Der britische Souverän hat einen demokratischen Entscheid gefällt. Nun erwarten die interessierten Europäer eine sachliche Berichterstattung in den Medien. Statt dessen ziehen mehr als 90 Prozent der Medien – auch in der Schweiz – mit Unmut und düstersten Zukunftsprognosen über die 17 410 742 britischen Stimmbürger her, die für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben. In Bern tritt Bundespräsident Johann Schneider-Ammann mit ernster Miene vor die Medien und erklärt, für die Schweiz könnte der Austritt Grossbritanniens aus der EU negative Folgen haben, beispielsweise für den Konjunkturverlauf und den Frankenkurs – obwohl er gleichzeitig festhält: «Es ist aber müssig, darüber zu spekulieren, wie sich der britische Entscheid konkret auswirken wird.»1 – Recht hat er! Erinnern Sie sich an das Nein des Schweizervolkes zum EWR-Beitritt am 6. Dezember 1992? Damals wurden schlimmste Folgen bis hin zum Zusammenbruch der Schweizer Wirtschaft prophezeit – nichts davon ist eingetroffen, im Gegenteil: In den zehn Jahren bis zum Inkrafttreten der Bilateralen I mit der EU (1.6.2002) ging es der Schweiz und den Schweizern weiterhin sehr gut, ganz ohne Anbindung an den EU-Binnenmarkt.
Daran sollten wir diejenigen Schweizer ab und zu erinnern, welche allzu eifrig nach unbedingter Einigkeit mit der EU-Zentrale streben. Und den Briten ist zu wünschen, dass sie sich von den Unkenrufern nicht beeindrucken lassen, sondern ihren neuen Weg in Ruhe zu bahnen beginnen. Die Türen der EFTA – zu deren Gründungsmitgliedern Grossbritannien im Jahre 1960 gehörte und die es unter dem Druck des Grossen Bruders ennet dem Teich 1973 wieder verliess, um sich der EG anzuschliessen – stehen jedenfalls offen.
Zurück zur Medienkonferenz in Bern. In Wirklichkeit will Herr Schneider-Ammann mit seinen sorgenvollen Andeutungen auf etwas ganz anderes hinaus. Tatsache ist, dass es mit der Umsetzung der vom Schweizervolk beschlossenen Regelung der Zuwanderung nicht voran geht. Da kommt dem Bundesrat der britische Volksentscheid wie gerufen. Er benutzt ihn als Vorwand dafür, dass es diesen Sommer wahrscheinlich nicht zu einer einvernehmlichen Lösung mit Brüssel kommen wird. Er sei zwar «weiterhin sehr bestrebt, die laufenden Gespräche mit der Europäischen Union zur Umsetzung von Art. 121a Bundesverfassung fortzuführen». Aber es sei klar, «dass die Lösungssuche mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs nicht einfacher geworden ist».
Für den aufmerksamen Bürger bleibt allerdings im dunkeln, was die beiden Dinge miteinander zu tun haben. Unter den Zehntausenden von Verwaltungsangestellten und Diplomaten in Brüssel werden ja wohl trotzdem noch ein paar Leute Zeit für die Schweiz haben. Schneider-Ammanns Kollege Didier Burkhalter teilt übrigens dessen Ansicht nicht, sondern will jetzt den Prozess zur Lösung der Personenfreizügigkeitsfrage «zügig vorantreiben». Ob es gelingen könne, eine Einigung zu finden, lässt er offen, erinnert aber daran, dass die Schweiz «ein wichtiger Exportstaat für die Europäische Union ist».(«Neue Zürcher Zeitung» vom 25. Juni)
Gemäss dem Volksentscheid vom 9. Februar 2014 müsste das Gesetz, welches die Steuerung der Zuwanderung mit Höchstzahlen und Kontingenten sowie den Vorrang von in der Schweiz lebenden Arbeitnehmern bei der Stellenbewerbung regeln soll, innert drei Jahren in Kraft treten (also bis am 9. Februar 2017); das Freizügigkeitsabkommen (FZA) wäre danach mit der EU neu auszuhandeln, falls die EU mit der gesetzlichen Regelung der Schweiz nicht einverstanden ist.2
Nun, die bundesrätliche Botschaft an das Parlament mit dem Entwurf der notwendigen Änderungen des Ausländergesetzes – in enger Anlehnung an den Wortlaut des Verfassungsartikels – liegt seit dem 4. März 2016 vor. Aber ob Brüssel einer Schutzklausel mit von der Schweiz festzulegenden Kontingenten und Höchstzahlen für die Zuwanderung zustimmen wird (Plan A des Bundesrates), steht in den Sternen. Und Plan B, der einseitige Beschluss der Schutzklausel durch die Schweiz, ebenfalls. Denn die Parlamentsmehrheit blockt: Die Fraktionen der FDP, CVP und SP wollen keine Lösung, die im Widerspruch steht zum Freizügigkeitsabkommen mit der EU, das heisst, sie lehnen die wortgetreue Umsetzung von Artikel 121 a BV unverblümt ab (Quelle: «Neue Zürcher Zeitung» vom 25. Juni). Damit stellen sie das bilaterale Abkommen über die Bundesverfassung, beziehungsweise die Stimme Brüssels über die Urnenentscheide des eigenen Volkes.
Eine Steilvorlage für Brüssel. Kommt dazu, dass seit dem 9. Februar 2014 einzelne Bundesräte und deren Unterhändler fleissig zwischen Bern und Brüssel pendeln, um sich von der EU-Kommission deren Verdikt bestätigen zu lassen: «Die Freizügigkeit ist nicht verhandelbar.»
Stimmt nicht! Denn im Freizügigkeitsabkommen steht folgender Artikel:
«Wünscht eine Vertragspartei eine Revision dieses Abkommens, so unterbreitet sie dem Gemischten Ausschuss hierzu einen Vorschlag. Die Änderung dieses Abkommens tritt nach Abschluss der jeweiligen internen Verfahren in Kraft; […]»
Statt dieses vertraglich abgemachte Recht für die Schweiz in Anspruch zu nehmen, stellen sich unsere «Diener des Volkes» auf die Seite der Grossmacht in Brüssel. Schon klar, dass die EU-Unterhändler nicht entgegenkommender sind. Warum sollen sie, wenn die Vertragspartner sich schon im voraus jedem Räuspern aus Brüssel unterziehen? Mit einem Schweizer Verhandlungsführer vom Schlage Walter Stuckis (der sich gegen schwere Kaliber wie Nazideutschland in den dreissiger Jahren oder die Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg mit grossem Erfolg behauptete, weil für ihn die Interessen und Bedürfnisse der Schweiz an erster Stelle standen) wäre sicher in Brüssel mehr herauszuholen – gerade auch weil die Schweiz, wie Bundesrat Burkhalter richtig bemerkt hat, für die EU ein keineswegs zu vernachlässigender Handelspartner ist. •
1 Point de Presse – Brexit, Rede von Bundespräsident Johann Schneider-Ammann vom 24.6.2016
2 BV Artikel 121 a; 9. Übergangsbestimmung Art. 197 Ziff. 92 (neu) zu Art. 121a (Steuerung der Zuwanderung)
«Derzeit leben knapp 1,4 Millionen EU-Bürger in der Schweiz, während 2015 in der ganzen Union 15,3 Millionen EU-Bürger in einem anderen Mitgliedsland wohnten. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Bevölkerung der Schweiz mit 8 Millionen Einwohnern rund 60mal kleiner ist als jene der Union.»
Bundesrat Didier Burkhalter an der Delegiertenversammlung der FDP vom 25.6.2016, zitiert in Ostschweiz am Sonntag vom 26.6.2016
Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederholte am 24. Juni 2016 einmal mehr die Bedeutung der EU als «einzigartiger Wertegemeinschaft. Sie ist unser Garant für Frieden, Wohlstand und Stabilität».
Quelle: «Wiler Zeitung» vom 25.6.2016
Um einiges realistischer und materialistischer der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel vor wenigen Monaten: «Wo die ökonomische Basis brüchig wird, trägt eben auch der ideelle Überbau nicht mehr. Das Wohlstandsversprechen war es, das Europa für alle attraktiv gemacht und die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration immer wieder angetrieben hat.»
Sigmar Gabriel: «Zerfällt Europa? Die Zukunft einer grossen Idee» in: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 15.2.2016
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