Das Recht auf eine eigene Kultur

Das Recht auf eine eigene Kultur

«Was jetzt geschieht ist der Wiederaufbau von Russlands inneren Bindungen mit seiner Geschichte, die gebrochen waren» (Sergej A. Karaganow)

von Ellen Barry

zf. Wir haben Jahre schwerster Polemik bezüglich Russlands im Kopf, aber wenig reale Information über die innere Entwicklung des Landes. Nicht nur in bezug auf China muss unser politisches Denken erweitert werden, sondern auch in bezug auf Russland. Dass das Land sich nun seiner eigenen Kultur und Geschichte zuwendet: Wer im Westen nimmt sich heraus, auch darüber vom ganz hohen Ross herunter seine schnöden Bemerkungen zu machen? Muss Europa, muss Amerika sich nicht vielmehr darum zu kümmern beginnen, was sie ihrer eigenen Bevölkerung bieten wollen? Welche Perspektive? Welche Entwicklung? Wo sind die Werte? Was ist von reichhaltigen Kulturen und ihrer vielfältigen Ausprägung noch übrig geblieben ausser Trümmern?

Mehr Realitätssinn zwingt sich auf. Mehr Bodenhaftigkeit auch.

Über zwölf Jahre hat der hauptsächliche Führer Russlands, Vladimir V. Putin, denselben schonungslosen Pragmatismus auf ein breites Spektrum von Problemen angewandt – separatistische Kriege, Gaskriege, widerspenstige Oligarchen und einen einbrechenden Rubel.
Nun steht er vor einem Problem, vor dem er nie zuvor gestanden hat und das eine schwierige Herausforderung für seinen KGB-geschulten Geist ist. Nach Ablauf von sechs Monaten seiner dritten Amtszeit und einer Welle von beunruhigenden Strassenprotesten braucht Putin eine Ideologie, eine Idee, die machtvoll genug ist, um das Land rund um seine Herrschaft zu konsolidieren.
Eine der wenigen klaren Strategien, die in den letzten Monaten in Erscheinung getreten sind, ist ein Bemühen, konservative Elemente der Gesellschaft zu mobilisieren. Kosaken-Milizen werden zu neuem Leben erweckt, regionale Behördenmitglieder drängen sich darum, Programme zur «patriotischen Erziehung» zu präsentieren, und unter dem Slogan «Gebt uns eine nationale Idee» sind in grösseren Städten slawophile Diskussionsvereine eröffnet worden.
«Bestimmt denkt er über Weltanschauung nach», sagt Putins Pressesekretär und enger Berater, Dmitri S. Peskow, in einem Interview. «Weltanschauung ist sehr wichtig. Patriotismus ist sehr wichtig. Ohne Hingabe des Volkes, ohne das Vertrauen des Volkes können Sie nicht erwarten, dass das, was Sie tun, Ihre Arbeit eine positive Auswirkung hat.»
Die Vorstellungen ändern sich auch innerhalb der herrschenden Klasse. An die Stelle der prowestlichen Modernisierungsdoktrin von Präsident Dmitri A. Medwedew sind Gespräche über «Post-Demokratie» und impe­riale Nostalgie getreten. Die Prämisse, die diesem Land vor zwanzig Jahren eingetrieben wurde, dass Russland danach streben sollte, die liberalen westlichen Einrichtungen nachzuahmen, wird heute von führenden Intellektuellen in Frage gestellt.
Von «westlichen Werten» wird mit Verachtung gesprochen. Jedes Jahr versammeln sich Gelehrte aus der ganzen Welt für ein Treffen des Valdai-Diskussionsvereins, wo sie rund um einen üppigen Esstisch Präsident Putin während Stunden mit Fragen bombardieren. Dieses Jahr, so Peskow, gab es nur wenige Fragen zu Demokratie und Menschenrechten – weil diese Fragen nicht mehr von Interesse sind. «Die Experten der Welt verlieren heutzutage ihr Interesse an einer Reihe von brennenden Themen», sagte er. «Jedermann hat das Thema Menschenrechte satt.» Er fügte hinzu: «Es ist langweilig traditionell, und es steht nicht auf der Traktandenliste.»
Die Ereignisse des letzten Jahres haben der antiwestlichen Diskussion Auftrieb gegeben. Die Schuldenkrise hat der Euro-Zone ihre Anziehungskraft als wirtschaftliches und dann als politisches Modell genommen. Die arabischen Aufstände haben eine intellektuelle Kluft zwischen Russland und den Vereinigten Staaten hinterlassen. Die orthodoxe Kirche Russlands sieht den Westen in der Rolle desjenigen, der gefährliche Unruhen auf der Welt auslöst.
Peskow sagte, dass Putin «ziemlich genau verstehe, dass es keine allgemeinen westlichen Werte gibt», aber dass er diese Periode als eine schwere historische Krise betrachte.
«Wir erleben einen gewaltigen Zusammenbruch der Kulturen in Europa, weniger in den USA, weniger in Südamerika», sagte Pes­kow. «Aber wir haben ihn in Afrika, und wir haben ihn in Europa, und wir werden von diesen Gegensätzen zerrissen. Weil keine Harmonie bei der Koexistenz unterschiedlicher Kulturen existiert, können sie diese Harmonie nicht sicherstellen. «Die Welle von Revolutionen im Maghreb, in Nahen Osten, im Golf, im Jemen – sie haben zu Katastrophen geführt», sagte er.
Auch wenn Russland keine Absicht hat, sich in seiner Aussenpolitik vom Westen abzuwenden, so Peskow, wird es Einmischungen von Aussenstehenden in seine inneren Angelegenheiten nicht mehr länger tolerieren.
Diese Botschaft ist unzweideutig, aber es ist schwierig zu wissen, welche konkreten Veränderungen damit diktiert werden in einem Land, dessen politische und geschäftliche Spitzenleute Häuser in Europa haben und ihre Kinder dorthin zum Studium schicken.
Anlässlich einer Diskussion über die «Nationalisierung der Elite» im September schlug ein mit dem Kreml verbundener Gesetzgeber vor, Beamten den Besitz von Grundstücken im Ausland zu untersagen, und sagte, dass sie das ausländischen Regierungen gegenüber verpflichte und dazu führen könnte, dass sie Russland verraten. Der Vorschlag stiess auf offenen Widerstand, auch von Medwedew, und ist nun in der Schwebe.
Putin, so sagte Peskow, habe gemischte Gefühle bezüglich der Massnahme und sei noch zu keiner abschliessenden Entscheidung darüber gekommen.
«Wenn man für den Staat arbeitet – vor allem wenn man Staatsangestellter auf einer gewissen Ebene ist – und man hat seine Investitionen im Ausland, kann man von diesem Ausland leicht beeinflusst werden, und das kann den Interessen des Staates schaden», sagte er. «Man ist dann nicht zuverlässig im Sinne von standhaft bei der Verteidigung der Interessen des Staates. Auf der anderen Seite ist es so, wenn wir vom Ausland sprechen, dass es viel billiger ist, eine Wohnung in Bulgarien zu kaufen als hier in Moskau. Es ist eine gewaltige Diskussion darüber im Gange.»
Alexander Rahr, einer der Experten, der am Valdai-Diskussionsverein teilnahm, sagte, er sei mit dem Eindruck weggegangen, dass auch wenn Putin politisch davon profitiert habe, wenn er eine konservativere Sprache aufgreife, sei etwas Tiefergehendes im Gange.
«Er bereitet die Russen mehr und mehr auf die Auffassung vor, dass Russland nicht zum Westen gehört, nicht mehr zur westlichen Kultur oder zu Europa in dem Sinne gehört, wie das in den 1990er Jahren diskutiert worden war», sagte Rahr, der Autor einer Biographie von Putin. «Er bereitet die Russen auf etwas anderes vor. Was immer das heisst, ist schwer zu sagen.»
In der Öffentlichkeit hat Putin sich für die Suche nach patriotischen Ideen ausgesprochen. An einem Treffen im September, das einen nationalen Vorstoss für «patriotische Bildung» lancierte, sagte er, dass der Konflikt über «kulturelle Identität, spirituelle und moralische Werte und Moralkodex» zu einem Bereich intensiver Kämpfe zwischen Russ­land und seinen Feinden geworden ist.
«Das ist nicht eine Art von Phobie; es geschieht wirklich», sagte Putin laut der Regierungszeitung «Rossiyskaya Gazeta». «Das ist zumindest eine Form von Konkurrenzkampf, dem viele Länder begegnen, genauso wie dem Kampf um mineralische Ressourcen. Verfälschung des nationalen, historischen und moralischen Bewusstseins führt mehr denn je zu Schwächung, Kollaps und Verlust an Souveränität des ganzen Staates.»
Dieses Thema wurde diesen Monat wieder aufgegriffen, anlässlich des 400. Jahrestages des Aufstandes, mit dem eine polnisch-litauische Besetzung vertrieben wurde und mit dem beendet wurde, was die Russen die «Zeit der Wirren» (Zeit der Schwierigkeiten) nennen.
Die Botschaft schien auf diese suspekte Jahreszeit zugeschnitten, in der gemeinnützige Gruppierungen als «ausländische Agenten» bezeichnet werden und die rechtliche Definition von Verrat um die Formulierung «Hilfeleistung an internationale Organisationen» erweitert wurde.
In einem auf Video aufgezeichneten Vortrag, der in Klassenzimmern der Oberstufe gezeigt werden soll, beschreibt einer der engsten Mitstreiter Putins, Sergei Naryshkin, Sprecher des Unterhauses des Parlaments, die westlichen Besatzer aus ferner Vergangenheit mit Begleitung von dunkler Orchestermusik und Bildern eines toten Dorfmädchens, brennenden Holzhütten und einem sich duckenden Kind.
Auf Anweisung von Moskau drängen sich die russischen Staatsbeamten, mit ihren eigenen patriotischen Programmen hervorzutreten. In Rostow am Don erwägt das Erziehungsministerium Kostümbälle im kaiserlichen Stil des 19. Jahrhunderts. In ­Nowosibirsk schlugen Beamte einen neuen Feiertag, «den Tag der Überwindung der Wirren», vor. Gesetzgeber von Wolgograd führten eine Kommission zu Fragen der patriotischen Erziehung, Ideologie und Propaganda ein.
Sergei A. Karaganow, Dekan der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau, sagte, er glaube, dass Putin in den kommenden Jahren einen grossen Teil seiner Energie der Suche nach «einer Reihe von einheitsstiftenden Ideen» widmen werde, die sowohl die Bevölkerung als auch die herrschenden Klassen überzeugen.
«Er ist ein sehr guter operativer Denker – er ist praxisnah –, aber an gewissen Punkten muss man eine Vision anbieten», sagte Karaganow. «Es ist klar, was jetzt geschieht, ist die Wiederherstellung von Russlands Beziehungen zu seiner Geschichte, die zerrüttet waren.
Eine Erschwernis in diesem Projekt, bemerkt er, ist die, dass Russlands Moment des Ruhms und der Einheit immer mit einer eindringenden Macht verbunden gewesen sind.
«Russland hat eine fantastische, sehr merkwürdige und sehr fremde Situation – das Land hat keine Feinde», sagte er. Bezüglich der Vereinigten Staaten fügte er an: «Ihr Land entstand durch wenige Worte in eurer Verfassung. Unser Land entstand rund um Verteidigung, und plötzlich gibt es keine Bedrohung mehr.»    •

Quelle: © «The International Heralds Tribune» vom 21. November 2012

(Übersetzung Zeit-Fragen)

«Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung»
aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 – Teil I
Artikel 1
(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.
(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

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