Die Briefmarke als Kulturgut und Kleinstkunstwerk

Die Briefmarke als Kulturgut und Kleinstkunstwerk

Zum 175-Jahr-Jubiläum «Schweizer Briefmarken 1843–2018»

von Urs Knoblauch, Kulturpublizist, Fruthwilen TG

Die Geschichte der Nachrichtenübermittlung, Postdienste und insbesondere der Briefmarken gibt interessante Einblicke in die internationale Kommunikation sowie in die vielfältigen gestalterischen und kulturellen Ausdrucksformen der Menschen in den jeweiligen Nationalstaaten. Schon vor 5000 Jahren tauschten sich Menschen mit Knotenschriften (Schnüre), Zeichenschriften auf Holz, Tontafeln und Papyrus aus. Im Mittelalter wurden die Klöster zu Zentren des Schrifttums. Postboten trugen oft auf langen und gefahrenvollen Wegen zu Wasser und zu Lande die Botschaften an ihre Empfänger. Wegsäulen und Distanzangaben kamen bald dazu. Mit den Postkutschen entstanden im 17. Jahrhundert erste Ansätze eines Postbetriebes mit Wertzeichen und Stempeln auf Karten und Briefen. Die technische Entwicklung verlief rasant. Unendlich viele kleine Erfindungen und Verbesserungen trugen dazu bei. «Briefmarken sind nicht nur ein Spiegel der Kulturgeschichte, sondern auch eine Schweizer Erfolgsstory», so die Einladung zur sehenswerten Ausstellung im Museum für Kommunikation in Bern, welche gut in dieses völkerverbindende und identitätsstiftende Kulturgut einführt.

1874: Gründung des Weltpostvereins in Bern

Als weltweit zweites Land nach Grossbritannien führte die Schweiz am 1. März 1843 mit den Briefmarken «Zürich 4» und «Zürich 6» das System der Portovorauszahlung ein. Zudem wurde 1874 in der Schweiz, im Rathaus zum Äusseren Stand von Bern, der Weltpostverein gegründet, der bis heute seinen Sitz dort hat. Mit diesem ehrenvollen Amt hat die Eidgenossenschaft zugleich auch eine grosse soziale Verantwortung übernommen. Denn das Postwesen basiert auf dem gegenseitigen menschlichen Vertrauen, der gegenseitigen Hilfe unter den Menschen und einer Ethik des friedlichen Miteinanders.
Mit unzähligen kunstvollen Kreationen wird seit 175 Jahren in den verschiedensten Sprachen und Formen eine gleichwertige menschliche Verbindung mit Briefen, Karten und Paketen in alle Länder und in abgelegene Regionen der Welt ermöglicht. Oft wurden bekannte Künstler zur Gestaltung eingeladen und gestalterische Wettbewerbe durchgeführt. Traditionell werden jährlich in der Schweiz Sondermarken für Hilfsorganisationen, für humanitäre und soziale Anliegen sowie für Jubiläen herausgegeben. Briefmarken wurden zu einem wertvollen nationalen und internationalen Sammlergut, welches meist in den Familien und durch zahlreiche aktive Vereine, Briefmarkenbörsen und freundschaftliche Beziehungen gepflegt wird. Es ist gerade heute eine sinnvolle Anregung für Familien und Schulen, in Zeiten der Dominanz der Digitalisierung dieses Kulturgut der handgeschriebenen Ansichtskarten und Briefe wieder aufleben zu lassen.

Weltoffene und eigenständige Schweiz

Die Schweiz war schon vor der Gründung des Bundesstaates 1848 weltoffen, wirtschaftlich und kulturell innovativ. Die Eidgenossenschaft erwarb sich durch ihre viersprachige und kantonale Tradition und Vielfalt sowie ihre Neutralität und die Absage an Gewalt und Angriffskriege eine gefragte diplomatische und demokratische Vermittlerrolle und Kultur. Schon kurz nach der Gründung des Roten Kreuzes 1864 leisteten 1871 diese internationale Hilfsorganisation und die Schweizer Bevölkerung vorbildliche humanitäre Hilfe bei der Internierung und Pflege der 87 000 leidenden Bourbaki-Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg.
Dies trug sicher auch dazu bei, dass auf Anregung des deutschen Generalpostdirektors Heinrich von Stephan der Allgemeine Postverein, eine der ältesten internationalen Organisationen mit 22 Mitgliedsstaaten, 1874 zum Weltpostverein (Universal Postal Union, UPU) umbe­nannt wurde. Im Hauptsitz Bern steht seit 1909 das eindrückliche Weltpostdenkmal «Autour du Monde» («Rund um die Welt») des französischen Bildhauers René de Saint-Marceaux. Es zeigt fünf Postbotinnen, die sich umschlungen um die Weltkugel Briefe mit Freud und Leid weitergeben. Im Verlauf der Zeit wurden anlässlich der Weltpostkongresse internationale Abkommen unterzeichnet. 1947 wurde der Weltpostverein zu einer der zahlreichen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Bis heute hat die Schweiz ihre Pionierrolle für das Postwesen und trägt damit auch eine grosse Verantwortung.
Vor diesem historischen Hintergrund sind die aktuellen geschäftspolitischen und marktradikalen Pläne und Vorgänge besonders bedenklich, nicht nur bei den Postdiensten, welche eine wichtige Basis des Service public bilden, sondern in zahlreichen öffentlichen Institutionen des Bundesstaates und bei den «Dienstleistungen» bis hin zum Schul- und Gesundheitswesen! Die Bevölkerung ist gut beraten, wenn sie diese Kulturgüter schützt und die angepriesenen kurzfristigen «Vorteile» und modernen technologischen Neuerungen im grösseren kulturellen Rahmen des Zusammenlebens bewertet.

Sehenswerte Ausstellung und gelungenes Lehrmittel

Das Museum für Kommunikation in Bern hat zu diesem Anlass eine sehenswerte Ausstellung unter dem Motto «Extrem – 175 Jahre Schweizer Briefmarken» gestaltet. In der Ausstellung mit Rahmenprogramm sind neben Einblicken in die Entstehungsgeschichte von Briefmarken die «wichtigsten und teuersten Briefmarken der Schweiz», einige Beispiele der 10 000 originalen Briefmarkenentwürfe und rund drei Millionen Briefmarken zu bewundern und interessante Videoporträts über Briefmarkensammler anzuschauen.
Zur Ausstellung, die bis zum 8. Juli 2018 dauert, sind ein Katalog und ein gelungenes Geschichtsheft zur Schweizer Geschichte für Schulen, «Gezähnt und gestempelt – Briefmarken als Fenster zur Schweizer Geschichte und Geschichtskultur», erschienen. Obwohl im Lehrmittel einige der üblichen offiziellen «Geschichtserzählungen» anklingen, werden hier die Schüler sachlich, respektvoll und interessant in einige wichtige Aspekte der Schweizer Geschichtskultur eingeführt. So lesen wir: «Briefmarken sind Geschichtsquellen. Seit 175 Jahren kleben Briefmarken in der Schweiz auf Briefen. Sie sind bewusst gestaltete Kunstwerke und authentische Geschichtsquellen der letzten 175 Jahre, also der Epoche der modernen Schweiz. Sie zeigen deren Entwicklung auf, deren Menschen, deren Errungenschaften und deren Krisen.»
Es ist sehr verdienstvoll, dass das originelle Heft im Auftrag des Verbandes Schweizerischer Philatelistenvereine (Präsident Hans Schwarz) entstand und am Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskultur der Pädagogischen Hochschule Luzern entwickelt und vom Lehrmittelverlag des Kantons Luzern herausgegeben wurde. (Autoren: Karin Fuchs, Hans Utz, Projektleitung: Peter Gautschi) An diesem Beispiel soll verdeutlicht werden, welche Bedeutung die Vermittlung des Fachs Geschichte für ein Land und die Weltgemeinschaft hat.
Den Autoren ist dies bewusst, denn die Lehrmittelfreiheit und die sorgfältig und breit abgestützte fachliche Zusammenarbeit bei der Erarbeitung von Lehrmitteln war in der Schweiz eine grosse Errungenschaft. Sie schreiben: «Das Heft bietet Gelegenheit, diese Geschichte anhand von Briefmarken kennenzulernen und zu vertiefen. Es kombiniert einfach verständliche Überblicksinformationen mit Aufgabenstellungen, die zu eigenen Entdeckungen führen. Es kann für sich allein, in Kombination mit anderen Lehrmitteln oder verbunden mit einem Ausstellungsbesuch verwendet werden.»
Die Sorgfaltspflicht ist eine dringende Notwendigkeit in einer Zeit, in der auch in der Schweiz der gründliche Geschichtsunterricht als eigenständiges Fach in den Schulen von Reformstrategen abgeschafft wurde. Damit gefährdet man das nötige «Lernen aus der Geschichte» und die Wissensbasis einer ehrlichen, freiheitlichen und lebendigen Demokratie mit Selbstbestimmung, Gemeinwohlanliegen und kritischer Widerstandskraft. So weisen die Autoren im Kapitel «Die bedrohte Schweiz – Stärke durch Geschichte» sachlich auf die entscheidende Bedeutung der «Geistigen Landesverteidigung» neben den militärischen Massnahmen hin und zitieren einen eindrücklichen Ausschnitt aus General Henri Guisans Rede vor den Soldaten am 25. Juli 1940 auf dem Rütli.
Der gediegene und reich bebilderte zweisprachige Katalog (deutsch und französisch als offizielle Weltpostsprachen) wurde vom Philateliespezialisten Hans Schwarz (Seengen) konzipiert und realisiert. Der Historiker Tobias Kaestli (Magglingen) geht in seinem Beitrag auf die staatsbürgerliche Bedeutung der Briefmarken ein und betont: «Eine Nation ist eine politische Gemeinschaft, die sich mit einer eigenen kulturellen Identität in der Welt behaupten will.» (S. 28) Er geht auf die Bedeutung der Souveränität und Einheit der Schweiz sowie auf das Beispiel der Vielfalt der Kantons- und Vereinsfahnen und der vereinigenden Schweizerfahne ein und hält fest: «Der Bund agierte vorsichtig, der schweizerische Patriotismus sollte nicht von oben herab diktiert werden, sondern im Geist des Föderalismus verwurzelt sein und sich aus der Bundesidee nähren.» (S. 31)
Ständerat Hans Stöckli (Präsident IG Briefmarke) weist im Grusswort darauf hin, dass «die Erfindung der aufklebbaren Briefmarken durch Sir Rowland Hill im Jahre 1840 […] für die Bildung der modernen Eidgenossenschaft von 1848 gerade zum richtigen Zeitpunkt» kam und ergänzt, dass im National Postal Museum der USA in Washington die drei ausgestellten Kantonalmarken von Zürich, Genf und Basel zu den fünf ersten Briefmarken der Welt gehören. Briefmarken sollen, so Stöckli, «zur historischen Einbettung von Ereignissen und Personen und zur Orientierung über Wichtiges in und für unser Land» helfen. Dieses Motto gilt auch für alle Staaten und die ganze Weltgemeinschaft, die alle mit den Brieftauben des Friedens verbunden sind.    •

Nähere Angaben: Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 18, 3000 Bern 6, Tel. +41 (0)31 357 55 55, <link http: www.mfk.ch>www.mfk.ch 

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