«Ich glaube, dass es heute mehr denn je notwendig ist, uns zur Solidarität zu erziehen»

«Ich glaube, dass es heute mehr denn je notwendig ist, uns zur Solidarität zu erziehen»

Botschaft von Papst Franziskus an José Graziano da Silva, Generalsekretär der FAO*
Der Welternährungstag stellt uns vor eine der ernsthaftesten Herausforderungen für die Menschheit: die tragische Lebenssituation, in der noch immer Millionen von hungernden und unterernährten Menschen leben, darunter viele Kinder. Dies wiegt noch schwerer in einer Zeit wie der unsrigen, die durch einen nie zuvor erlebten Fortschritt auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft und immer grössere Kommunikationsmöglichkeiten gekennzeichnet ist.
Es ist ein Skandal, dass es in der Welt immer noch Hunger und Unterernährung gibt.
Es geht nicht nur darum, wie man auf akute Notfälle reagiert, sondern auch darum, dass man sich gemeinsam und auf allen Gebieten einem Problem zuwendet, das unser persönliches und unser soziales Gewissen herausfordert, um eine gerechte und dauerhafte Lösung zu erreichen. Niemand sollte dazu gezwungen sein, sein Land und seine eigene kulturelle Umgebung verlassen zu müssen, weil er nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes verfügt.
Paradoxerweise in einer Zeit, in der die Globalisierung es uns ermöglicht, die Notlagen in der Welt zu kennen und den Austausch und die menschlichen Beziehungen zu multiplizieren, scheint die Tendenz zum Individualismus und die Tendenz, dass wir uns in uns selbst abschotten, zu wachsen, was zu einer gewissen Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber denjenigen führt, die an Hunger sterben oder an Unterernährung leiden – auf der persönlichen, der institutionellen und der staatlichen Ebene, fast so, als wäre es eine unvermeidliche Tatsache.
Hunger und Unterernährung in der Welt können aber niemals als normal oder naturgegeben betrachtet werden, als etwas, an das man sich gewöhnen muss, als ob es ein Teil des Systems wäre. Etwas muss sich in uns selbst verändern, in unserer Mentalität, in unseren Gesellschaften.
Was können wir tun? Ich denke, dass es ein wichtiger Schritt wäre, mit Entschlossenheit die Barrieren des Individualismus zu überwinden, des Abgeschottetseins in uns selbst, aber auch die Sklaverei des Gewinns um jeden Preis; und dies nicht nur im Bereich der menschlichen Beziehungen, sondern auch im weltweiten Wirtschafts- und Finanzbereich. Ich glaube, dass es heute mehr denn je notwendig ist, uns zur Solidarität zu erziehen, den Wert und die Bedeutung dieses sehr unbequemen Wortes wiederzuentdecken, das oft beiseite gelassen wird, und es zu einer inneren Haltung werden zu lassen bei Entscheidungen auf der politischen, wirtschaftlichen Ebene und im Bereich der Finanzen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, dass wir selbstsüchtige und voreingenommene Sichtweisen überwinden; schliesslich werden wir auch in der Lage sein, das Ziel zu erreichen, die Formen der Armut, die durch den Mangel an Nahrungsmitteln bestimmt sind, zu eliminieren. Eine Solidarität, die sich nicht in verschiedenen Formen des Wohlstands erschöpft, sondern die sich bemüht sicherzustellen, dass eine noch grössere Anzahl von Menschen wirtschaftlich unabhängig wird. Viele Schritte in verschiedenen Ländern sind unternommen worden, aber wir sind noch weit entfernt von einer Welt, in der alle Menschen in Würde leben können.
Das Thema, das die FAO für die diesjährigen Feierlichkeiten gewählt hat, spricht von «nachhaltigen Ernährungssystemen für Ernährungssicherheit und Nahrungsmittel.» In der Einladung habe ich gelesen, dass es darum geht, unser Ernährungssystem aus der Perspektive der Solidarität zu überdenken und zu erneuern, die Logik der hemmungslosen Ausbeutung der Schöpfung zu überwinden und unser Bemühen vielmehr darauf zu richten, die Umwelt mit ihren Ressourcen zu entwickeln und sie zu pflegen, Ernährungssicherheit zu garantieren und Fortschritte in Richtung auf ausreichende und gesunde Nahrung für alle zu erzielen.
Dies beinhaltet die ernsthafte Frage nach der Notwendigkeit, unseren Lebensstil wirklich zu verändern, einschliesslich unserer Haltung gegenüber den Nahrungsmitteln, welche in so vielen Gebieten des Planeten durch Konsumismus, Vergeudung und Verschwendung gekennzeichnet ist.
Die Angaben, die diesbezüglich von der FAO bereitgestellt wurden, weisen darauf hin, dass schätzungsweise ein Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel wegen immer grösseren Verlusten und Verschwendung nicht verfügbar sind. Um die Anzahl der hungernden Menschen radikal zu reduzieren, würde es ausreichen, dies zu verhindern. Unsere Eltern haben uns dazu erzogen, das, was wir bekommen und besitzen, als kostbares Geschenk Gottes zu schätzen.
Die Verschwendung von Lebensmitteln ist nur eines der Ergebnisse der «Wegwerfkultur», die oft dazu führt, Männer und Frauen für die Idole des Profits und des Konsums zu opfern; das traurige Symptom einer «Globalisierung der Gleichgültigkeit», das dazu führt, uns langsam an das Leiden der Mitmenschen zu «gewöhnen», als ob es normal wäre. Die Bewältigung des Hungers und der Unterernährung hat nicht nur eine wirtschaftliche oder wissenschaftliche Dimension, die sich auf die quantitativen und qualitativen Aspekte der Nahrungskette bezieht, sondern auch und vor allem eine ethische und anthropologische Dimension. In Solidarität zu erziehen bedeutet demnach, uns selbst zur Menschlichkeit zu erziehen: eine Gesellschaft aufzubauen, die wirklich menschlich ist, heisst, immer den Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt zu stellen und ihn niemals billig an die Logik des Profits zu verkaufen.
Das menschliche Wesen und seine Würde sind «Pfeiler zur Aufstellung von gemeinsamen, über rein pragmatische oder technische Ansätze hinausgehende Regeln und Strukturen, die dazu in der Lage sind, bestehende Trennungen zu überwinden und existierende Unterschiede zu überbrücken.» (vgl. Ansprache an die Teilnehmer der 38. Sitzung der FAO, 20. Juni 2013)
Wir stehen schon an der Schwelle des Internationalen Jahres, welches auf Initiative der FAO den kleinbäuerlichen Familien gewidmet sein wird. Das gibt mir die Gelegenheit, einen dritten Aspekt zum Überdenken vorzuschlagen: Erziehung zur Solidarität und zu einem Lebensstil, der die «Wegwerfkultur» überwindet und die wirklich jeden Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt stellt, wie es für die Familie charakteristisch ist. Sie ist die erste erziehende Gemeinschaft, und von ihr lernen wir, uns um den anderen zu kümmern, das Gute im anderen zu sehen, und zu lieben, mit der nachhaltigen Schöpfung in Einklang zu leben.
Die Familie zu unterstützen und zu schützen, damit sie zu Solidarität und Respekt erzieht, ist ein entscheidender Schritt hin zu einer gleichwertigeren und menschlicheren Gesellschaft.
Die Katholische Kirche verfolgt diesen Weg mit Ihnen im Bewusstsein, dass Nächstenliebe, die Liebe, die Seele ihrer Mission ist.
Möge der Welternährungstag mehr sein, als nur ein jährlicher Gedenktag, und zwar eine wahre Gelegenheit, uns selbst und die verschiedenen Organisationen dazu zu bringen, gemäss einer Kultur der Begegnung und der Solidarität zu handeln. So können wir die richtigen Antworten auf das Problem des Hungers und der Unterernährung geben und auch auf alle anderen Fragen, die die Würde eines jeden menschlichen Wesens betreffen.
Indem ich Ihnen, Herr Generaldirektor, meine herzlichen Wünsche für eine immer wirksamere Arbeit der FAO überbringe, erbitte ich für Sie und für alle, die in dieser grundlegenden Aufgabe mitarbeiten, den Segen des allmächtigen Gottes.     •

Vatikan, 16. Oktober 2013

(Original Spanisch, Übersetzung der englischsprachigen Version Zeit-Fragen)
© Liberia Editrice Vaticana

* Die Botschaft wurde vom Welternährungsbeauftragten des Vatikans, Erzbischof Luigi Travaglino, bei den Feierlichkeiten der FAO anlässlich des Welternährungstages verlesen.

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