Service public auf menschlicher Basis weiterentwickeln

Service public auf menschlicher Basis weiterentwickeln

Beispiel einer Gegenwehr: Kein Abbau von SBB-Verkaufsstellen auf dem Land

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Am 13. September 2017 hat der Ständerat einer Motion zugestimmt, die den Bundesrat beauftragt, dafür zu sorgen, dass die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) die geplante Schliessung von 52 Drittverkaufsstellen aus zeitlichen Gründen bis 2020 aussetzen.1 Der Nationalrat hatte die Motion bereits am 13. Juni angenommen. Es ist erfreulich, dass sich beide Räte trotz Ablehnungsantrag des Bundesrates klar für die Erhaltung einer guten Grundversorgung auch in ländlichen Gebieten ausgesprochen haben.
In den nächsten Jahren wird die Standfestigkeit des Parlaments weiterhin gefragt sein, wenn es um die Erhaltung und Weiterentwicklung des Service public geht, der für alle Bevölkerungsgruppen gleichermassen einen Zugang gewährleisten soll. Aber unsere Wachsamkeit ist auch in vielen anderen Bereichen dringend vonnöten. Denn der Bundesrat hat grosse Pläne, die weit über die Volldigitalisierung der SBB und der Post hinausgehen: Mit seiner «Strategie Digitale Schweiz»2 will er sämtliche Lebensbereiche der Steuerungszentrale der Bundesverwaltung einverleiben: von den Infrastruktur-Einrichtungen über E-Health, E-Government und E-Voting bis hin zu einem «gesamtsystemisch koordinierten Ansatz» für die Bildung vom Kindergarten bis zu den Hochschulen.3 Und – wen wundert’s? – die Schweiz soll ihre digitale Strategie mit der «Strategie für einen digitalen Binnenmarkt (Digital Single Market)» der EU von 2015 koordinieren.4 (vgl. Kasten)
Jede dieser geplanten «Transformationen» würde eine heute noch kaum vorstellbare Umwälzung unseres ganzen gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten und das auf menschlichen Beziehungen und tief verwurzelten Werten basierende direktdemokratische Schweizer Modell in Gefahr bringen. Deshalb sind wir Bürger gefordert, uns in den verschiedenen Bereichen kundig zu machen und uns auf allen staatlichen Ebenen gegen den weiteren Umbau unserer Strukturen zur Wehr zu setzen. Und zwar rasch: Denn der «Prozess des Dialogs …» unter Federführung des UVEK5 zwischen der Bundesverwaltung und «allen relevanten Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft» [Zwischenfrage: Welche Akteure sind in der direktdemokratischen Schweiz «relevant» und welche nicht?] «…dauert zwei Jahre»[!].6


Am Beispiel der SBB-Billetverkaufsstellen kann gut aufgezeigt werden, wie die «Digitale Strategie» konkret – und ohne Rücksicht auf zwischenmenschliche, demokratische und rechtsstaatliche Regeln – funktioniert.

Vorgeschichte des Parlamentsbeschlusses zu den SBB-Verkaufsstellen

Letztes Jahr haben die Schweizer Stimmberechtigten über die Volksinitiative «Pro Service public» abgestimmt, die den Bund dazu verpflichten wollte, in der Grundversorgung nicht nach Gewinn zu streben, sondern die gute Versorgung der Bevölkerung im ganzen Land in den Vordergrund zu stellen. Am 5. Juni 2016 lehnten rund zwei Drittel der Abstimmenden die Initiative ab, nicht zuletzt deshalb, weil der Bundesrat beteuert hatte: «Die Schweiz verfügt über einen sehr guten, zuverlässigen und bezahlbaren Service public. Die Versorgung aller Regionen des Landes ist sichergestellt. Damit dies so bleibt, brauchen die betroffenen Unternehmen gute Rahmenbedingungen und unternehmerische Freiheiten.»7
Kurze Zeit nach der Abstimmung, im September 2016, demonstrierte die Chef­etage der SBB, wie sie ihre unternehmerische Freiheit zu nutzen gedenkt. Sie gab bekannt, dass sie kurzfristig (bis zum 1. Januar 2018) 52 sogenannte SBB-Drittverkaufsstellen auf dem Land schliessen werde. Dabei handelt es sich um Läden und Poststellen in der Nähe von unbedienten Bahnhöfen, wo Bahn- und Busbillete gekauft werden können. Bei den betroffenen Gemeinden, Kantonen und in der Bevölkerung stiess diese Absicht verständlicherweise auf Protest. Neben politischen Vorstössen in Bund und Kantonen wurde auch eine Petition lanciert, die innert kurzer Zeit von 30 000 Bürgern unterschrieben wurde.

Zwei Motionen des Nationalrats unterstützen die Bedürfnisse der Bevölkerung

Zur Unterstützung der betroffenen Bevölkerung reichte Nationalrat Jakob Büchler (CVP St. Gallen) am 30. September 2016, also gleich nach der Ankündigung der SBB, eine Motion ein, um die Schliessung der Billetverkaufsstellen auf dem Land zu verhindern.8
Die Motion verlangte vom Bundesrat einen Gesetzesentwurf, der «ein fünfjähriges Moratorium für die Weiterführung von Drittstellen der SBB ermöglicht». Aussergewöhnlich an dieser Motion ist deren Mitunterzeichnung durch 38 Mitglieder des Nationalrates aus allen politischen Fraktionen und aus einer Vielzahl von vorwiegend ländlichen Kantonen.
In seiner Stellungnahme vom 16. November 2016 zu diesem Vorstoss lehnte es der Bundesrat unter anderem ab, die SBB mit einem Gesetz zu einem Aufschub zu verpflichten, weil er sich nicht in deren operative Tätigkeit einmischen wolle. Dies könnte den Bund womöglich etwas kosten. Dazu ist anzumerken: Früher waren die SBB ebenso wie die Post Bundesbetriebe, deren Aktivitäten auf das Gemeinwohl ausgerichtet, von den Bundesbehörden bestimmt und mit Steuergeldern bezahlt wurden; heute sind sie gewinnorientierte Aktiengesellschaften unter operativer Führung eines CEO und ihres Verwaltungsrates. Die Aktien der SBB und der Post liegen zwar (noch) in der Hand des Bundes, aber das kann bekanntlich geändert werden.
Auf dieses bundesrätliche Statement reagierte die nationalrätliche Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen (KFV-N) am 21. März 2017 mit der zu Beginn dieses Artikels erwähnten, inhaltlich moderateren zweiten Motion, die inzwischen von beiden Räten angenommen worden ist.

Service public muss am Gemeinwohl orientiert bleiben

In der Begründung der Motion Büchler kommt die Bürgernähe, die einen guten Service public auszeichnet, zum Ausdruck: «Gerade in den ländlichen Regionen bieten die Stationshalter für Kundinnen und Kunden, insbesondere für ältere Personen, einen geschätzten Service im Bereich des Billettverkaufes und der Auskünfte.» Mit der Schliessung der Verkaufsstellen dagegen gehe der einfache Zugang für eine grosse Zahl von Bahnkunden verloren.
Der Bundesrat argumentiert demgegenüber mit Zahlen: An den 52 betroffenen Verkaufsstellen würden nur rund 1 % der Billete verkauft, so dass damit die Provisionen der SBB an die Drittverkaufsstellen nicht gedeckt werden könnten. Andererseits würden heute bereits 80 % der Billete über «selbstbedienbare Kanäle» nachgefragt. Deshalb sei der Schliessungsentscheid der SBB «nachvollziehbar».
Beide Motionen halten dem entgegen, dass die Versorgung aller Regionen des Landes sichergestellt werden müsse, wie der Bundesrat es vor der Abstimmung zur Initiative Pro-Service-public zugesichert hatte. So ist in der Begründung der Nationalratskommission zu lesen: «Besonders stark betroffen vom SBB-Entscheid ist die Ostschweiz, welche mit Verkaufsstellenschliessungen grössere Bahnhöfe mit aktuell stolzen Umsätzen vom bedienten Verkauf völlig abhängt. Die Einsparung von 5 Millionen Franken durch die Schliessung der 52 bedienten SBB-Drittverkaufsstellen wird nicht detailliert aufgezeigt. Zudem werden die Kosten für die Verbesserung der Verkaufsstellen in den Städten und die damit verbundenen Investitionen nicht transparent erwähnt.»9
Im Klartext: Während die bereits sehr gute Versorgung mit SBB-Verkaufsstellen in den Städten weiter ausgebaut wird, werden auf dem Land schon seit Jahren die Bahnschalter stillgelegt, und nun sollen auch noch rund ein Viertel der Drittverkaufsstellen geschlossen werden. Für diejenigen Senioren, die lieber mit einem Menschen als mit einem Automaten kommunizieren, bieten die SBB – so der Bundesrat in seiner Antwort zur Motion Büchler – in Zusammenarbeit mit Pro Senectute Schulungen an, um sie im Umgang mit Billettautomaten vertraut zu machen …
Gut, dass das Parlament die vorgesehene knappe Frist um 3 Jahre verlängert hat, in der eine Lösung gefunden werden muss, die den Bedürfnissen der Kundinnen und Kunden gerecht wird. Diese Lösung kann und darf nicht ausschliesslich im Zugang zu Billetautomaten und Internet bestehen. Wir Menschen – nicht nur die älteren! – sind keine Roboter. Wir brauchen im Alltag notwendigerweise Beziehung zu anderen Menschen, zum Beispiel an einem Billetschalter.     •

1    Motion 17.3258 der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Nationalrates (KVF-N) vom 21.März 2017. Moratorium in bezug auf den Serviceabbau bei den SBB-Drittverkaufsstellen bis Ende 2020
2    Schweizerische Eidgenossenschaft. Bundesamt für Kommunikation BAKOM. Strategie «Digitale Schweiz», April 2016
3    Strategie «Digitale Schweiz», S. 16
4    Strategie «Digitale Schweiz», S. 21
5    Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, geleitet von Bundesrätin Doris Leuthard
6    Strategie «Digitale Schweiz», S. 23 und 25
7    Volksabstimmung vom 5. Juni 2016. Abstimmungsbüchlein, S. 10; vgl. Zeit-Fragen Nr. 9/10 vom 26. April 2016
8    Motion 16.3866 vom 30.9.2016, eingereicht von Jakob Büchler, CVP SG. Schliessung von SBB-Ticketstellen auf dem Land
9    Motion 17.3258 der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Nationalrates (KVF-N) vom 21. März 2017

«Strategie Digitale Schweiz»: Bundesrat verfolgt andere Pläne

(Schweizerische Eidgenossenschaft. Bundesamt für Kommunikation BAKOM. April 2016. Auszüge)

«Die Strategie ‹Digitale Schweiz› ist […] eine bundesrätliche Massnahme der Legislaturplanung 2015 – 2019.» (S. 3)
«Der Bundesrat ist sich bewusst, dass die digitale Transformation bestehender Strukturen ein Umdenken auf allen Ebenen erforderlich macht und traditionelle Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens in Frage gestellt werden.» (S. 5)
«[…| ist eine national und, wo nötig, international abgestimmte regulatorische Koordination anzustreben, wenn es um den Zugang zu Daten und digitalen Inhalten sowie die Datenbearbeitung und -sicherheit geht.» (S. 10)
«Bevölkerung und Wirtschaft können ihre Behördengeschäfte schweizweit digital abwickeln.» (S. 14)
«Die Ausübung der politischen Rechte auf elektronischem Wege ist möglich […]. Ziel von Bund und Kantonen ist es, den elektronischen Stimmkanal als dritten komplementären Stimmkanal flächendeckend einzuführen.» (S. 15)
«Die fortschreitende Digitalisierung transformiert den Kontext, in dem Lehren und Lernen stattfindet. Durch die orts- und zeit­ungebundene Verfügbarkeit von Wissen werden Lernprozesse neu ausgerichtet und die Rollen der Lehrenden und Lernenden verändert.» (S. 16)
«Da Cyber-Risiken internationaler Natur sind, muss die Schweiz auch in die relevanten internationalen bzw. europäischen Strukturen und Prozesse zur Zusammenarbeit im Bereich der Netzwerk- und Informationssicherheit eingebunden sein.» (S. 18)
«Die Schweiz nutzt ihre Chancen im Hinblick auf den virtuellen internationalen Wirtschaftsraum. 2015 hat die EU ihre Strategie für einen digitalen Binnenmarkt (Digital Single Market) verabschiedet. […] Hier gilt es, den Dialog mit der EU zu führen, die Aktivitäten auf Schweizer Seite zu koordinieren und so die Chancen, die der digitale Binnenmarkt mit sich bringt, auch für die Schweiz nutzbar zu machen und das Risiko einer Ausgrenzung abzuwenden.» (S. 21)
«Der Dialog ‹Digitale Schweiz› wird unter der Federführung des UVEK organisiert. Alle zuständigen und interessierten Akteure werden in den Dialogprozess integriert (Multistakeholder-Ansatz). Höhepunkt des Prozesses ist eine nationale Konferenz zu ausgewählten Themen der Informationsgesellschaft.» (S. 26)

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