Atomdesaster in Frankreich

Atomdesaster in Frankreich

Bemerkenswertes vor der Abstimmung über die Schweizer Atomausstiegsinitiative

von Dr.-Ing. Ernst Pauli

Es ist nur schwer in den Medien zu finden, aber eigentlich wäre es eine Schlagzeile wert: 21 von 58 französischen Kernreaktoren sind zurzeit ausser Betrieb.1 Ein Drittel der französischen Kernkraftwerke ist nicht am Netz und produziert keinen Strom. Kernkraftwerke gehen normalerweise einmal im Jahr vom Netz für Wartungsarbeiten, den Austausch von Brennstäben und eventuell auch für Nachrüstungen. Natürlich verteilt man die Wartungsfenster übers Jahr so, dass eine ausreichende Kapazität für die Stromerzeugung zur Verfügung steht. Die jetzigen Abschaltungen sind aber nicht geplant, sondern wurden von der Autorité de sûreté nucléaire (ASN), dem französischen Pendant zum Schweizer Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) als präventive Massnahme zum Schutz der Bevölkerung angeordnet.2 Einige Anlagen wurden direkt per Dekret aus dem Betrieb genommen, bei Anlagen in Wartung wurden zusätzliche Überprüfungen angeordnet, die die Wartung um Monate verlängern werden. Die nuklearen Anlagen in Frankreich produzieren heute so wenig Strom wie seit 18 Jahren nicht mehr. Dabei steigt der Strombedarf in der Winterzeit typischerweise stark an.
Der Mangel wird durch den Betrieb von fossilen Kraftwerken in Frankreich, vor allem aber durch Stromimporte aus Deutschland überwunden. Deutschland hat grosse Kraftwerkskapazitäten in Reserve und kann ausreichend viel Strom liefern. Die Lichter in Frankreich gehen also trotz der kritischen Menge der Kraftwerksabschaltungen nicht aus. Aber seit September sind die monatlichen durchschnittlichen Strompreise für «day ahead»-Geschäfte an der europäischen Strombörse (EPEX SPOT SE) in Paris um etwa das 2 ½fache auf 7,5 Euro-Cent pro kWh angestiegen.

Die ASN reagiert auf Sicherheitsmängel

Im französischen Kraftwerksneubau in Flamanville hat man in bereits eingebauten Teilen des Reaktordruckbehälters Anomalien in den verwendeten Stählen gefunden. Kohlenstoffgehalte sind höher als spezifiziert und können zur Versprödung von Bauteilen unter Druck und Temperatur führen. Die notwendige Bruchzähigkeit der Materialien wird nicht erreicht. Leckagen und freiwerdende Radioaktivität im Reaktorbetrieb sind nicht auszuschliessen. Im Zuge dieser ersten Untersuchungen und Erkenntnisse in Flamanville ergaben sich weitere Hinweise auf Unregelmässigkeiten und Manipulationen bei der Zertifizierung von Stählen für Reaktordruckbehälter und Dampferzeuger, die in den heute laufenden französischen Kernkraftwerken verbaut wurden. Am 25.10.2016 fand auf Grund der Befunde ein parlamentarisches Hearing statt, in dem die Unregelmässigkeiten in zahlreichen französischen Reaktoren benannt wurden.3 Die Untersuchungen wurden weiter ausgeweitet mit dem oben genannten Ergebnis. Nun werden die Produktions- und Qualitätsdokumente von 9000 im französischen Schmiedewerk Le Creusot und in anderen Schmiedewerken gefertigten Bauteilen überprüft.4 Erste Ergebnisse zeigen Abweichungen von vorgeschriebenen Spezifikationen der verwendeten Stähle bis hin zu manipulierten Qualitätsdokumenten. Man muss davon ausgehen, dass auch in den sechziger Jahren Bauteile der Schweizer Kernkraftwerke unter ähnlichen Umständen gefertigt wurden und die Qualität dieser Bauteile möglicherweise nicht gewährleistet ist.
Die ASN hat klare Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen gezogen. Hut ab vor den Beamten und Ingenieuren, die schmerzliche, aber klare Schlüsse aus dem bis jetzt Bekannten gezogen haben. Sie haben eine grosse Zahl von möglicherweise nicht sicheren Kernkraftwerken vom Netz genommen und haben umfangreiche Untersuchungen angeordnet.

Was bedeutet dies für die Schweiz?

Eine Woche vor der Abstimmung zur Atomausstiegsinitiative müsste eigentlich ein Aufschrei durch die Schweizer Medien gehen ob solcher Ereignisse. Nachdem in Beznau 1 schon überraschende Mängel gefunden worden sind, die nach Angaben der Axpo aus der Fertigung des Reaktordruckbehälters in den sechziger Jahren stammen, könnten auch weitere Schweizer Kernkraftwerke betroffen sein. Aber es bleibt bemerkenswert still. Es finden sich keine Meldungen zu diesem Thema in den Mainstream-Medien, und selbst ein eifriger mit dem Thema Kernkraft beschäftigter Internet-Rechercheur findet entsprechende Seiten und Mitteilungen nur zufällig. Im Zuge der kommenden Abstimmung zur Atomausstiegsinitiative sollte der Bürger doch erfahren, wie es um die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke und auch der französischen Kernkraftwerke steht. Fessenheim an der Grenze zur Schweiz lässt grüssen. Die neue Situation in Frankreich weist daraufhin, dass die oft angeführten Sicherheitsnachweise für die Kernkraftwerke einmal mehr Makulatur sind. Nach 30, 40 oder mehr Jahren entdeckt man plötzlich Materialfehler, Qualitätsmängel und Manipulationen. Auch das ENSI, sonst nach eigener Darstellung immer im engen Kontakt mit den Kollegen in anderen Ländern, hält sich in bezug auf die Situation in Frankreich eher bedeckt.
Die Probleme in Beznau 1 sind bekannt und haben dazu geführt, dass der Reaktor seit März 2015 vom Netz genommen ist. Sie erscheinen aber jetzt nochmals in einem anderen Licht. Mühleberg mit seinem behelfsmässig reparierten Kühlmantel wird von den Betreibern selber vom Netz genommen. Was ist an dieser Situation noch geordnet? Wenn die Schweizer Kernkraftwerke über den «geordneten» Atomausstieg hinaus vielleicht insgesamt 60 Jahre weiterbetrieben werden, dann ist man vor Überraschungen, wie sie sich jetzt in Frankreich ereignen, nicht sicher.

Argumente in der Abstimmungsdiskussion treffen nicht

In der öffentlichen Diskussion zum Atomausstieg, auch in den Abstimmungsunterlagen, wird unter anderem argumentiert, dass man die AKW nicht abstellen könne, weil sonst die Betreiber mit Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe auf den Bund zukommen könnten. Der Ersatz der Kernenergie durch «dreckigen Kohlestrom» würde die CO2-Bilanz verschlechtern. Die Umweltverschmutzung durch radioaktive Strahlung, die verheerenden Schäden bei der Gewinnung von Uran und das ungelöste Problem der Endlagerung sind kein Thema. Die grossen Risiken der Kernenergie, fehlende oder auf der Basis manipulierter Dokumente erstellte Sicherheitsnachweise werden wohlweislich verschwiegen. Es bleibt ein schaler Geschmack angesichts der politischen Diskussion über den Atomausstieg. Der Staat und seine Behörden haben eine Fürsorgepflicht für den Bürger wahrzunehmen, die angesichts der Risiken der Kernenergie und der nun bekannten Unterlassungen und Manipulationen und angesichts der dadurch entstehenden möglichen Gefährdung der Bevölkerung schwerer wiegt als irgendeine andere Überlegung.
Man könne die Stromproduktion der Schweizer Kernkraftwerke nicht schnell genug durch erneuerbare Energien ersetzen. Um die Stromlücke, wie sie in der Energiestrategie 2050 beschrieben ist, zu füllen, brauche man mehr Zeit als durch den «geordneten Ausstieg» vorgegeben. Aber zahlreiche, teilweise grosse Projekte zur Nutzung der Wasserkraft der Schweiz sind zurzeit aus ökonomischen Gründen auf Eis gelegt. Die zahlreichen Photovoltaik-Initiativen von Privatleuten warten auf Fördergelder. Eine Dynamik, eben diese Stromlücke möglichst schnell zu füllen, kommt nicht auf, sollte aber durch politische Vorgaben initiiert werden. Klare Abschalttermine und ein beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energien sind der einzige Weg, ein Atomdesaster wie in Frankreich zu vermeiden.     •

1    Internationale Ärzte für die Verhinderung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW). Fehlerhafte Stahlbauteile stürzen französische Atomindustrie in die Krise. 14.11.2016, www.ippnw.de
2    Buchsbaum, Lee. France's Nuclear Storm: Many Power Plants Down Due to Quality Concerns. 1.11.2016, www.powermag.com
3    Autorité de sûreté nucléaire (ASN). Hearing of the Parliamentary Office for the Evaluation of Scientific and Technological Choices on the anomalies and irregularities detected on nuclear pressure equipment. 3.11.2016, www.french-nuclear-safety.fr
4    De Beaupuy, François. Areva Said to Extend Probe of Le Creusot Forge Irregularities. 3.10.2016, www.bloomberg.com

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