Die Bedeutung der direkten Demokratie für die Sicherung des sozialen Friedens (Teil 2)

Die Bedeutung der direkten Demokratie für die Sicherung des sozialen Friedens (Teil 2)

Wirtschaftsverfassung und direkte Demokratie

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Im Teil 1 dieser Artikelfolge wurde aufgezeigt, wie zahlreiche Volksabstimmungen und Volksinitiativen in der schweren Zeit des Ersten Weltkrieges und den Jahren danach wesentlich dazu beigetragen haben, den sozialen Frieden in der Schweiz zu sichern und die politisch und wirtschaftlich schwierige Zeit zu bewältigen. Nur wenige Jahre später – in den 1930er Jahren – steckte ­Europa erneut in einer grossen Krise. Die Weltwirtschaft war aus den Fugen geraten. Hohe Arbeitslosigkeit und soziale Not plagten die Bevölkerung in vielen Ländern. Niemand wusste einen Ausweg. Mancherorts – vor allem in Deutschland – war die Wirtschaftsdepression der Boden für politische Umwälzungen.

In der Schweiz kam es zu intensivsten politischen Auseinandersetzungen. Hat das liberale Wirtschaftskonzept der Schweiz noch Zukunft, war die zentrale Frage, oder muss die Wirtschaft von Grund auf neu eingerichtet werden. Muss die liberale Wirtschaftsverfassung über Bord geworfen und durch etwas Krisentaugliches ersetzt werden? Hochbrisante Fragen wie diese bestimmten das politische Leben, und es bestand Gefahr, dass das Land instabil werden könnte. In keiner Zeit waren die wirtschafts- und ordnungspolitischen Gegensätze so gross und die politischen Auseinandersetzungen so hart. Wiederum kam es zu zahlreichen Volksabstimmungen und Volksinitiativen. Insgesamt zehn Volksinitiativen beanspruchten, eine Antwort oder einen Beitrag zur Lösung der Krise zu haben. Während in andern Ländern sich die politischen Gegner Strassenschlachten lieferten oder in Bürgerkriegen gegenüberstanden, wurden in der Schweiz Unterschriften gesammelt. Die Brisanz der Vorlagen zeigt sich auch in der Unterschriftenzahl. Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften zum Beispiel sammelten 567 188 Unterschriften für ihre Krisen-Initiative, die 1935 zur Abstimmung kam – elfmal mehr als in der Verfassung verlangt. Die Tage der liberalen Wirtschaftsverfassung schienen gezählt.
Wie war es möglich, dass es in dieser angespannten Situation zu keiner politischen Umwälzung kam und der soziale Friede gewahrt blieb? Wie war es möglich, dass extreme Parteien keine Chancen hatten? Diesen Fragen soll hier nachgegangen werden.

Die Wirtschaftsverfassung von 1874

Um die Ereignisse dieser Jahre zu verstehen, müssen wir als Ausgangslage und als Vorgeschichte die Wirtschaftsverfassung in der Bundesverfassung der Schweiz von 1874 betrachten, die in den Debatten zentral war und in der Krise von den verschiedenen politischen Lagern wieder und immer wieder angegriffen oder verteidigt wurde.
Die Wirtschaftsverfassung in der Bundesverfassung von 1874 war liberal. Sie enthielt in ihrem Kern drei zentrale Elemente:
1.    Die Wirtschaftsfreiheit als naturrechtlich begründetes Freiheitsrecht des Bürgers
2.    Die Wirtschaftsfreiheit als Grundsatz, das heisst als Leitidee für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung
3.    Die direkte Demokratie – als Entscheidungsverfahren, um den rechtlichen Rahmen und die Regeln für ein geordnetes Wirtschaftsleben festzulegen. Die Verfassungsgeber waren von der Überzeugung geleitet, dass das Volk wichtige Eckpunkte direkt bestimmen und die Weichen für die Weiterentwicklung selber stellen soll. Damit sollte der soziale Frieden gewahrt werden und die Wirtschaft am besten gedeihen.  
Diese ungewöhnliche Verfassung hat eine Vorgeschichte. Sie ist es wert, erforscht zu werden.
Der Verfassungsgeschichtler Alfred Kölz kommt in seinem epochalen Werk «Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte» von 2004 zum Schluss, dass die Schweiz gemäss der BV von 1874 weltweit das einzige Land war, das die Wirtschaftsfreiheit als naturrechtlich begründetes Grundrecht in die Verfassung aufgenommen hat, weil sie zur menschlichen Existenz gehört und sich aus dem natürlichen Recht des Menschen auf seine individuelle Freiheit ableitet: Dazu Kölz: «Die Schweiz war und ist das einzige Land der Welt, welches die Wirtschaftsfreiheit als Freiheitsrecht anerkennt.» (S. 870) Wer sich für die Entstehungsgeschichte dieser aussergewöhnlichen Rechtsauffassung interessiert, muss in den Büchern weit zurückblättern.

Die Thurgauer Verfassung als Beispiel in der Regenerationszeit

Im Jahr 1830 sass Thomas Bornhauser, Pfarrer in der Thurgauer Gemeinde Matzingen, zusammen mit einigen Kollegen aus dem Kantonsparlament um den Tisch im Pfarrhaus. Sie hatten vom Parlament den Auftrag erhalten, für den Kanton eine neue Verfassung zu entwerfen, die die Ideen der Aufklärung und der Menschenrechte wieder aufleben lassen und sie deutlicher als bisher umsetzen sollte. Andere Politiker in anderen Kantonen hatten ähnliche Ziele. Diese Bewegung sollte als Regeneration in die Geschichte eingehen.
Thomas Bornhauser war sehr volksverbunden und setzte sich mit Herzblut für die neue Bewegung und für den Kanton Thurgau ein. Auf dem Tisch im Pfarrhaus zu Matzingen lagen die Eingaben von 130 Gemeinden und Berufsverbänden, die konkret ihre Wünsche für die neue Verfassung äusserten. Zuoberst auf ihrer Liste standen wirtschaftliche Reformen und die Garantie der wirtschaftlichen Freiheit, die einfach zur menschlichen Existenz gehöre. Manche der damaligen Wirtschaftsformen im Thurgau hatten ihre Wurzeln im Mittelalter. So gab es im Thurgau noch Feudalabgaben, die der neuen Zeit längst nicht mehr entsprachen. Verbreitet waren auch noch die sogenannten Ehehaften: Für die Errichtung von Mühlen, Bäckereien, Metzgereien, Schmieden, Ziegeleien, Gastwirtschaften und weiterer Betriebe musste bei den Behörden gegen Entgelt ein Patent eingeholt werden. Dieses wurde nur erteilt, wenn ein Bedürfnis bestand. Ein Konkurrenzbetrieb konnte so nicht eröffnet werden und ein Wettbewerb konnte nicht entstehen. Thomas Bornhauser betrachtete die Ehehaften als Privileg, das nicht mehr zeitgemäss war. Auch manche der bestehenden Handwerksordnungen – die industrielle Revolution hatte eben erst begonnen – galten nicht mehr als zeitgemäss.
Die Verfassung, die Thomas Bornhauser und seine Kollegen entwarfen und die am 14. April 1831 vom Thurgauer Volk mit grosser Mehrheit angenommen wurde, hatte unter anderem folgende Eckpunkte: «Das Volk regiert sich selbst durch von ihm gewählte Stellvertreter.» (Artikel 4) Die Staatsgewalt wird in eine gesetzgebende, vollziehende und in eine richterliche Gewalt aufgeteilt. (Art. 5) Die ganze Staatsverwaltung, insbesondere auch Gerichtsverhandlungen, sind öffentlich. (Art. 6) Der Staat ist verantwortlich und sorgt für ein gutes Schulwesen. (Art. 20) Der Verfassungsentwurf enthielt einen für damals erstaunlichen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten wie die Rechtsgleichheit, die Meinungsäusserungs- und die Religionsfreiheit:

«[…] Es bestehen sonach keine Vorrechte der Geburt, der Personen, der Familien, des Ortes, des Amtes und des Vermögens. Der Bürger ist einzig dem Gesetz unterthan, welches für alle dasselbe ist.» (Art. 9) Die Meinungsäusserungsfreiheit – in Wort und Schrift (Art. 11) ist garantiert, ebenso die Glaubens- und Gewissenfreiheit für christliche Konfessionen. (Art. 21) Diesem Katalog der Menschenrechte fügte Thomas Bornhauser die Wirtschaftsfreiheit hinzu – und in Ergänzung dazu den Schutz des Privateigentums:
«Alle Bürger des Kantons geniessen volle Arbeits-, Erwerbs- und Handelsfreiheit. Nur der Missbrauch dieser Freiheit ist durch weise Polizeigesetze zu verhüten. […].» (Art. 12) «Das Eigentum ist heilig. Es kann niemand gezwungen werden, sich seines Eigentums weder im Ganzen, noch theilweise zu begeben, ausser in dem Fall eines gesetzlichen anerkannten allgemeinen Bedürfnisses, und auch dann nur gegen gerechte Entschädigung.» (Art. 14)

Diese Verfassung vom 14. April 1831 war für ihre Zeit revolutionär. Im Ausdruck «weise Polizeigesetze», die die Handels- und Gewerbefreiheit einschränken, kommt etwas zum Ausdruck, das Thomas Bornhauser bereits vorausgeahnt hatte. Es würde nicht einfach werden, der Wirtschaftsfreiheit des Bürgers Grenzen zu setzen, so dass sie den verschiedenartigen Bedürfnissen und Interessen der Bürger gerecht werden und dem Gemeinwohl dienen. In den Jahren nach 1831 folgten weitere Kantone mit ähnlich liberalen Verfassungen. In städtischen Kantonen wie Zürich, Schaffhausen oder St. Gallen ging es vor allem darum, das strenge Regime der Zünfte zu lockern.

Entwicklung der direkten Demokratie in den Kantonen

In diesen Jahren waren auch die ersten Ansätze von direkter Demokratie auch in Kantonen zu beobachten, die die Landsgemeinde nicht kannten. Einige führten das sogenannte Vetorecht ein. (vgl. René Roca, «Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll …», Zürich 2012, ISBN 978-3-7255-6694-5). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten erhielt im Prinzip die Möglichkeit, zu einem neuen Gesetz des Parlamentes nein zu sagen. Daraus entwickelte sich in verschiedenen Kantonen das Referendum, das wie folgt funktioniert: Das Parlament beschliesst ein neues Gesetz und legt es dem Volk zur Beurteilung vor, das dazu ja oder nein sagen kann. Damit wurde das Volk wirklich zum Souverän – im eigentlichen Sinn des Wortes.
Die 1860er Jahre waren ein Jahrzehnt der «demokratischen Bewegungen», die in etlichen Kantonen das Referendumsrecht und auch das Initiativrecht zum Durchbruch brachten. Als Beispiel soll auch hier der Kanton Thurgau aufgeführt werden. So stand im Artikel 4 der Verfassung vom 28.2.1869:
Der Volksabstimmung […] unterliegen:
a    alle Gesetze und Konkordate
b    alle Grossratsbeschlüsse, welche eine neue einmalige Gesamtausgabe von wenigstens 50 000 Franken, oder eine jährlich wiederkehrende Verwendung von mehr als 10 000 Franken zur Folge haben; […]
    Die Abstimmung ist obligatorisch und geschieht durch geheime Stimmabgabe.
Die Kantonsverfassung des Thurgaus enthielt zusätzlich ein Vorschlagsrecht (Initiativrecht) des Volkes zur Abänderung von Gesetzen und der Verfassung. – Vor der Abstimmung gab der Verfassungsrat den Stimmbürgern folgendes Geleit: «Es ist nun an Euch selbst, werthe Mitbürger, ernst und gewissenhaft zu prüfen, ob Ihr in die eigene Kraft und Einsicht das genügende Vertrauen setzet, um die Zügel der Staatsleitung selbst in die Hand nehmen zu können.» (Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte, S. 186) Das Volk stimmte bei einer Beteiligung von 80 Prozent mit 64 Prozent Ja-Stimmen zu. – Diese und auch andere Kantonsverfassungen dieser Zeit waren wirklich revolutionär – und zwar ohne dass nur ein einziger Gewehrschuss abgefeuert wurde.

Die Handels- und Gewerbefreiheit muss mit der direkten Demokratie verbunden sein: der Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit

Der Verfassungsgrundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit von 1874 steht im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die ersten sozialistischen Bewegungen und Parteien traten auf. Frühsozialisten wie Saint Simon oder Charles Fourier veröffentlichten ihre Gedanken. Sie prangerten die sozialen Missstände an, die als Folge der industriellen Revolution in verschiedenen Ländern wie auch in der Schweiz auftraten und entwickelten Gegenmodelle zur wirtschaftlichen Freiheit aus Sicht der Fabrikbesitzer. Karl Marx und Friedrich Engels gingen noch einen Schritt weiter und publizierten 1848 das Kommunistische Manifest, in dem sie zum Klassenkampf aufriefen: «Proletarier aller Länder vereinigt euch», war ihr Schlachtruf, der die Welt noch erschüttern sollte. Marx zog nach London ins Exil und begann mit der Niederschrift seines Hauptwerks «Das Kapital», in dem er die liberale Marktwirtschaft analysierte und als untauglich verwarf. Das Buch sollte die Grundlage für künftige, meist gewalttätige Revolutionen sein.
Von besonderer Bedeutung für die Schweiz waren die Ereignisse in Paris nach der Februarrevolution von 1848. Die sozialistische Partei unter Führung von Louis Blanc gewann die Wahlen und zögerte nicht lange, ihre Vorstellungen von neuen Wirtschaftsformen in die Tat umzusetzen. Sie fügten in die Verfassung ein neues Menschenrecht ein: das Recht auf Arbeit. Sie setzten es um, indem sie in kurzer Zeit und in grosser Zahl staatliche Nationalwerkstätten mit hunderttausend neuen Arbeitsplätzen errichteten. Sie wollten damit «die Privatwirtschaft durch die Konkurrenz der Staatswirtschaft zurückdrängen». (Proudhon, Bekenntnisse eines Revolutionärs, S. 62) Das Wirtschaftsprojekt der Nationalwerkstätten beanspruchte jedoch grosse Teile der Steuergelder, die der Regierung an anderen Orten fehlten. Zudem traten bald Mängel auf, die später auch in kommunistischen Ländern zu beobachten waren. Als Folge von Fehlplanungen wurden Produkte produziert, die bei den Konsumenten keinen Anklang fanden. Die politische Quittung kam prompt: Die Sozialisten verloren die nächsten Wahlen deutlich und Louis Blanc muss­te nach England fliehen. In Paris kam es zu schweren, politischen Unruhen mit mehreren Tausend Toten.
Die Ereignisse von Paris machten deutlich, dass die Bevormundung von Handel und Gewerbe und das Recht auf Arbeit in der Praxis nicht so leicht zu handhaben waren und ein erhebliches Konfliktpotential enthielten. Die Sozialisten hatten ihre weitreichenden Wirtschaftsexperimente zwar auf Grund eines Wahlerfolgs in die Wege geleitet, ohne das Volk zu fragen, ob es dies wirklich auch will. Eine Volksabstimmung hat mehr Legitimation als ein Wahlerfolg. Hier galt es zu lernen.
Die Ereignisse von Paris hatten Auswirkungen auf die Schweiz. 1856 verstärkte der Kanton Solothurn die Handels- und Gewerbefreiheit als Bürgerrecht, indem er ihr in der Verfassung einen politischen Rahmen zuordnete, den die Verfassungsgeber als Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit bezeichneten. Das heisst konkret: Gesetze oder staatliche Aktivitäten, die im Sinne des Gemeinwohls die Handels- und Gewerbefreiheit einschränken, müssen sich im Grundsatz, das heisst in der Leitidee an einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung orientieren. Es soll nicht möglich sein, dass das Parlament oder die Regierung mit übertriebenen Polizeigesetzen oder staatlichen Aktivitäten verschiedenster Art die Privatwirtschaft zurückdrängen, wie dies in Paris geschehen war. Das Solothurner Volk stimmte am 1. Juni 1856 der neuen Verfassung mit 78 Prozent Ja-Stimmen zu.

Die drei Säulen der Wirtschaftsverfassung von 1874

1874 flossen alle drei der oben geschilderten Elemente, die zuvor alle in zahlreichen Kantonsverfassungen erprobt wurden, in die Bundesverfassung von 1874 ein. Es sind dies:

  1. Die Handels- und Gewerbefreiheit als Grundrecht des Bürgers
  2. Der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit als Leitidee und Rahmen für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung und
  3. Die direkte Demokratie als Entscheidungsverfahren, mit dem das Volk der Handels- und Gewerbefreiheit einen konkreten Ordnungsrahmen gibt – und zwar in zweifacher Hinsicht:
    a) Sämtliche der «weisen Polizeigesetze» (um bei der Formulierung von Thomas Bornhauser zu bleiben), die den Ordnungsrahmen bilden und dem Gemeinwohl dienen, unterstehen dem fakultativen Referendum. Das heisst, mit 30 000 Unterschriften kann eine Volksabstimmung herbeigeführt werden.
    b) Falls ein politischer Vorstoss jedoch vom Verfassungsgrundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweicht, das heisst nicht in eine freiheitliche Wirtschaftsordnung passt, kommt es zu einer obligatorischen Verfassungsabstimmung. Anders formuliert: Regelungen, die vom Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit abweichen, sind zulässig – aber nur mit Zustimmung des Volkes und der Stände. Somit wären staatliche Nationalwerkstätten, wie sie die Sozialisten in Frankreich eingerichtet hatten, auch in der Schweiz möglich gewesen – aber nur mit Zustimmung des Volkes und der Stände. Nur so kann der soziale Frieden gesichert werden, war die Auffassung der Verfassungsgeber – wahrlich eine «weise» Lösung, wie sie Thomas Bornhauser gefallen hätte. – Weiter gilt: Die Initiative für eine Verfassungsänderung kann in der Schweiz vom Parlament her kommen oder auch direkt vom Volk, falls interessierte Bürger (damals) 50 000 Unterschriften sammelten und entweder einen ausformulierten Vorschlag oder eine Anregung für eine Totalrevision der Verfassung einreichten.

Dieses einzigartige und einmalige Konzept der Wirtschaftsverfassung ermöglicht es dem Volk auch heute, den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft direkt mitzugestalten, weiterzuentwickeln und laufend den aktuellen Bedürfnissen anzupassen. Von den über 600 gesamtschweizerischen Volksabstimmungen, die seit 1874 bis heute stattgefunden haben (von denen ungefähr 200 über Volksinitiativen ausgelöst wurden) betrafen etwa hundert Abstimmungen Fragen der Wirtschaft und der Wirtschaftsordnung. Darin ging es um das Arbeitsverhältnis, Gesundheitsschutz, die wöchentliche Höchstarbeitszeit, Ferien, Mitbestimmung, Pensionskassen, Unfallversicherung, Mindestlohn, Berufsbildung, Managerlöhne und manches mehr. Es gab eine Vielzahl von Vorlagen zur Landwirtschaft. Es wurde abgestimmt über Themen der Krisenbewältigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Mieterschutz, Konjunkturpolitik und die Förderung einzelner Wirtschaftszweige. Abgestimmt wurde über aussenwirtschaftliche Themen wie zum Beispiel über den Freihandelsvertrag mit der EG von 1972. Abgestimmt wurde auch immer wieder über Fragen der Steuern, des Geldes, der Goldreserven und der Währungsverfassung. – Dabei ist bemerkenswert, dass weder im Bund noch in den Kantonen neue Steuern oder deren Erhöhung eingeführt werden können ohne obligatorische Volksabstimmung.
Eines muss hier noch hinzugefügt werden: Wenn man die Volksabstimmungen in den 2600 Gemeinden und in den 26 Kantonen miteinbezieht (wo zum Beispiel über die Einkommens- und Vermögenssteuern, Gewerbeordnung und Ladenschlussgesetze abstimmt wird), sind es wohl Zehntausende von Volksabstimmungen, die den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft der Schweiz im Grossen wie im Kleinen bestimmen und weiterentwickeln. Niemand hat sie gezählt.

Zahlreiche Wirtschaftsabstimmungen in den 1930er Jahren – ein wahrer Härtetest für die direkte Demokratie

In der Geschichte des Bundesstaates gab es eine Zeitspanne mit besonders vielen Wirtschaftsabstimmungen, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden. In den 1930er Jahren war die Weltwirtschaft aus den Fugen geraten. Vieles funktionierte nicht mehr. Grosse Länder wie die USA oder Deutschland hatten eine Arbeitslosigkeit von 20 und mehr Prozent. Hitler gelang es, diese Situation auszunützen und die Macht zu erobern. Auch in der Schweiz waren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die soziale Not gross.
Es ist gut nachvollziehbar, dass sich die Bürger in dieser desolaten Situation Gedanken machten, ob die Wirtschaft nicht grundsätzlich neu organisiert und die liberale Wirtschaftsverfassung über Bord geworfen werden müsste. Wie oben bereits erwähnt, waren die politischen Gegensätze in keiner Zeit so gross und die wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen der verschiedenen politischen Lager von rechts bis links so verschieden. Liberale, Konservative, Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Freisinnige, Katholisch-Konservative, Bürgerliche, Arbeiter und Unternehmer, Kommunisten, Frontisten usw. – aus diesen Kreisen stammten in diesen Jahren zehn stark unterschiedliche Volksinitiativen, von denen manche das Wirtschaftsleben auf den Kopf und die Wirtschaftsverfassung auf einen neuen Boden stellen wollten. Zwei Initiativen hatten das Menschenrecht «Recht auf Arbeit» zum Thema, eine wollte staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme ermöglichen, eine andere mit einer staatlich gelenkten Wirtschaft die Krise bekämpfen, eine andere verfolgte ständestaatliche Ziele und wollte neben dem Parlament einen Wirtschaftsrat einrichten, der die Angelegenheiten der Wirtschaft regelt, wiederum eine andere wollte die Wirtschaft nach sozialistischen und mehr genossenschaftlichen Grundsätzen umbauen, etliche wollten die direkte Demokratie im Bereich der Wirtschaft stärken, für andere war sie ein Auslaufmodell, usw. – Kann man ein Land so überhaupt noch führen, musste sich der Bundesrat damals gefragt haben. – Ja, man kann. Während in den umliegenden Ländern sich die politischen Kontrahenten Strassenschlachten lieferten und mancherorts totalitäre Regime eingerichtet wurden, wurden in der Schweiz Unterschriften gesammelt – in allen politischen Lagern – und das nicht zu knapp. Es kam zu zahlreichen Volksabstimmungen, die zu einem wahren Härtetest für die direkte Demokratie und für die liberale Wirtschaftsverfassung wurden.
Würde die Schweiz in der angespannten Situation diesen Test bestehen und sich wieder auf einer gemeinsamen Linie finden? Würden der Zusammenhalt und der soziale Friede gewahrt bleiben? Dazu mehr in Teil 3 der Artikelfolge.     •

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