Ernährungssicherheit muss gewährleistet sein!

Ernährungssicherheit muss gewährleistet sein!

Eidgenössische Volksabstimmung vom 24. September 2017

Nein zum Gegen(teil)-Vorschlag zur «Ernährungssicherheit»

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Merkwürdige und auf den ersten Blick schwer durchschaubare Vorgänge spielen sich zurzeit um den Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit ab, der in zwei Monaten zur Abstimmung kommt. Am 14. März 2017 hat das Parlament die Volksinitiative «Für Ernährungssicherheit» des Schweizerischen Bauernverbandes (SBV) abgelehnt und dem direkten Gegenentwurf der ständerätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK-SR) zugestimmt.1 Daraufhin hat der SBV seine Initiative zurückgezogen. Deshalb kann der Souverän am 24. September lediglich über den Gegenentwurf, der neu als Artikel 104a in die Bundesverfassung gesetzt werden soll, entscheiden.

Erstes Fragezeichen: Warum hat der Schweizerische Bauernverband SBV seine Initiative zurückgezogen? Dass sie in wenigen Monaten von 150 000 Stimmberechtigten unterzeichnet worden ist, bringt die Verbundenheit breiter Bevölkerungskreise mit der Schweizer Landwirtschaft zum Ausdruck, aber auch den Wunsch, die Produktion einheimischer, gesunder und nachhaltig produzierter Lebensmittel zu fördern. Wird denn der Gegenentwurf, der nun allein vor das Volk kommt, diesen Forderungen gerecht?
Zweites Fragezeichen: Derzeit setzt sich eine buntgemischte Gesellschaft verschiedenster politischer Provenienz samt dem Bauernverband selbst für den neuen Artikel 104a ein, und zwar mit einer Vielzahl von «Argumenten», die einander zum Teil direkt widersprechen. Sollen wir Bürgerinnen und Bürger einem Landwirtschaftsartikel zustimmen, dessen Inhalt je nach politischer Grosswetterlage anders interpretiert werden kann?
Drittes Fragezeichen: Der einzige, der deutsch und deutlich sagt, wie er die Landwirtschaftspolitik der Zukunft sieht, ist für einmal der zuständige Bundesrat, Johann Schneider-Ammann, Vorsteher des eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF). Was können wir den Plänen der Classe politique entgegensetzen? Oder anders gesagt: Was tun, um das Sterben des Bauernstandes und den Massenimport qualitativ minderwertiger Nahrungsmittel zu stoppen?
Trotz all diesen Fragezeichen gibt es bisher kein Nein-Komitee: Ein «Urnengang ohne Gegner», titelt die «Neue Zürcher Zeitung» (7.7.2017). Auf der Suche nach Gegenstimmen bin ich aber erfreulicherweise auf einige aktive Schweizer Bäuerinnen gestossen (siehe Kasten). Es ist Zeit, dass wir Bürgerinnen und Bürger uns kundig machen. Denn am 24. September geht es nicht nur um ein Ja oder Nein zum Gegenentwurf. Es gilt auch, den anderen beiden sehr unterstützenswerten Volksinitiativen, die ähnliche Ziele verfolgen wie die zurückgezogene Initiative des Bauernverbandes, den Weg zu ebnen: «Für Ernährungssouveränität. Die Landwirtschaft betrifft uns alle» der Uniterre und «Für gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebensmittel (Fair-Food-Initiative)» der Grünen Partei der Schweiz. Diese Initiativen sind beide erfolgreich eingereicht worden und werden zu einem späteren Zeitpunkt zur Abstimmung kommen.

Wenig Sachargumente und viel warme Luft in der Pro-Kampagne

Wer den Wortlaut des geplanten Art. 104a BV mit dem Initiativtext vergleicht, findet nur eine einzige – zweifellos wichtige – inhaltliche Übereinstimmung: Der Bund soll Massnahmen gegen den Verlust des Kulturlandes (also der von der Landwirtschaft bewirtschafteten und genutzten Böden und Flächen) ergreifen. Der Kernpunkt der Initiative, die Stärkung der Inlandproduktion von Lebensmitteln beziehungsweise ein möglichst hoher Selbstversorgungsgrad, kommt im Gegenentwurf dagegen nicht vor.

Abstimmungstext:
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 104a Ernährungssicherheit
Zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln schafft der Bund Voraussetzungen für:
a.    die Sicherung der Grundlagen für die landwirtschaftliche Produktion, insbesondere des Kulturlandes;
b.    eine standortangepasste und ressourcen­effiziente Lebensmittelproduktion;
c.    eine auf den Markt ausgerichtete Land- und Ernährungswirtschaft;
d.    grenzüberschreitende Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft beitragen;
e.    einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln.

Die Spitzen des SBV behaupten nun, ihre Anliegen aus der Initiative seien «zu 80 Prozent im Gegenvorschlag aufgenommen» worden (Markus Ritter, Nationalrat CVP und Präsident des SBV, im «Bund» vom 14.7.2017), eine Übertreibung sondergleichen. An einer Medienkonferenz des SBV, zusammen mit Vertretern anderer Landwirtschaftsverbände sowie der Grünen Partei (GP) und der SVP wurde mit vielen schönen Worten die Abstimmungsparole «Ja zur Ernährungssicherheit» herausgegeben und eine «breite Unterstützung» verkündet. Die GP-Fraktion befürwortet die Vorlage sogar mit der kühnen Aussage, der Gegenvorschlag würde «den Boden für unsere eigene Fair-Food-Initiative bereiten»2. Gönnen würden wir’s den Grünen ja – aber ob diese Rechnung aufgeht? Inhaltlich bleiben die Statements mehrheitlich warme Luft. Jedenfalls fühlen sich viele Bäuerinnen und Bauern, aber auch zahlreiche andere Bürger, welche die Initiative unterschrieben haben, durch diesen Seitenwechsel des Initiativkomitees mit Recht nicht vertreten.

Schwerwiegende inhaltliche Einwände von Uniterre

Die Uniterre, Urheberin der Initiative «Für Ernährungssouveränität. Die Landwirtschaft betrifft uns alle», kritisiert wesentliche Punkte des Gegenentwurfs.3 Erstens müssten Bäuerinnen und Bauern «das Herzstück des Ernährungssystems bilden, statt dessen rückt Buchstabe c) den Markt in den Mittelpunkt. So wird auch der Markt die Preis- und Mengenvorgaben festlegen. Zweitens führt Buchstabe d) das Konzept der ‹internationalen Agrarmärkte› als Premiere in der Verfassung ein. Auch wenn es an die Nachhaltigkeit gekoppelt bleibt, so bleibt das doch stark risiko­behaftet. […] Drittens ist ein interessanter Aspekt der Initiative des Schweizer Bauernverbandes im Gegenentwurf total verschwunden: ‹Er [der Bund] sorgt dafür, dass […] die Rechtssicherheit und eine angemessene Investitionssicherheit gewährleistet sind.›»
(Diese Rechtssicherheit haben die Bauern aber nur, wenn sich die Landwirtschaftspolitik des Bundes in einem für sie voraussehbaren Rahmen bewegt.)
Trotz diesen schwerwiegenden Bedenken beschloss die GV von Uniterre am 20.6.2017 Stimmfreigabe zur Vorlage über die «Ernährungssicherheit», weil sich die Mitglieder «nicht gegen einen anderen Bauernverband stellen» wollen. Gleichzeitig hält Uniterre fest, «dass es sich dabei nur um ein Etappenziel handelt, hin zu einem noch anspruchsvolleren Ziel: die Ernährungssouveränität [das heisst ihre eigene Initiative, mw] in der Verfassung zu verankern.» Hoffen wir’s!

Bundesbern spielt Figgi und Mühli mit den Bauern und mit dem Stimmvolk

Tatsächlich wurde der Vorstand des Bauernverbandes durch den parlamentarischen Gegenvorschlag in eine Zwickmühle gebracht: Wäre die Initiative abgelehnt und der Gegenentwurf angenommen worden, wäre dies sehr ungünstig gewesen. Trotzdem hätte der SBV die breitabgestützte Initiative nicht zurückziehen dürfen, und schon gar nicht dürfte er sich für den Gegen(teil)-Vorschlag stark machen. Denn die Befürworter eines offenen Agrarmarkts und besonders eines Agrarabkommens mit der EU setzen sich ebenfalls für ein Ja ein, mit der Kampfansage an den SBV, diesem «nicht die Deutungshoheit lassen» zu wollen. Die «grenzüberschreitende Offenheit» müsse als «Absage an Protektionismus und Abschottung» verstanden werden. Vertreter des SBV und der SVP klammern sich dagegen an eine – inzwischen um 180 Grad geänderte! – Aussage von Bundesrat Schneider-Ammann im Parlament, wonach mit «grenzüberschreitendem Handel» nicht unbedingt Agrarfreihandelsverträge gemeint seien.4
Zur Absurdität des Abschottungsvorwurfs siehe Kasten «Wir brauchen kein Palmöl aus Indonesien und keine Milchprodukte aus der EU».
Der Schweizer Bauernstand hat es nicht leicht und ist mit viel rauhem Gegenwind konfrontiert. Aber es ist zu befürchten, dass seine Rechnung – lieber den ungünstigen Gegenentwurf als gar nichts – nicht aufgehen wird. Sollen wir Stimmbürger uns auf ein solches Figgi-und-Mühli-Spiel einlassen? Eher nicht!

Bundesrat Johann Schneider-Ammann deckt seine Ziele auf

Bundesrat Schneider-Ammann tut offen kund, wohin er mit diesem Gegenentwurf steuert: Einbindung der Schweizer Wirtschaft in den EU-Binnenmarkt inklusive Öffnung des Agrarmarktes. Dass die Schweizer Landwirtschaft dies nicht verkraften würde, weiss er natürlich genau. Seine Sprüche («ein Traktor und ein Pflug reichen für die doppelte Fläche») sind nicht nur für die Bergbauern eine Zumutung, sondern für jede Bürgerin und jeden Bürger, der es mit der Erhaltung unseres Bauernstandes und damit eines möglichst hohen Selbstversorgungsgrades mit guten, gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln ehrlich meint.
Dazu einige Aussagen von Schneider-Ammann aus einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung»5 (Hervorhebungen mw):

  • «Der Schritt Richtung offene Märkte tut der Landwirtschaft zwar weh, aber er bedroht nicht ihre Existenz per se. […] Der nächste Schritt dorthin ist die Abstimmung am 24. September.»
  • «Neu ist [im Gegenentwurf, mw], dass der grenzüberquerende Handel eine Selbstverständlichkeit wird. Die Initiative wäre ein Rückschritt gewesen, sie hätte das Land vermehrt abgeschottet. […] Diese Schliessung galt es zu verhindern. Wir müssen unsere Handelsbeziehungen erfolgreich gestalten können; und da muss jeweils auch die Landwirtschaft Konzessionen machen und sich zunehmendem Wettbewerb stellen.»
  • «Eine Interpretation, wonach mit dem Gegenentwurf der Grenzschutz zementiert und der Binnenmarkt zusätzlich geschützt würde, ist sicher nicht richtig.»
  • «Neue Zürcher Zeitung»: «Früher oder später muss das Niveau der Direktzahlungen also sinken?»
    «Ja, das geht nicht anders. Wenn man dem Landwirt aber hilft, die Kosten zu senken, kann er auch mit tieferen Direktzahlungen auskommen. […] Direktzahlungen und sinkender Grenzschutz müssen gesamthaft betrachtet werden.» […]
  • «Neue Zürcher Zeitung»: «Wie können die Kosten gesenkt werden?»
    «Es braucht grössere Strukturen und weniger Betriebe. Zum Beispiel, indem beim Generationenwechsel die Betriebe zusammengelegt werden. Es braucht danach nur noch einen Traktor für die doppelte Fläche und nur einen Pflug für eine Fläche, die zuvor zwei Bauern bearbeitet haben. Man muss Synergien schaffen. Dieser Anpassungsprozess ist im Gang, er wird aber eine Weile dauern.» […]
  • «Die Senkung der staatlichen Unterstützung ist aber eine langfristige Übung und nur schrittweise möglich. […] Ich bin dabei, den Bauern diese Marktöffnung schrittweise beizubringen.» […]
    «Der Umbauprozess, in dem wir uns befinden, ist zielführender, wenn er sozialverträglich gemacht wird und die Bauern deswegen nicht mit der Heugabel auf die Strasse gehen, wie wir es anderswo in Europa gesehen haben.»                                •

1    Zur Vorgeschichte und den Inhalten der Volksinitiative und des Gegenentwurfs vgl. «Volksinitiative ‹Für Ernährungssicherheit›». In: Zeit-Fragen Nr. 28 vom 6.12.2016
<link de ausgaben nr-28-6-dezember-2016 volksinitiative-fuer-ernaehrungssicherheit.html>(http://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2016/nr-28-6-dezember-2016/volksinitiative-fuer-ernaehrungssicherheit.html)
2    «Ein Ja ist ein Versprechen an uns Junge». In: Schweizer Bauer vom 8.7.2017
3    «Ernährungssicherheit kommt am 24. September vors Volk». Stellungnahme vom 20.6.2017, veröffentlicht in: Uniterre Zeitung. Juni 2017
4    «Befürworter gegen Befürworter». In: «Wiler Zeitung» vom 22.7.2017
5    «Bauern stehen nicht unter Heimatschutz», in: «Neue Zürcher Zeitung» vom 8.7.2017

Wir brauchen kein Palmöl aus Indonesien und keine Milchprodukte aus der EU

Leserbrief von Monika Gerlach, Renan BE, in: Schweizer Bauer vom 8.7.2017 (Auszug):

«[…] Wir importieren Sojabohnen aus Süd­amerika, Avocados aus Israel und Datteln aus Mexiko, Hartweizen für unsere Teigwaren aus Italien, Oliven aus Griechenland usw. Darauf möchten wir auch nicht verzichten. Aber wir brauchen kein Palmöl aus Indonesien oder Malaysia, denn wir können selber Raps anbauen, wir brauchen keinen Billigkäse oder Billigmilch aus der EU, weil wir nämlich auf Grund der geografischen Lage dafür prädestiniert sind, Milchkühe zu halten. Birnen aus Südafrika sind auch überflüssig. Wir wollen im Februar auch keine Spargeln aus Ägypten oder Frühkartoffeln aus Nordafrika, bevor die ersten Schweizer Frühkartoffeln aus dem Boden geholt sind.
Wer den Freihandel befürwortet, macht das im Interesse der Wirtschaft, des Dienstleistungssektors und der Investmentpolitik. Die Bauern werden geopfert, weil ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt nur magere 0,8% beträgt. Wenn wir dieses Bauernopfer zulassen, begeben wir uns vollumfänglich in die Hände derer, von deren Lebensmitteln wir in Zukunft abhängig sein werden. […]»

 

Jetzt müssen Alarmglocken schrillen!

Leserbrief von Ulrike Minkner, Mont-Soleil BE, in: Schweizer Bauer vom 5.7.2017 (Auszug):

«Im Widerspruch zum Zitat aus der Ratsdebatte [vom 7. März 2017, wo Bundesrat Schneider-Ammann beteuert hat, der grenzüberschreitende Handel im Gegenvorschlag sei einzig als Ergänzung zur Inlandproduktion gedacht] steht die Medienmitteilung der Agrar-Klausur des Bundesrates vom 9. Juni 2017: ‹Der Gesamtbundesrat verfolgt das Ziel, über den Abbau des Grenzschutzes für Agrarprodukte und weitere Freihandelsabkommen der Industrie und dem Dienstleistungssektor neue Märkte zu erschliessen.› Jetzt müssen die Alarmglocken schrillen.
Kommt der Gegenvorschlag, hat der Bundesrat den Freipass für seine neoliberale Politik, und wir haben längerfristig noch grössere Probleme in der hiesigen Landwirtschaft. Mir ist schleierhaft, warum die Initianten sich auf diesen Deal einlassen. […]
Mit der Annahme der Fair-Food-Initiative von den Grünen und der Ernährungssouveränitäts-Initiative von Uniterre könnten wir Bundesrat Schneider-Ammann zumindest etwas ausbremsen, und der Gesamtbundesrat müsste sich endlich zu einer nachhaltigen Ernährungspolitik samt ökologischem Fussabdruck und Gesundheitsfragen Gedanken machen.»
* * *
mw. Dabei geht’s der Schweizer Exportwirtschaft gar nicht so schlecht, wenn man die Wirtschaftsseiten in den Zeitungen liest …

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