«Ich habe die Schweiz nie anders als weltverbunden aufgefasst …»

«Ich habe die Schweiz nie anders als weltverbunden aufgefasst …»

von Jean Rodolphe von Salis

Ich habe die Schweiz nie anders als weltverbunden aufgefasst und in der Neutralität nicht ein Mittel zur Abschliessung gegen aussen, sondern eine Möglichkeit erblickt, ohne nationale Vorurteile, ohne Hass, sondern mit Verständnis auch für das Anders- und Fremdartige unseren kleinen Platz unter der Sonne einzunehmen. André Siegfried hat gesagt, der Schweizer erblicke infolge seiner Neutralität in den anderen Staaten weniger einen möglichen Feind als einen Partner. Dem möchte ich beifügen, diese Neutralität sollte uns auch befähigen, in den europäischen und welt­politischen Problemen immer beide Seiten der Medaille zu sehen. Damit würde das Negative des Neutralitätsbegriffs, seine Enthaltsamkeit, ins Positive gewendet: in eine intelligente Aufgeschlossenheit den verschiedenartigen Aspekten des politischen Universums gegenüber.
Wir können die Glaubwürdigkeit unserer Neutralität nur dadurch bekunden, dass wir mit Sachlichkeit, Objektivität und Unparteilichkeit an den europäischen und Weltorganisationen, denen wir angehören, mitwirken, und indem wir auch in anderer Form gute Dienste leisten. Gewiss gibt es keine Gesinnungsneutralität; aber wir müssen achtgeben, dass wir nicht mit unseren verbalen Kundgebungen, auch durch die Art, wie wir unsere Zeitungskommentare redigieren oder am Radio und Fernsehen sprechen, allzusehr die internationale Moraltante und den europäischen Schulmeister spielen. Weder der kleine Umfang unseres Staatsgebietes noch die reale Möglichkeit, einen Einfluss auf das internationale Geschehen auszuüben, berechtigen uns zu solchen Attitüden. Es ist heute wie zur Zeit Gobineaus: Wir fühlen uns «zum Anwalt einer allgemeinen europäischen Völkerbefreiung berufen». So wie die vor 100 Jahren unterdrückten Deutschen, Italiener und Franzosen, teils aus eigener Kraft, teils infolge von politischen Ereignissen, endlich zu ihrer Freiheit gekommen sind, ohne dass wir etwas dazu beitragen konnten, werden auch Völker, die heute nicht frei sind, ohne unser Dazutun eines Tages zum Ziel ihrer Wünsche gelangen. Wie das geschehen soll, wissen wir nicht, wir wissen nur, dass sie ganz bestimmt nicht durch die Macht oder die Sympathie der Schweiz befreit werden können.
In unserem praktischen Verhalten werden wir uns dem Zuge der Zeit nach regionalen Vereinbarungen nicht verschliessen und in jedem Fall prüfen, ob und in welcher Form wir mitmachen können. Wir werden den falschen Schein vermeiden, dass wir uns politisch zu einem Block oder Bündnissystem bekennen können. Es würde dem neutralitätspolitischen Denkmodell widersprechen, wenn wir dem Glauben verfallen würden, wir stünden unter dem Schutz und Schirm der Amerikaner; das würde ausserdem dazu führen, dass wir uns im Falle eines Rückzugs der Amerikaner aus Eu­ropa schutzlos fühlen und dann bei einer andern Macht Schutz suchen würden. Ein «Fatalismus des Beschütztseins» hätte zur Folge, dass wir unsere Neutralität verwirken würden und dann eben das Gegenteil – den Anschluss an einen Stärkeren – suchen müssten. Es gibt Beispiele von kleinen und grossen Staaten – Finnland, Österreich, Frankreich –, die unabhängig von fremdem Schutz sind und in Moskau Vertrauen geniessen. Eine Art «Helvetisierung» oder Neutralisierung Europas scheint nicht ausgeschlossen, wenn nicht eine gefährliche Reaktivierung der Blockpolitik zu guter Letzt doch noch zum Konflikt führen sollte. Auf alle Fälle sollten wir in Zeiten der internationalen Spannung unseren verantwortlichen Behörden helfen, eine ebenso besonnene wie standfeste Haltung zu bewahren, und nicht durch eine Entfesselung von kollektiven Emotionen, die niemandem nützen, uns selber unnötigerweise in das Spannungsfeld begeben. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass wir die Bedeutung unseres Wirtschaftspotentials, unserer Kapitalkraft und unseres Welthandels nicht unterschätzen, unsere politische und moralische Bedeutung in der Welt aber nicht überschätzen sollten. Das klingt leider sehr nüchtern, ist aber wahr.
Wozu sind wir als Staatsvolk auf der Welt? Wir können durch unsere materiellen und geistigen, auch durch humanitäre Leistungen bestehen, denn alle drei kennen keine Grenzen und können sich überall entfalten. Handel, Kultur und Hilfe, menschliche Solidarität und Bereitschaft zur Partnerschaft, zum Gespräch, zum Geschäft: das ist die Schweiz draussen in der Welt. Daher müssen wir auch unser Verhältnis zur Welt universal auffassen; überdies weisen Verkehr, Technik und Wissenschaft in diese Richtung. Das Regionale genügt nicht, wichtiger ist der Erdball. Vor genau 100 Jahren hat Jacob Burckhardt in der Vorlesung, die seither unter dem Titel «Weltgeschichtliche Betrachtungen» berühmt geworden ist, gesagt: «Der Erwerbssinn, die Hauptkraft der jetzigen Kultur, ­postuliert eigentlich schon um des Verkehrs willen den Universalstaat, wogegen freilich in der Eigenart der einzelnen Völker und in ihrem Machtsinn auch ein starkes Gegengewicht tätig ist.» Seither gibt es die Raumforschung, aber nicht den Universalstaat, weil Eigenart und Machtstreben der Völker der Menschheit ihre politische Vielgestaltigkeit und daher auch ihre Spannungen und Konflikte bewahrt haben.
Der neutrale Staat ist derjenige, der sich so verhält, als ob er ein Teil eines Universalstaates wäre: denn er hat grundsätzlich keine Feinde, er muss trachten, mit jedermann im Frieden zu leben. Diese Haltung erheischt Geduld, viel guten Willen, Selbstbeherrschung und absolute Loyalität. Man muss nach der englischen Regel verfahren, wonach man seinen Nächsten solange als Gentleman betrachtet, bis er das Gegenteil beweist. Und selbst dann können wir nie aus enttäuschtem Vertrauen zur Gewalt greifen, weil uns dazu die Macht fehlt und ein Kleinstaat es sich nicht erlauben kann, eine Politik der Stärke zu machen, es sei denn aus Notwehr. Aber falsch wäre es, zu denken oder zu fürchten, diese Kleinheit und Machtlosigkeit könnten verhindern, dass wir uns von neuem Ansehen verschaffen. Der Schweizer hat zweifellos ein empfindliches Estimationsbedürfnis und wünscht Anerkennung; die Schwierigkeit besteht nur darin, sie nicht durch falsches, sondern durch richtiges Verhalten zu erwerben.    •

Auszug aus: J. R. von Salis. «Aussenpolitische Standortbestimmung» (1968); in: J. R. von Salis. Schwierige Schweiz, Beiträge zu einigen Gegenwartsfragen. Zürich 1968, S. 330–333

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