatte Prof. Tilman Brück, Leiter der Abteilung Wirtschaft am DIW 2010 festgestellt. Einen einzigen Taleb zu töten kostet schon 100 Millionen Dollar.
Auf einer Konferenz in Tokio 2012 wurden Afghanistan für die nächsten vier Jahre insgesamt 16 Milliarden Dollar zugesagt. Als Gegenleistung hat Präsident Karsai, dessen Land Korruptions-Vize-Weltmeister und Drogenweltmeister ist, die Bekämpfung der Korruption versprochen. «Würden alle Korrupten vor Gericht gestellt, hätten wir praktisch keine Regierung mehr», stellte am 9. Juli 2012 die Zeitung «Aschte Sob» aus Kabul fest. Darüber hinaus hat Karsai 110 Warlords, Kriegsverbrecher und Heroin­barone als «Berater» um sich gesammelt. Jeder erhält monatlich 5000 Dollar Gehalt. Viele von ihnen hatten nicht einmal im Jahr ein Gespräch mit Karsai. Hätten diese und weitere aus der Entourage von Karsai serbische Pässe, wären sie ausnahmslos vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zitiert worden.
Damit die Nato ohne Gesichtsverlust ihre Kampftruppen abziehen kann, hat sie Bedingungen für eine Afghanisierung des Krieges geschaffen. Sie hat etwa 500 000 Kämpfer ausgebildet und ausgerüstet. Darunter 352 000 Mann Soldaten der afghanischen Nationalarmee. Nun wollen die USA Geld sparen und die Zahl der Sicherheitskräfte bis 2016 auf 228 500 Mann reduzieren. Damit werden 125 000 gut ausgebildete und ausgerüstete Kämpfer arbeitslos, die dann zum Widerstand überlaufen werden. Das wäre ein schönes US-Abschiedsgeschenk für die Taliban!
Nach Recherchen des britisch-pakistanischen Publizisten Tariq Ali hatte der Krieg schon 2008 hundertmal mehr afghanische Zivilisten als in Manhattan getötet, das heisst insgesamt 300 000. Beobachter vor Ort gehen von mehr als 500 000 zivilen Opfern aus.
Es ist längst überfällig, dass die Nato ihre Kriegsstrategie fallen lässt, um Afghanistan vor der Spirale der unkontrollierten Gewalt und die Region um Afghanistan vor weiterer Destabilisierung zu bewahren. Pakistan steht schon am Rande eines Bürgerkriegs. Würde diese Atommacht mit starken islamistischen Gruppen tatsächlich in einen Bürgerkrieg abgleiten, würde uns der Afghanistankonflikt fast als Bagatelle erscheinen.    •

*Matin Baraki lehrt Internationale Politik an der Universität Marburg.

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