«Die Polytechnische Oberschule stellte eine Verbindung vom Lernen in der Schule zum Berufsleben her»

«Die Polytechnische Oberschule stellte eine Verbindung vom Lernen in der Schule zum Berufsleben her»

Ein Gespräch im Glasmuseum in Weisswasser

Zeit-Fragen: In vielen europäischen Ländern, auch in der Schweiz, herrscht seit längerem ein akuter Mangel an sogenannten MINT-Fachkräften, gemeint sind Fachkräfte mit dem Schwerpunkt Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Viele Schulabgänger trauen sich eine solche Ausbildung oder ein Studium in dieser Richtung nicht mehr zu, was wohl nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass ihnen die Grundlagen für diese Fächer in den Schulen nicht mehr ausreichend vermittelt werden. Für diese These spricht auch die grosse Zahl der Studienabbrecher. Kürzlich hat mir ein Unternehmer in Ilmenau gesagt: Deutschland bilde keine Ingenieure mehr aus, sondern nur noch MBA (Master of Business Administration), welche, oft ohne Fachkenntnisse, Betriebe auf Effizienz trimmen wollen, alles umkrempeln und sie dabei nicht selten ruinieren. Das war früher anders.
In der ehemaligen DDR wurde grosser Wert auf eine gute Ausbildung gelegt, vor allem auch in den technischen Berufen. Die dort ausgebildeten Fachkräfte waren jedenfalls im Westen sehr begehrt. Ich schlage vor, dass wir heute einmal über Schule und Ausbildung zur DDR-Zeit sprechen, mit einem besonderen Blick auf die Polytechnische Oberschule.

Gotthard Bläsche: Zunächst etwas zur aktuellen Situation. In Deutschland werden heute viel zu wenig Facharbeiter ausgebildet, und es gibt viel zu viele Studenten, die das Studium nicht durchziehen. Zurzeit bemüht sich bei uns die Handwerkskammer, diese Studien­abbrecher aufzufangen und ihnen eine Facharbeiterausbildung zu ermöglichen.

Christa Stolze: Ich muss sagen: Die besten Diplom-Ingenieure waren die, die vor dem Studium einen Beruf erlernt haben. Meine Lehrlinge, die zuerst ausgelernt haben und dann zum Studium gegangen sind, haben was gebracht, aber die, die nach dem Abi zuerst studiert haben und dann zu uns gekommen sind, mit denen konnte man nichts anfangen. Das ist meine Erfahrung aus der Industrie.

Hans Schäfer: Ich möchte das bestätigen. Ich kenne eine ganze Reihe von Glasingenieuren, die sich nach Abschluss unserer Fachschule für Glastechnik, nach der Wende drüben im Westen wiedergefunden haben. Sie wurden dort mit allem konfrontiert, was sich im Laufe der Jahre an Unterschieden angesammelt hatte. Und gerade, was die Bewährung in der Praxis betrifft, muss ich sagen: Da waren unsere Leute wesentlich besser als die Wessis. Sie brachten Fertigkeiten mit und waren auch Willens und im Stande, etwas durchzutragen und nach Lösungen zu suchen, wenn etwas kaputt war. Da haben die West-Kollegen grosse Augen gemacht.

Christa Stolze: Die haben sich hingesetzt und gewartet, bis das Ersatzteil und der Handwerker kam, der das reparierte. Die Bayern haben immer gesagt: Die Ossis sind gut, die können auch arbeiten, wenn etwas kaputt ist.
Das war für uns eben notwendig, denn wir hatten nichts. Wir haben doch jedes Stückchen Draht aufgehoben und die Nägel, die krumm waren, wieder grade gekloppt. Die Mangelwirtschaft hat die Menschen erfinderisch gemacht. Ich weiss nicht, wie Sie das sehen, Sie waren ja als Leiter des Beruflichen Schulungszentrums näher dran?

Gotthard Bläsche: Genau, das war der Tatsache geschuldet, das wir wenig hatten. Wir hatten schwierige Bedingungen, keinen Marshallplan, mussten hohe Reparationen an Russland zahlen und litten unter den Wirtschaftssanktionen des Westens.
Es ist natürlich immer subjektiv geprägt, was man beitragen kann, weil man ja eigene Erlebnisse und Erfahrungen hat, aber ich glaube, dass die Gesellschaft an verschiedenen Stellen recht selbstzufrieden geworden ist, also satt und ruhig, und sich nicht unbedingt anstrengen will. Ich habe das auch bei Schülern beobachtet oder bei unsern Studierenden in der Fachschule: Sie haben sich oft nur bis zu einem gewissen Grad bemüht, wenn Aufgaben gestellt waren. Am Einsatz bis zur Lösung fehlte es doch öfter. Und ich denke, dass darauf in der Erziehung und Bildung viel mehr Wert gelegt werden müsste. Gerade in den technischen Berufen ist das ja das A und O.
Technische Berufe sind kurioserweise nicht mehr so gefragt. Vor ein paar Jahren war in Krauschwitz ein Mittelschultag, an dem sich die Mittelschulen der Region präsentiert haben. Unsere Berufsschule, verschiedene Betriebe und Vertreter von Institutionen waren auch dort. Wir waren in einem grossen Raum zusammen mit einer Tischlerei untergebracht. Aber die Tischler hatten keinen Zulauf, obwohl das ein wunderschöner Beruf ist. Ich denke, das liegt daran, dass den jungen Leuten in der Schule zu wenige Kenntnisse über diesen und andere technische Berufe vermittelt werden.
Wir haben mit den Mittelschulen der Region – Krauschwitz, Schleife, Weisswasser – immer recht gute kooperative Beziehungen gehabt und für die höheren Klassen Projekttage durchgeführt, an denen die Schüler zu uns gekommen sind und wir ihnen gezeigt haben, wie zum Beispiel Elektrotechnik oder Tischlerei geht. Die Tischler haben mit den Schülern Dinge gemacht, bei denen plötzlich Mathematik interessant wurde und sie etwas ausrechnen ­mussten, sonst wäre das Stück nicht vollkommen geworden. Die Schüler waren hinterher ganz begeistert von dem, was sie gelernt hatten. Ich denke, so etwas wird zu wenig gemacht.
Es fehlt ja nicht nur an Ingenieuren, sondern wir haben auch viel zu wenig naturwissenschaftlich ausgebildete Lehrer. Es will keiner mehr Mathematik-, Physik- oder Chemielehrer werden. Es will auch in der beruflichen Bildung keiner mehr Lehrer für Metall- oder Elektrotechnik werden. Technik gilt häufig schon bei den Grundschullehrern als schwierig, und das hält die jungen Leute davon ab, in die Technik zu gehen.

Zeit-Fragen: Und das war früher anders?

Evelin Hubatsch: Bei uns gab es ja die Polytechnischen Oberschulen für alle Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse. Zum Gymnasium wechselte man anfänglich nach der achten und später nach der zehnten Klasse. Jede der polytechnischen Schulen hatte eine enge Verbindung zu einem oder mehreren Partnerbetrieben. Als polytechnische Fächer wurden von der ersten bis zur sechsten Klasse Schulgarten, Werken und Nadelarbeit unterrichtet. Ab der siebten bis zur zehnten Klasse gingen die Schüler einen Tag im Monat in den Partnerbetrieb, und dort ­mussten sie richtig mitarbeiten.
Ich war zum Beispiel in der Keulahütte in Krauschwitz. Das ist ja nicht grade eine Arbeit, bei der man einen weissen Kittel anzieht. Ich musste Formen für die Giesserei herstellen, also richtig mauern. Aber so hat man die Arbeit dieser Menschen, die dort Tag für Tag ihren Mann oder ihre Frau gestanden haben, schätzen gelernt und eine Beziehung zu dem Beruf bekommen. Bei manch einem hat sich dabei auch der Berufswunsch entwickelt.

Gotthard Bläsche: Die Einsätze in den Betrieben standen als Unterrichtsfächer auf dem Plan – als Produktive Arbeit (PA) und Einführung in die sozialistische Produktion (ESP) für die Theorie. In der Theorie hat man zum Beispiel technisches Zeichnen und dergleichen gelernt. Und im praktischen Teil hat man im Betrieb gefeilt und gebohrt und viele andere handwerklichen Fertigkeiten gelernt, die meinetwegen ein Schlosser oder Elektriker braucht.
Ich bin in einen Industriebetrieb gegangen, aber Kumpels von mir sind in die Landwirtschaft gekommen und haben dort ihren Unterrichtstag gemacht. Sie waren jede Woche vier Stunden in den Betrieben, und danach hatten sie meistens noch zwei oder drei Stunden Unterricht. Für PA und ESP gab es auch Noten im Zeugnis.
Dadurch, dass die jungen Leute Landwirtschaft, Industriebetriebe und was es so alles gab, kennengelernt haben, hatten sie eine reale Vorstellung davon, was sie in den Berufen erwartete.

Evelin Hubatsch: Bis zur vierten Klasse überwog in den Polytechnischen Oberstufen der Deutschunterricht, zehn bis vierzehn Stunden in der Woche. Nach dem gründlichen Erwerb der deutschen Sprache lag der Schwerpunkt auf den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften und Technik.

Hans Schäfer: Sprache und Denken gehören bei der Gattung Mensch auch eng zusammen. Jemand, der keine Sprache hat, kann auch nicht richtig denken, und das fehlt heute teilweise sogar dort, wo Sprache zum Beruf gehört.

Zeit-Fragen: Die Entwicklung im Westen, geht in eine ganz andere Richtung. Die OECD fordert zum Beispiel, dass immer mehr Akademiker ausgebildet werden, obwohl bekannt ist, dass die Länder mit den höchsten Abiturraten auch die höchsten Arbeitslosenzahlen haben. Unter dem Vorwand, die «Wissensgesellschaft» erfordere dies, wird das praktische Wissen immer mehr abgebaut.
Wenn ich Ihnen zuhöre, stellt sich mir die Frage, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, wenn man bei der Wende zusammengesessen wäre und überlegt hätte, was von beiden Schulsystemen erhaltenswert ist und wenn man das dann zusammengefügt hätte?

Gotthard Bläsche: Nach der Wende war prinzipiell alles verkehrt, was wir gemacht haben. Wir wurden nicht gefragt.
Was Sie zu den Theorien der OECD gesagt haben: Ich glaube, es wird immer praktisch orientierte Leute brauchen; die Welt ist nicht theoretisch. Es braucht viel handwerkliches Wissen. Die Anforderungen sind zwar anders geworden, weil andere Geräte und Dinge zur Verfügung stehen, die bedient werden müssen, aber es ist nach wie vor wichtig, allgemeingültige Sachen zu lernen, zu probieren und eins und eins zusammenrechnen zu können.
Ich habe festgestellt, dass bei jungen Leuten Orientierungslosigkeit oft zu Antriebslosigkeit führt. Wenn sie nicht wissen, was kommt, fehlt die Motivation. Generell denke ich aber, dass die jungen Leute heute nicht minder leistungsfähig sind als früher. Das hängt auch von der Schule ab. Ich denke mit grosser Hochachtung an einige Schulen hier in der Umgebung, die Grossartiges leisten und die Schüler ordentlich beschulen. Nur bilde ich mir ein, dass oft der Zusammenhang fehlt, dass die Schüler nicht wissen, was sie mit dem Gelernten anfangen können und wie sie es verknüpfen können. Sie wissen oft nicht, was ihnen das bringt. Dieser Zusammenhang fehlt häufig.
In der Polytechnischen Oberschule war der Effekt der, dass die jungen Leute in der Schule was gelernt haben, zum Beispiel in der Mathematik, dann sind sie in den Betrieb gekommen und haben gemerkt: Ich muss ja rechnen können, wenn ich das lösen will. Dadurch gab es eine Verbindung vom Lernen in der Schule zum Berufsleben.     •

Am Gespräch nahmen teil: Evelin Hubatsch, ehemalige Geschäftsführerin der Lausitzer Glaswerke GmbH, Christa Stolz, ehemalige Leiterin der Dekoration im Porzellanwerk Weisswasser, Gotthard Bläsche, bis 2013 Leiter des Beruflichen Schulzentrums in Weisswasser, Hans Schäfer, ehemaliger Dozent an der Glasfachschule Weisswasser, ebenso Jochen Exner, zweiter Vorsitzender des Fördervereins «Glasmuseum Weisswasser», und Dieter Sprock für Zeit-Fragen.

Station Junger Naturforscher und Techniker Weisswasser

ds. Die Station Junger Naturforscher und Techniker engagiert sich in der ausserschulischen Jugendbildung. Mit naturwissenschaftlich-technischen Angeboten und Angeboten im künstlerisch-kreativen Bereich unterstützt sie die Berufsfindung der Jugendlichen, eine wichtige Arbeit, die in den Schulen vielfach zu kurz kommt. Bei einem Besuch erklärt Bernd Frommelt, der Leiter der Station: «Wir hatten in der DDR ja den Unterrichtsbereich Produktive Arbeit, der nach der Wende abgeschafft wurde. Auch wenn uns als Kinder und Jugendliche die Arbeit nicht immer Spass gemacht hat, konnte man doch verschiedene Berufe kennenlernen und auch sehen, was einem vielleicht nicht liegt. Hier bei uns haben die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, verschiedenes auszuprobieren, mit Holz, mit Metall und anderen Werkstoffen, in der Elektronik oder in der Natur. Sie haben die Möglichkeit zu erkennen: Bin ich geduldig genug durchzuhalten – ein Jahr lang jede Woche –, nach einem Bauplan zum Beispiel ein Schiffsmodell zu bauen, das ich dann zu Wasser lassen kann. Oder interessiere ich mich mehr für die Natur, oder die Elektronik? Wir haben ein Digitaltechnik-Camp mit guten Fachleuten für besonders Interessierte, die vielleicht die Ingenieure der Zukunft sind.»
Im letzten Jahr hatte die Station ein Projekt «Alte Obstsorten». Dahinter stand die Idee, alte Obstsorten wiederzuentdecken. «Durch den fortschreitenden Braunkohle-Tagebau und die Uniformierung der Produkte – jeder Apfel muss gleich gross sein und darf keine Flecken haben – sind viele alte Sorten verschwunden und fast schon ausgestorben», sagt Bernd Frommelt. Die Station arbeitet mit einer Spezialistin zusammen, die mit den Kindern in die Gegenden geht, wo der Tagebau sich voranfrisst. Sie holen dort Zweige von alten Apfelsorten, bevor die Dörfer abgeräumt werden.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK