«Europa braucht eine neue Grundlage. Eine Grundlage, die nach vorne schaut. Der einfache Rückgriff auf die Zeit vor der EU ist keine Perspektive. Niemand kann ernsthaft in die Zeit vor 1945 zurückwollen. Warum nicht an einer ‹Charta für Europa› arbeiten – ähnlich der Charta der Vereinten Nationen? Den institutionellen Rahmen könnte ein neu verfasster Europarat bilden. Die ‹Charta von Paris› vom November 1990, nach dem Ende des ersten Kalten Krieges formuliert, böte gute inhaltliche Anknüpfungspunkte.»
Am 23. Juni stimmen die Briten darüber ab, ob ihr Land in der EU verbleibt oder austritt. Für den EU-Austritt hat sich das Kürzel «Brexit» eingebürgert. Dem begegnen die Gegner mit einem fast manichäischen EU-Bild.
Interessant dabei ist, dass diese Brexit-Gegner in den vergangenen Wochen alles aufgeboten haben, was Rang und Namen hat – in der Welt der «Eliten». Nachdem sich zuerst Prominenz wie US-Präsident Obama und IWF-Direktorin Lagarde gegen einen Brexit ausgesprochen und ein Reich der wirtschaftlichen Finsternis für ein Grossbritannien ausserhalb der EU an die Wand gemalt haben, tun sich jetzt auch «Wissenschaftler» hervor. Zum Beispiel Stephen Hawking. Sein «Argument»: «Die Zeiten sind vorbei, in denen wir noch alleine gegen die Welt bestehen können. Wir müssen Teil einer grösseren Gruppe von Nationen sein, sowohl für unsere Sicherheit als auch für unseren Handel.»
Auch mehr als 300 «Historiker» des Landes haben sich mit einem kurzen Text über die Zeitung «The Guardian» an die Öffentlichkeit gewandt, woraufhin deren «Sprecher» ein paar Tage später in den Amtssitz des britischen Finanzministers (Schatzkanzlers) eingeladen wurden, um dort vorzutragen. Die 300 «Historiker» nennen sich «Historians for Britain in Europe» und stellen sich gegen die «Historians for Britain», die einen EU-Austritt beziehungsweise Neuverhandlungen mit der EU fordern. Die «Historiker» für Grossbritannien in der EU behaupten, mit einem Verbleib in der EU werde «der Zusammenhalt unseres Kontinents in einer gefährlichen Welt» gestärkt. Die Geschichte lehre, «dass Britanniens Zukunft in Europa liege». Das Land sei stärker, wenn «wir nach aussen blicken und uns in der Welt engagieren». Ein EU-Austritt bedeute hingegen «Isolation», und die sei nicht «splendid» – eine Anspielung auf den Begriff Splendid isolation, mit dem die Weltmachtpolitik Grossbritanniens vor dem Ersten Weltkrieg charakterisiert wurde.
Nun fragt man sich allerdings, was die Behauptungen von Stephen Hawking oder der britischen «Historiker» mit der real existierenden EU und der Mitgliedschaft darin zu tun haben sollen. Haben diese «Gelehrten» vergessen, dass die EU nicht mit Europa gleichzusetzen ist? Haben diese «Historiker» einmal gründlich darüber nachgedacht, dass diese Kopfgeburt eines supranationalen Behörden- und Machtapparates, die sich heute EU nennt, mit ständigen Übergriffen auf souveräne Staaten, all dem widerspricht, was man als Lehren aus der europäischen Geschichte bezeichnen kann: das unbedingte Streben nach Freiheit, Recht und Demokratie und nach einem Leben in politischen Gemeinschaften, die dem entsprechen können – also souveränen freiheitlichen und demokratischen Rechts- und Nationalstaaten?
Kein ernstzunehmender Gegner der EU hat etwas gegen eine gleichberechtigte und friedliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten und auch nichts gegen eine Zusammenarbeit aller Staaten der Welt und damit einhergehende vertragliche Vereinbarungen souveräner Vertragspartner. Die Charta der Vereinten Nationen hat dafür die bis heute guten Grundlagen geschaffen, auch wenn sich manch ein mächtiger Staat leider nicht daran hält.
Die EU hingegen hat sich – von ihren Wurzeln in der Montanunion an – bewusst gegen Freiheit und Demokratie und statt dessen für den exekutiven Durchgriff von oben und für die penetrante Kontrolle souveräner Staaten und Völker entschieden – und dies nicht, weil die Völker Europas dies wollten, sondern weil West-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auf Dauer eingebunden und der Teil Europas, der nicht zum Einflussbereich der Sowjetunion gehörte, in den Griff genommen und als Bollwerk im Kalten Krieg aufgebaut werden sollte. Treibende und dominierende Kraft dabei waren die USA. Alles andere ist Beschönigung und Geschichtsklitterung. Die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU waren faktisch noch nie die «Herren der Verträge». In dieser Zeitung und in vielen Aufsätzen und Büchern wurde dies belegt. Und heute sollen die 28 Staaten der EU erneut in einem kalten und vielleicht sogar heissen Krieg gegen Russland in Stellung gebracht werden.
Manchmal ist man richtiggehend erstaunt darüber, für wie dumm wir Bürger verkauft werden sollen. Und noch mehr erstaunt ist man darüber, wer sich alles dafür hergibt, bei diesen Verdummungsversuchen mitzuwirken – zum Beispiel mehr als 300 britische «Historiker».
Richtig ist, dass Europa kein Kontinent isolierter Staaten sein darf, die vor allem die Konkurrenz und das Gegeneinander kennen. Aber wie sieht es denn in der real existierenden EU aus? Haben nicht die mit dem Binnenmarkt und dem Vertrag von Lissabon vorgeschriebenen neoliberalen Grundsätze sowie der Euro aus EU-Europa eine Versammlung von Staaten mit dem Ellenbogen-Prinzip gemacht, die dann – wie vormals Österreich und derzeit Griechenland – kollektiv diszipliniert werden, wenn sie eigene Wege gehen wollen? Ist es nicht diese real existierende EU, die immer mehr Menschen in Europa dazu bringt, nach Alternativen zu suchen? Nicht, weil man sich von Europa und der Welt isolieren, sondern weil man endlich in Freiheit und Demokratie leben will – gleichberechtigt und in Frieden mit allen anderen Völkern des Kontinents und der Welt!
Europa braucht eine neue Grundlage. Eine Grundlage, die nach vorne schaut. Der einfache Rückgriff auf die Zeit vor der EU ist keine Perspektive. Niemand kann ernsthaft in die Zeit vor 1945 zurückwollen. Warum nicht an einer «Charta für Europa» arbeiten – ähnlich der Charta der Vereinten Nationen? Den institutionellen Rahmen könnte ein neu verfasster Europarat bilden. Die «Charta von Paris» vom November 1990, nach dem Ende des ersten Kalten Krieges formuliert, böte gute inhaltliche Anknüpfungspunkte. Angereichert werden müsste sie mit dem Blick auf die kulturellen Traditionen des Kontinents. Die USA haben hier kein Wort mitzureden. Aber in Europa darf niemand ausgeschlossen werden.
Die gängige Behauptung, die EU sei die einzig mögliche Form einer Ordnung Europas, ansonsten drohten Niedergang und Krieg, ist absurd und erinnert an längst vergangene Zeiten, in denen es vor allem um eines ging: den Machterhalt. So versuchte der deutsche Philosoph des Barockzeitalters Gottfried Wilhelm Leibnitz seine Welt absolutistischer Herrschaft trotz aller sichtbaren Übel als die beste aller möglichen Welten darzustellen. Wird heute nicht von unseren tonangebenden Politikern ähnlich über die EU gesprochen – als beste aller Welten in Europa? Aber war es wirklich so, dass die Welt des Absolutismus in der Zeit von Leibnitz «alternativlos» war? Sicher ist: Die heutige EU ist keineswegs alternativlos. •
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