Für eine vernünftige Beziehung zwischen Nato und Russland

Für eine vernünftige Beziehung zwischen Nato und Russland

von Dario Rivolta*

Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Freund, der bei einem gewissen, nicht unbedingt transparenten Amt arbeitet, über einen -Politiker, den ich als absolut gradlinige Person kannte. «Wenn ein Geheimdienst eine Person festnageln will», sagte er mir, «muss es nicht sein, dass dieser kriminelle Taten begangen hat. Zeugen, die gegen ihn aussagen, werden gekauft, oder man erpresst sie, und Beweise kann man herstellen.»

Kriegsentscheide werden herbeigelogen

Mir sind sodann die «Beweise» in den Sinn gekommen, die an einer Uno-Sitzung vom damaligen Staatssekretär Colin Powell in theatralischer Weise vorgetragen wurden, um nachzuweisen, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze und sich anschicke, sie einzusetzen. Monate nach dem Sturz des Diktators hat man entdeckt, dass es professionell gelogen war. Auf Grund dieser Lügen hatte aber die erschrockene Öffentlichkeit des Westens in der Zwischenzeit die Kriegsentscheide ihrer Regierungen unterstützt. Etwas Ähnliches ereignete sich bereits beim Krieg gegen Serbien. Europäische und amerikanische Zeitungen waren voll von Luftaufnahmen mit angeblichen Massengräbern, in denen die Serben Hunderte von armen, wehrlosen Kosovaren verscharrt hätten. Auch in diesem Fall hat sich das Ganze als eine Zeitungsente herausgestellt, aber erst nach Ende des Konflikts. Die Gerichtsmediziner verschiedener Nationalitäten, die zu den entsprechenden Stellen geschickt wurden, um die begangenen Delikte nachzuweisen, mussten in ihren Rapporten schreiben, dass fast alle «Gruben» nur aus bewegter Erde bestanden haben und dass keine Leichen gefunden worden sind. Nur in wenigen von ihnen befanden sich menschliche Körper. Die Mediziner fügten an, dass es nicht möglich war festzustellen, ob es wirklich Kosovaren waren oder eher Serben, und dass ihr Tod sehr wahrscheinlich auf die Zeit nach dem Beginn der Bombardierungen zurückzuführen ist.

«Lügenpropaganda ist ein wichtiger Faktor in der internationalen Politik»

Ob es uns gefällt oder nicht, die Lügenpropaganda ist ein wichtiger Faktor in der internationalen Politik, und je hinterlistiger sie ist, desto effizienter ist sie. Um die öffentliche Meinung gegen die Interessen eines möglichen Feindes zu eigenen Gunsten zu mobilisieren, muss man ihn als aggressiv, böse und so weiter darstellen. Diese Art von Propaganda, von der man in allen Epochen Gebrauch gemacht hat, wirkt heute dank den Massenkommunikationsmitteln vervielfacht. Sie wird oft dazu gebraucht, die eigenen Interessen zu verbergen oder «befreundete» Länder zu überzeugen, dass deren Interessen in Gefahr sind.

Feindbild Russland

Wenn ich in der Presse lese oder einen Politiker sprechen höre, welche Gefahr das heutige Russland für Europa bedeutet, habe ich den Verdacht, gerade vor einer solchen oben beschriebenen Propaganda zu stehen: Putin ist daran, die Länder des früheren Warschauer Paktes zu besetzen? Der Angriff gegen die Ukraine und die «Besetzung» der Krim waren nur ein Probelauf? Haben wir es mit einem skrupellosen, machtgierigen Diktator zu tun? Ist die Nato (inklusive Erdogan) noch das einzige Bollwerk der Demokratie zum Schutz der «freien Welt»?

Nato und Russland verstärken Militärmanöver

Sicher ist, dass die Nato und Russland gegenwärtig die Militärmanöver beidseits der Grenzen verstärken. Sie erhöhen damit in besorgniserregender Weise die Gelegenheiten «naher Begegnungen» mit der Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Es ist aber nicht klar, ob es die Ausweitung der Nato und die entsprechenden Manöver sind, die eine Reaktion der Russen nach sich ziehen, oder ob umgekehrt, die «Provokationen» aus Moskau die Nato nötigen, das Land präventiv «einzukreisen».

Neue Nato-Stützpunkte in Rumänien und Polen

Am 12. Mai wurde in Deveselu, Rumänien, ein neuer amerikanischer Flugkörperstützpunkt mit dem deklarierten Ziel der Verteidigung Europas vor möglichen Angriffen durch iranische ballistische Flugkörper eingeweiht. Einen Tag später wurden in Polen die Arbeiten für den Bau eines ähnlichen Stützpunktes in Angriff genommen, der bis Ende 2018 fertiggestellt werden soll. «Schade», dass die Flugkörper aus Teheran nach Aussage von westlichen Experten über eine Reichweite von unter 2000 Kilometern verfügen und somit kein einziges europäisches Land erreichen können, auch wenn sie es noch so gerne möchten. Nebenbei bemerkt, befinden sich die Kommandostandorte für «unsere» Flugkörper nicht auf Nato-Stützpunkten, sondern in Ramstein, einem rein amerikanischen Stützpunkt in Deutschland. In der Zwischenzeit wird vermeldet, dass fünftausend Tonnen Munition in 415 Containern nach Deutschland geschickt werden, zusammen mit Dutzenden von Panzern für militärische Übungen in Georgien und im neutralen Moldawien. Als ob das nicht ausreichen würde, will der US-Verteidigungssekretär Carter vier neue Bataillone nach Osteuropa dislozieren, und am 7. Juni fanden in Polen Übungen statt, an denen 25 000 Soldaten teilnahmen. Wen wundert’s, wenn sich Moskau bedroht fühlt und mit Vergeltungsmassnahmen droht?

Abschreckungsszenarien

Der neue Kommandant der Atlantischen Allianz, ein gewisser Curtis Scaparrotti (italienischer Name, aber amerikanische Nationalität), behauptet, dass unser Feind ein «wiederaufstehendes Russland ist, das sich darum bemüht, als Weltmacht aufzutreten». Sogar Obama meint: «Wir sind für einen offenen Dialog und versuchen die Zusammenarbeit mit Russland, aber wir wollen auch sicher, vorbereitet und stark sein, und wir wollen Russland ermutigen (sic!), seine militärische Aktivität in Übereinstimmung mit den internationalen Vereinbarungen zu halten.» Aber haben nicht gerade die USA den ABM-Vertrag (Vertrag gegen antiballistische Flugkörper) einseitig gekündigt, der 1987 von beiden Seiten unterschrieben worden war? Nato-Generalsekretär Stoltenberg fügt an, dass wir vor der russischen Bedrohung «… schon heute abend kampfbereit sein werden, wenn die Abschreckung scheitern sollte …». Leider wendet auch Moskau seine «Abschreckung» an und antwortet mit Manövern in Grenznähe und mit der Verlegung neuer Flugkörper in die Enklave Kaliningrad.

Natürlich hoffen wir alle, dass es sich nur um Abschreckung handelt, wenn amerikanische Kriegsschiffe ins Baltische Meer geschickt werden und sich dann die USA darüber beklagen, dass russische Flugzeuge in «gefährlicher Nähe» vorbeifliegen. Wir befinden uns von Abschreckungsszenario zu Abschreckungsszenario in einer Eskalation von Rüstung und gegenseitigen Provokationen, die wir der Vergangenheit zugehörig glaubten.

Wenn es jedenfalls nur «einfache» Warnungen sind, wie lange wird es so weitergehen? Sind wir wirklich sicher, dass mit dem ganzen Aufwand an Kräften und Beschuldigungen nicht irgendein Unglück passieren kann, für das dann jede Seite der anderen die Verantwortung zuschiebt? Mit welchen Folgen?

«Stellt Moskau heute wirklich eine Gefahr für die Sicherheit Europas dar?»

Ich bin kein Pazifist um jeden Preis und bin es noch nie gewesen. Ich weiss allerdings, dass es, um einen Krieg oder auch nur Anfeindungen zwischen Staaten zu rechtfertigen, wirkliche und verständliche Gründe geben muss. Was sind die wahren Gründe der Auseinandersetzung, abgesehen von der von beiden Seiten grossangelegten Propaganda? Ist Russland daran, wieder aufzustehen? Will es sich wieder als Weltmacht in Position bringen? Und? Welches Land möchte sich nicht aus einem wirtschaftlichen und politischen Tiefpunkt, in dem es steckt, erheben? Und erlaubt es die Grösse dieses Riesenlandes nicht, das reich an für uns sehr wichtigen Rohstoffen ist, eine angemessene Rolle auf der Welt zu beanspruchen und einzunehmen? Stellt Moskau heute wirklich eine Gefahr für die Sicherheit Europas dar?

Ausweitung der Nato ist kein freundschaftlicher Akt

Auch wenn die Russen sich Staaten des früheren Warschau-Paktes aneignen wollten, könnten sie es sich gar nicht leisten. Die interne Wirtschaftskrise, die Rückständigkeit der Infrastruktur und – allgemein gesehen – ihres Waffenarsenals erlaubt ihnen keinen Angriffskrieg gegen die Nato oder gegen irgendeinen seiner Mitgliedsstaaten. Im Gegenteil könnte Russland aber sehr gut einen Defensiv-Krieg führen: Das Territorium ist so gross und sein Volk so patriotisch, dass alle Versuche, Russ-land unterzukriegen, in den letzten zwei Jahrhunderten gescheitert sind. Ural und Kaukasus ausgenommen, ist Russland eine immense Ebene ohne natürliche Grenzen. Bereits Napoleon und Hitler haben sich in diesen Gebieten in kurzer Zeit verloren, und es ist verständlich, dass Moskau verlangt, dass die umliegenden Länder keine Gefahr für die eigene Sicherheit darstellen dürfen. Weil Russland nicht der militärischen Organisation Nato angehört, ist es logisch, dass die Ausweitung der Nato auf seine Nachbarländer von der russischen Regierung nicht als freundschaftlicher Akt interpretiert werden kann.

Charakter und gesunder Menschenverstand sind gefragt

Anstatt heute an mögliche Expansion zu denken, nützt den Russen die Konzentration auf ihre interne Entwicklung viel mehr – vielleicht auch dank unserem Know-how und unserer Zusammenarbeit – anstatt sich die Kosten und die Verantwortung aufzuladen, widerspenstige und in diesem Fall sicher auch feindselige Länder zu verwalten. Aussenminister Lawrow hat letzthin erklärt: «Ich wiederhole: Wir suchen keine Konfrontation, weder mit den USA noch mit der Europäischen Union, noch der Nato. Im Gegenteil, Russland ist offen für die grösstmögliche Kooperation mit den westlichen Partnern. Wir glauben weiterhin, dass die beste Möglichkeit zur Wahrung der Interessen der Völker des europäischen Kontinents die Bildung eines gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitären Raumes zwischen Atlantischem und Pazifischem Ozean ist. Die neu gegründete Eurasische Wirtschaftsunion könnte so als Brücke zwischen Europa und der pazifischen Region Asiens dienen».

Lügt er? Das wäre absurd, weil er genau das sagt, was vernünftigerweise den Interessen seines Landes entspricht.

Anstatt denen Recht zu geben, die unaufhörlich eine angebliche russische Gefahr heraufbeschwören, glaube ich lieber den Worten Henry Kissingers, des letzten grossen Experten der internationalen Politik, der die amerikanische Aussenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hat: «Russland müsste als Schlüsselelement für jegliches globale Gleichgewicht gesehen werden, anstatt als Gefahr für die USA.» Wenn das von jemandem gesagt wird, der die diplomatischen Beziehungen mit China wieder aufgenommen hat, um der Sowjetunion im Kalten Krieg entgegenzuwirken, kann man diesen sicher nicht verdächtigen, naiv zu sein oder «Absprachen mit dem Feind» getroffen zu haben.

Für uns Europäer wäre es an der Zeit, uns aus dem schädlichen Einfluss einiger nostalgischer Dr. Seltsams zurückzuziehen und uns mit Ernüchterung und Realitätssinn auf unsere wahren Interessen zu konzentrieren. Gibt es in Brüssel und vielleicht in Washington noch jemanden, der ein wenig über Charakter und gesunden Menschenverstand verfügt?                    •

(Übersetzung aus dem Italienischen Zeit-Fragen)

* Dario Rivolta ist Kolumnist für internationale politische Nachrichten und Aussenwirtschaftsberater. Er ist Politikwissenschafter mit Schwerpunkt Sozialpsychologie. Von 2001–2008 war er Abgeordneter des italienischen Parlaments. Dort war er Vizepräsident des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Er hat das italienische Parlament im Europarat sowie in der Versammlung der westeuropäischen Union vertreten. In dieser Zeit war er auch verantwortlich für die internationalen Beziehungen seiner Partei.

 

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