«Die Schweiz ist ein Sonderfall – oder sonst keine Schweiz»

«Die Schweiz ist ein Sonderfall – oder sonst keine Schweiz»

To have real self-government, a people must understand what that means, want it, and be willing to sacrifice for it.

George Kennan.
Around the Cragged Hill


Die Redaktion von «Zeit-Fragen» möchte heute Botschafter Paul Widmer mit einem Ausschnitt aus «Die Schweiz als Sonderfall» zu Wort kommen lassen. Der Text stammt aus dem Jahre 2008.

Die Schweiz ist ein Sonderfall – oder sonst keine Schweiz. Das ist, ich gestehe es gern, eine kühne Behauptung. Aber sie erfolgt nicht grundlos. Warum? Weil die Schweiz weit mehr ist als ein Land mit 7,5 Millionen Einwohnern, ein Land mit 41 000 km2 Fläche und einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Das alles ist die Schweiz zwar auch, doch darüber hinaus verkörpert sie eine Idee, steht für eine Art von Staatswesen und eine bestimmte politische Kultur. Falls sie das nicht mehr tut, hat sie wohl den Namen behalten, jedoch die Sache verloren. Eine solche Schweiz hätte mit der ursprünglichen Schweiz etwa gleich viel gemein wie das heutige Griechenland mit dem antiken Griechenland. Das alte Athen, die Wiege der Demokratie, repräsentiert eine Idee. Es ist das Paradebeispiel für einen demokratischen Staat. Das heutige Athen dagegen hat die Idee verwirkt. Gewiss prosperiert die moderne Metropole, sie ist weiterhin die Hauptstadt Griechenlands, doch sie verkörpert nichts mehr. Sie hat die Lust und die Last der Repräsentation eingebüsst.
Die Schweiz repräsentiert also ein gewisses Gedankengut. Das ist für ein kleines Land beachtenswert. Nur wenige Staaten, zumeist Grossstaaten, sind Aushängeschild für Werte und Ideen – Grossbritannien etwa als Urbild einer konstitutionellen Monarchie oder die ehemalige Sowjetunion als Prototyp einer kommunistischen Ordnung. An sich sollte diese herausragende Qualifikation Zufriedenheit, vielleicht auch ein biss­chen Stolz hervorrufen. Doch dem ist nicht so. Hierzulande ist es geradezu verpönt, von einem Sonderfall zu sprechen. Die aufgeklärten Zeitgenossen mögen derlei gar nicht. Die Schweiz soll sein wie alle andern Staaten, ohne Kanten und Eigenprofil ins europäische Umfeld eingebettet.

aus: Paul Widmer. Die Schweiz als Sonderfall. Grundlagen. Geschichte. Gestaltung.
2. Aufl., Zürich 2008. Verlag Neue Zürcher Zeitung. S. 7. ISBN 978-3-03823-495-1

ro. Paul Widmer streicht mit seinem sehr lesenswerten Buch die Schweiz als Sonderfall heraus. Die Schweiz repräsentiert ein gewisses Gedankengut, das heisst, im Laufe der Geschichte haben sich in der Schweiz, so wie es von Salis nennt, «Grundgesetze des politischen Verhaltens» entwickelt. Diese «Grundgesetze» bilden heute in der Schweiz Konstanten, welche die politische Kultur unseres Landes tief prägen. Es sind diese politischen Konstanten, die heute, so sinngemäss die Aussagen von Widmer, von «aufgeklärten Zeitgenossen» in Frage gestellt werden. Diese behaupten, es gebe keinen Sonderfall Schweiz und unser Land müsse sich wie alle anderen Staaten «ohne Kanten und Eigenprofil ins europäische Umfeld» einbetten.
Von Salis legt uns eindrücklich nahe, dass eine gewisse Regelmässigkeit im poli­tischen Geschehen immer wieder auch durch politische Krisen geprägt oder gar unterbrochen wird und dass diese Krisen durch «pathologische Erscheinungen» verursacht werden. Zweifellos befinden wir uns heute in einer solchen politischen Krise, die ernst zu nehmen ist und unser Staatswesen bedroht. Die zentrale pathologische Erscheinung in Europa ist dabei zweifellos die Europäische Union (EU), die unablässig versucht, die Schweiz in den Würgegriff zu nehmen. Was tun? Von Salis spricht von «Schutzmass­nahmen». Wir müssen Schutzmassnahmen ergreifen, um das politische Geschehen wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, in der Schweiz und in Europa.
Wir müssen das Heft aktiv in die Hand nehmen, um die politische und wirtschaftliche Krise zu meistern, es wäre für die Geschichte unseres Landes auch nicht das erste Mal. Der einzelne Mensch, und darauf baut unsere direkte Demokratie auf, ist dabei der wichtigste Faktor.
Der bekannte Staatsrechtler Zaccaria Giacometti (1893–1970) legt uns, gleich wie Paul Widmer, eindringlich dar, was das schweizerische Staatswesen zu einem Sonderfall macht: «Die freiheit­liche Staats­idee hat in Bund und Kantonen eine einmalige Ausprägung erfahren und diese Gemeinwesen zu einzigartigen ­politischen Individualitäten gestaltet. […] Bund und Kantone sind Hüter einer grossen, ja unsterblichen Staatsidee, die von jeher die Gemüter bewegt hat. Sie nehmen insofern, wenn eine historische Parallele gestattet ist, eine analoge Stellung in der modernen Welt wie die griechische Polis in der Antike ein.»
Darum gilt es auch heute, der Freiheit der Schweiz die Treue zu halten. Denn mit der Preisgabe der individuellen und politischen Freiheit, so Giacometti, «würde die Schweiz auch ihren inneren Sinn verlieren».1

1    Giacometti, Zaccaria: Staatsrecht der Kantone, Zürich 1940, S. 552f.

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