Warum der Freihandel nicht immer ein Vorteil ist …

Warum der Freihandel nicht immer ein Vorteil ist …

… und warum Protektionismus auch Schutz bedeuten kann

von Karl Müller

Ein «Narrativ» des «Establishments» ist, dass Wissenschaft und Vernunft auf ihrer Seite stünden und ihre Kritiker ohne wirkliche Argumente seien. Sie seien blind gegenüber der Realität und stark von Gefühlen gefangengenommen, verführbar durch «Populisten», «Verschwörungstheoretiker» und «fake news»-Verbreiter (allen voran die russische Regierung). Insbesondere die Kritik an der Globalisierung und deren «Grundgesetz der 4 Freiheiten» (weltweit unbeschränkter Handel mit Gütern, Dienstleistungen und Kapital sowie grenzüberschreitende Personenfreizügigkeit) gilt als rückwärtsgewandt und in Anbetracht der heutigen Welt als völlig abwegig und unangemessen, allenfalls als zu therapierende Ängste und Stimmungen sogenannter «Globalisierungsverlierer».

Die Spalten der Mainstream-Medien sind voll von «Zeugen» für dieses «Narrativ», und besonders gerne kommen ausgewählte «Intellektuelle» zu Wort oder wird über deren «Werke» berichtet – um zu belegen, dass der «Geist» auf der Seite des «Establishments» steht. Junge «Philosophen» dürfen in einschlägigen Verlagen, zum Beispiel bei Suhrkamp, Bücher veröffentlichen, in denen sie zum Schluss kommen, das einzig total offene Grenzen und totale Personenfreizügigkeit das wären, was «dem liberalen Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen» entspräche (so die Lobeshymne auf ein solches Buch in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27. Januar).

Die zweite Phase der Globalisierung

Hatte nicht der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, davon gesprochen, dass nun die zweite Phase der Globalisierung vor der Tür stehe, das «Zeitalter der Mobilität» (https://www.unric.org/de/migration-pressemitteilungen/11270), und dass jetzt gelte: «Da wir nun in das jüngste Zeitalter der Mobilität eintreten, werden sich die Menschen in immer grösserer Zahl über Grenzen hinwegbewegen. In ihrem Streben nach mehr Chancen und einem besseren Leben haben sie das Potential, die grossen Ungleichheiten einzureissen, die unsere Zeit charakterisieren […]»

Das klingt sehr menschenfreundlich, aber es ist eine Tragödie unserer Zeit, wie viele «Intellektuelle» es gibt, die – warum auch immer – schönen Worten Glauben schenken und diese intellektuell anreichern – Worte, die einer Prüfung an der Realität allerdings nicht standhalten.

Wo steht der Geist?

Und es ist auch eine Falschbehauptung, dass der Geist allein auf dieser Seite steht. Man lese: Hans-Peter Martin/Harald Schumann: «Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand», 1996; Gerald Boxberger/Harald Klimenta: «Die 10 Globalisierungslügen. Alternativen zur Allmacht des Marktes», 1998; William Greider: «Endstation Globalisierung. Neue Wege in eine Welt ohne Grenzen», 1998; Edward Luttwak: «Turbo-Kapitalismus. Gewinner und Verlierer der Globalisierung», 1999; John Gray: «Die falsche Verheissung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen», 1999; Manfred Ritter/Klaus Zeitler: «Armut durch Globalisierung. Wohlstand durch Regionalisierung», 2000; Vivianne Forrester: «Die Diktatur des Profits», 2001; Tanja Brühl/Tobias Debiel/Brigitte Hamm/Hartwig Hummel/Jens Martens (Hg.): «Die Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Globalisierungsprozess», 2001; Michel Chossudovsky: «Global Brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg», 2002; Joseph Stiglitz: «Die Schatten der Globalisierung», 2002. Autoren ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung kommen in diesen Büchern zum Ergebnis, dass die Globalisierung mit sehr vielen Nachteilen verbunden ist und dass sie nicht das Resultat vernünftiger, am Gemeinwohl orientierter Überlegungen, sondern Ausdruck von Gewinninteressen sowie Macht- und Gewalt-politik von ein paar wenigen ist. Alle diese Bücher sind älter als 10 Jahre (und viele weitere sind seither erschienen) – Zeit genug also, die Dinge ernstzunehmen. Aber die Agenda des «Establishments» war (und ist noch immer) eine andere.

England nutzte Protektionismus und Freihandel für sich

Was zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher? England verdankte seine Stellung als Weltmacht dem Freihandel, als England militärisch und wirtschaftlich schon dominierte, aber auch dem Protektionismus, als das Land noch mit heftiger Konkurrenz zu kämpfen hatte. 1651 zum Beispiel verabschiedete das englische Parlament die Navigationsakte. Ziel war es, die Vormacht der Niederlande auf den Weltmeeren zu brechen und selbst zur Handelsnation Nummer 1 zu werden. In dieser Akte heisst es zum Beispiel: «Zur Vergrösserung des Schiffsbestandes und zur Förderung der Schiffahrt Englands, die durch Gottes gütige Vorsehung von so grossem Nutzen für Wohlfahrt und Sicherheit dieser unserer Republik sind, wird von dem gegenwärtigen Parlament beschlossen, dass vom 1. Dezember 1651 an Güter oder Erzeugnisse jeder Art aus Asien, Afrika oder Amerika nach England, Irland oder irgendwelchen dazugehörigen Ländern, Inseln oder Kolonien nur noch auf Schiffen eingeführt werden dürfen, die einwandfrei Leuten unseres Volkes gehören und deren Kapitäne und Matrosen zum grössten Teil Leute unseres Landes sind, bei Strafe des Verlustes sowohl der Ware als auch des Schiffes.» Und so weiter und so fort.

Für «Freihandel» waren die Engländer indes, als es ihren Interessen diente. Mit David Ricardo, einem in England lebenden und lehrenden Ökonom, waren es die Engländer, die die Freihandelsideologie aus der Taufe hoben – als das Land schon die wirtschaftliche Vormacht war und anderen ihre Produkte aufzwingen konnte – wie dann auch später beim wohl bösartigsten Versuch dabei, dem sogenannten Opiumkrieg gegen China. Andere Kolonialmächte aus Europa, Asien und Amerika taten es ähnlich, auch sie führten Kriege, um «neue Märkte zu öffnen» und «open doors» zu schaffen.

Kritik an David Ricardo

Mathias Binswanger, Schweizer Professor für Volkswirtschaftslehre, hat auf den Macht-aspekt der Freihandelsideologie in einem Beitrag für die NZZ am Sonntag vom 15. Januar 2017 hingewiesen: «Das Buch, das der englische Ökonom David Ricardo 1817 veröffentlichte, hiess ‹On the Principles of Political Economy and Taxation›. Er entwickelte darin die Theorie der komparativen Kostenvorteile, die bald zum Kernstück künftiger Aussenhandelstheorien wurde und in der Ökonomie fast einhellig geteilt wird: Freihandel ist gut, Protektionismus schlecht. Doch gilt das wirklich immer? Interessanterweise zeigt bereits das von Ricardo 1817 verwendete historische Beispiel eines Freihandelsvertrages zwischen England und Portugal, dass dem nicht so ist. Die Rede ist hier vom ‹Methuen-Vertrag› aus dem Jahr 1703 […]. Bei diesem Abkommen mussten sich die Portugiesen verpflichten, das zum Schutz ihrer eigenen Tuchindustrie erhobene Importverbot von englischem Tuch aufzuheben, während die Engländer im Gegenzug die Zölle für portugiesischen Portwein verringerten. Das Abkommen leistete einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Abstieg der damaligen Weltmacht Portugal. Nicht gerade das, was man sich unter mehr Wohlstand für beide Handelspartner vorstellt.» Weiter hinten heisst es: «Portugal hätte zu Beginn des 18. Jahrhunderts allen Grund gehabt, sich gegen Freihandel zu wehren. Doch die Portugiesen hatten keine andere Wahl, als den Methuen-Vertrag zu unterzeichnen, da sie in militärischen Konflikten auf die Unterstützung der englischen Flotte angewiesen waren.»

Die «Spezialisierungsfalle»

David Ricardos «Theorie» blendete wesentliche Teile der Wirklichkeit aus – es war eine falsche Theorie … und sie wurde zur Ideologie. Gerald Boxberger und Harald Klimenta haben schon 1998 in ihrem Buch «Die 10 Globalisierungslügen. Alternativen zur Allmacht des Marktes» auf den Seiten 27 ff. dargelegt, warum Ricardos Theorie «äusserst problematisch» ist, insbesondere Ricardos Überlegung, es sei das Beste für alle Länder, wenn sie sich in den Bereichen spezialisierten, in denen sie im internationalen Vergleich am produktivsten sind: «Gegen die von Ricardo genannten theoretischen Vorteile des Freihandels spricht vor allem die reale Entwicklung von Volkswirtschaften, die sich spezialisiert haben. So hat sich England im 18. Jahrhundert auf die Tuchproduktion festgelegt und profitierte mehr und mehr von der industriellen Revolution, während zur Herstellung von Wein keine Maschinen nötig waren und Portugal deshalb auch keine Anstrengungen unternahm, technologische Innovationen voranzutreiben. England wurde zu einem Industriestaat, Portugal war in der ‹Spezialisierungsfalle› gefangen.» Das galt für Portugal damals, das galt und gilt für zahlreiche Länder der Dritten Welt gestern und heute… und nun frisst die Revolution wohl auch ihre Kinder, und die Staaten, die sich auf Finanzgeschäfte (und Dollar-Herrschaft) spezialisierten und zugleich deindustrialisierten, stehen vor dem Abgrund.

Souveränität der Bürgerschaft statt fragwürdigem «Geschäftsmodell»

«Freihandel» ist auch heute noch das «Geschäftsmodell» derjenigen, die davon profitieren. Aber er war noch nie eine Sache der Völker, noch nie eine Sache der Bürger – auch wenn zum Beispiel eine neue Art von deutschem «Nationalstolz» darüber hergestellt werden soll, dass man «Exportweltmeister» ist. Nichts spricht dagegen, Güter und Dienstleistungen überall dort, wo es nachhaltig, d. h. auch langfristig und unter Berücksichtigung aller Werte einer Bürgerschaft, dem Gemeinwohl dient, frei mit Gütern und Dienstleistungen zu handeln. Aber die Entscheidung hierüber gehört in die Hände der Völker, die entsprechende Vereinbarungen treffen.

Ein «Geschäftsmodell» wie das deutsche, in dem rund die Hälfte der Wertschöpfung dem Export von Waren und Dienstleistungen dient, ist hochgradig problematisch. Dieses Geschäftsmodell funktioniert (noch) auf Kosten anderer, vielleicht aber bald sogar ganz stark auf Kosten der deutschen Bürger selbst (wenn die Target-Salden nicht mehr ausgeglichen werden können). Man möge doch bitte ehrlich sein: Das laute Geschrei über Pläne anderer Staaten, Schutzmassnahmen gegen einen Handel zu ergreifen, der ganze Wirtschaftszweige und sogar Volkswirtschaften ruiniert (hat), ist nicht redlich und auch nicht fair.

Zur Souveränität eines jeden Landes gehört es, dass die Bürger des Landes einen Ordnungsrahmen für ihre Volkswirtschaft festlegen. Der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich hat dies zur Basis seiner Wirtschaftsethik gemacht («Integrative Wirtschaftsethik. Grundlage einer lebensdienlichen Ökonomie», 4. Auflage 2008; «Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschafts-ethische Orientierung», 2010). Dieses Recht muss jedem Land zugestanden werden – und wenn sich ein Land dafür entscheidet, seine Volkswirtschaft durch «Protektionismus» zu schützen, dann ist das sein gutes Recht – solange es nicht erneut darum geht, hierüber wieder eine Vorherrschaft anzustreben … wie England im 17. Jahrhundert. •

Die erste und die zweite Phase der Globalisierung

km. Die fünf deutschen Forschungsinstitute für Friedens- und Konfliktforschung geben seit 1987 einmal im Jahr ein gemeinsames Gutachten heraus. Im Friedensgutachten 2016 gehen die Institute auch auf die Ursachen der weltweiten Migrationsbewegungen ein und schreiben in ihrer Pressemitteilung zum Gutachten:

«Die Früchte der Globalisierung sind höchst ungleich verteilt. Eine ungerechte Welthandelsordnung kann dazu beitragen, die Akzeptanz politischer Institutionen zu untergraben. Wir brauchen nicht mehr freien Handel, sondern faire Handelsbeziehungen.»

In der Stellungnahme der Herausgeber des Gutachtens ist zu lesen:

«Die Globalisierung hat nicht nur dichte Verflechtungen und Wachstum gebracht, sondern in ihrer neoliberalen Ausprägung auch mehr internationale Arbeitsteilung und Ungleichheit, krasse Ausbeutung und Zerstörung von Lebensräumen. Der Welthandel mit Vereinbarungen wie sie zum Beispiel das Transatlantische Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) vorsieht, nimmt massgeblichen Einfluss auf die ökonomischen und ökologischen Existenzbedingungen: Zahlreiche Länder des Südens leben vom Export ihrer Agrarprodukte und Rohstoffe. Sie können kaum noch konkurrieren, wenn die USA und die EU im Handel miteinander die Zölle auf Agrarprodukte senken. Die Entwicklungszusammenarbeit propagiert zu Recht, Kleinbauern zu fördern, um Hunger zurückzudrängen. Doch ohne eine gerechtere Welthandelsordnung geniessen die Interessen der westlichen Exportwirtschaft Vorrang vor der Fluchtursachenbekämpfung.»

Was auch damit gemeint sein könnte, wenn es heisst, die unbegrenzte Mobilität von Menschen habe «das Potential, die grossen Ungleichheiten einzureissen», hat nun auch Karen Horn in einem Gastkommentar für die «Neue Zürcher Zeitung» vom 8. Februar verdeutlicht. Sie spricht sich für die unbeschränkte grenzüberschreitende Personenfreizügigkeit aus und gebraucht dabei sehr oft sehr gut klingende Worte. Dabei geht sie auf die Behauptung ein, dass gut ausgebaute Sozialstaaten eine Sogwirkung auf Migranten ausüben können, hält dem aber entgegen: «[…] selbst wo dieses Gefälle gross genug ist, um einen Sog auszuüben, folgt daraus andererseits noch nicht, dass deshalb die Freizügigkeit zu opfern ist. Liberale haben sich vielmehr immer für eine Einhegung des Sozial-staats ausgesprochen.»

Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin sowie an den Universitäten Siegen und Erfurt. Als Wirtschaftsjournalistin schreibt sie unregelmässig für die «Neue Zürcher Zeitung» und für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Sie ist Trägerin verschiedener Auszeichnungen, zum Beispiel des Publizistik-Preises der Friedrich-August-von Hayek-Stiftung. Von 2011 bis 2015 war sie Vorstandsvorsitzende der Friedrich A. von Hayek Gesellschaft e.V. Selbstverständlich ist sie auch Mitglied der Mont Pèlerin Society und vieler solcher Vereine mehr. Dann heisst es noch von ihr, sie schätze besonders die Arbeiten von Adam Smith, Friedrich August von Hayek und James M. Buchanan. Der letztgenannte ist US-Amerikaner und hat eine ökonomische Theorie des Staates formuliert. Das Verhältnis des Bürgers zum Staat hat er innerhalb des Modells des Homo oeconomicus erfassen wollen.

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