Editorial

Editorial

Seit Monaten wird Europa mit der Flüchtlingsfrage in Atem gehalten. Was bisher an Lösungsansätzen dazu vorgelegt wurde, überzeugt nicht. Der Beitrag des Strategieexperten Professor Albert Stahel macht genauso wie derjenige Thierry Meyssans überdeutlich: Auf dem bisherigen Weg werden die Probleme nicht kleiner – im Gegenteil. Genauso deutlich wird auch: Wir müssen Lösungen entwickeln, und zwar bald, denn die ungelösten Konflikte in Europa, Westasien und Afrika haben das Potential zu einer grösseren Katastrophe.
Am allerwenigsten hilfreich ist dabei die medial befeuerte Polarisierung zwischen «Hardlinern» und «humanitär Eingestellten» – die Schubladisierung ist ohnehin falsch, sie ist politisch motiviert und dient einer bestimmten Politik, die den Namen humanitär niemals verdient: Eine Politik, die funktionierende Staaten – in denen die Menschen ein Auskommen fanden, sozial abgesichert waren und ihr Leben mit ihren Familien und Freunden planen konnten – mit dem Argument, man müsse die Menschen von ihren Diktatoren befreien, in die Steinzeit zurückbombt, ihre Infrastruktur dem Erdboden gleichmacht und in ein Chaos stürzt, das den idealen Nährboden für die ungestörte Ausbreitung terroristischer Gruppierungen bietet, ist einfach nur katastrophal.
Es ist auch nicht humanitär, wenn unzählige Opfer der Globalisierung in diesen Ländern nach Europa gerufen werden, um mit billigen Arbeitskräften die «Liberalisierung des Arbeitsmarktes» in Europa weiter voranzutreiben. Genauso wenig human ist es, wenn Europa – anstatt in unseren Ländern über eine vernünftige Bildungspolitik genügend gut ausgebildete Hochschulabgänger heranzubilden – solche Fachkräfte aus den geschundenen Ländern abzieht, die dort dringendst für den Wiederaufbau des Landes auf allen Ebenen gebraucht würden.
Auch die Doppelstandards hat die Welt allmählich mehr als satt: Die US-Nato-geführte Politik hat noch immer mit Diktatoren kollaboriert, wo und solange diese eigenen Interessen dienlich sind. Saudi-Arabiens Krieg gegen den Jemen ist dieser Politik keinerlei Aufschrei wert, auch die breite Unterdrückung der Medien und das erneute Vorgehen gegen die Kurden in der Türkei hindern Europa nicht, in der türkischen Regierung den Hauptverbündeten für die «Lösung» der Flüchtlingsfrage zu sehen.
Eine ehrliche humane Lösung müsste das Wohl der Menschen aller betroffenen Länder in den Blick nehmen. Dabei werden wir nicht darum herumkommen, die unter dem Label «Globalisierung» propagierte Wirtschafts­politik der Deregulierung, Liberalisierung und angeblichen «Marktöffnung» zu hinterfragen, deren Resultat nicht die Hebung des weltweiten Wohlstandes ist, sondern eine zunehmende Wohlstandsschere, in der einige wenige ihren Reichtum geradezu obszön vermehren, während die Jugend vieler Länder ohne Perspektive auf Ausbildung, Arbeit und damit Integration in die Gesellschaft und damit auch ohne Grundlage für ein eigenes selbstbestimmtes Leben dasteht. Dass junge Menschen ihre Heimat, ihre Familie und Freunde verlassen, sich mit dem letzten Besitz den Weg in andere Länder erkaufen, in der Hoffnung, dort eine Perspektive zu finden, ist nachvollziehbar. Dass Europa es nicht schaffen wird, ihnen allen zu einem würdigen Leben in Europa zu verhelfen, allerdings auch.
Humaner wäre es, sich Gedanken zu machen, wie in diesen Ländern eine reelle Chance auf wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen wäre – ein Ansatz, den die OSZE zu Beginn der 1990er Jahre schon hatte, weil gewisse Entwicklungen damals schon absehbar waren. Die USA hatten das abgewürgt – so die Aussage eines deutschen Politikers, der den Vorgang in der OSZE miterlebte. Europa hat doch anderes zu bieten als die heutige Vorstellung von Chaos und Selbstaufgabe im Bereich von Recht, Selbstbestimmung und sozialem Ausgleich. Europa hätte wirklich anderes zu bieten, anstatt seine kulturelle, ­politische und rechtliche Substanz Hasardeuren preiszugeben.
Oder wem dient eine Politik, die unter dem Scheinargument der Humanität die Schleusen für terroristische Netzwerke öffnet? Dass Menschenströme und Visa-Erleichterungen nicht nur arbeitswilligen jungen Menschen, sondern auch terrorbereiten Gruppierungen dienen, ist eine Sorge aller europäischen Grenzwachtkorps, Polizeieinheiten und Nachrichtendienste. Cui bono?
Mit der schleichenden Abschaffung des europäischen Rechtsstaates und seines Sozialgefüges ist niemandem gedient: Recht ist – wo es auf der Grundlage von Vernunft und Menschenrechten basiert – auf Staatlichkeit gründende kodifizierte Menschenwürde. Erste und wichtigste Aufgabe des Staates ist es, diesen Schutz zu gewährleisten.

Erika Vögeli

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