Was bedeutet «EU-Rechtsübernahme»? Konkrete Beispiele

Was bedeutet «EU-Rechtsübernahme»? Konkrete Beispiele

mw. Mit einem institutionellen Rahmenvertrag müssten wir bisheriges und künftiges EU-Recht automatisch übernehmen und uns an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) halten.

Dazu zwei brandaktuelle Beispiele.

Landverkehrsabkommen: EU will das Kabotageverbot knacken

«Kabotage» heisst laut Duden die Beförderung von Gütern und Personen innerhalb eines Staates, also zum Beispiel von Aarau nach Neuchâtel.

Beim Personenverkehr ist das Aufbrechen des Kabotageverbots bereits im Tun: Ausländische Fernbusse wollen beim Transit durch die Schweiz in Zürich oder Basel Passagiere aufnehmen, die in Lugano oder Genf wieder aussteigen – natürlich mit einem viel billigeren Billet als bei der SBB.

In bezug auf den Warentransport ist Kabotage gemäss Landverkehrsabkommen mit der EU, einem Vertrag der Bilateralen I, verboten. Das bedeutet: Ein dänisches Transportunternehmen darf zwar Waren aus Dänemark in die Schweiz bringen, nicht erlaubt ist aber, wenn der Lastwagen aus Dänemark Transporte von St. Gallen nach Lausanne übernimmt.

Im Rendez-vous am Mittag brachte Radio SRF am 3. Mai einen alarmierenden Bericht.

«Das ist der Alptraum der Schweizer Camionneure: In ausländischen Lastwagen fahren billiger bezahlte Chauffeure Waren von A nach B innerhalb der Schweiz. Noch ist diese direkte Konkurrenz aus dem Ausland verboten. Das sogenannte Kabotageverbot ist im Landverkehrsabkommen mit der EU verankert. Jetzt aber steigt der Druck, das Verbot fallenzulassen.» […] Der Druck, das Kabotageverbot zu lockern oder gar aufzuheben, der sei tatsächlich sehr gross, erklärt Verkehrsministerin Doris Leuthard: «Es kommt immer wieder auf die Agenda, wenn wir mit europäischen Nachbarstaaten, aber vor allem mit osteuropäischen Staaten diskutieren.»

Wenn Frau Bundesrätin das Thema nicht auf der Agenda haben will, kann sie das ja ihren ausländischen Kollegen mitteilen. Statt dessen versucht Leuthard, mit widersprüchlichen Aussagen den Radiohörern die Köpfe zu verwirren. Einerseits gibt sie zu:

«Man hat festgestellt: In der Vergangenheit gab es Chauffeure zu Dumpinglöhnen aus Rumänien, Bulgarien, die zum Beispiel auch die Ruhezeiten nicht eingehalten haben.»

Andererseits ist Frau Leuthard jedoch «bereit, über das Thema zu reden»:

Die Kabotage […] werde Ende Mai am jährlichen Treffen des internationalen Transportforums in Leipzig diskutiert, kündigt Leuthard an. Die Haltung der Schweiz sei klar: Man sei bereit, über das Thema zu reden, aber nur, wenn für alle Transporteure gleich lange Spiesse gelten würden.

Gleich lange Spiesse? Wie denn?

Sollen die rumänischen Chauffeure von ihren rumänischen Arbeitgebern etwa Löhne auf Schweizer Niveau erhalten? Oder werden nicht doch eher die Einnahmen für die Schweizer Camionneure in den Keller fallen?

Die Sache habe zwei Seiten, beteuert Leuthard: Es sollten nämlich auch Schweizer Firmen Transporte innerhalb europäischer Staaten durchführen können. Mit Schweizer Löhnen in Bulgarien oder in Spanien?

Was die betroffenen Unternehmen und Chauffeure in der SRF-Sendung vom 3. Mai zu den «gleich langen Spiessen» meinen:

«Der Schweizerische Nutzfahrzeugverband ASTAG und der Verband öffentlicher Verkehr VöV haben heute eine gemeinsame Studie präsentiert. Sie spricht von fatalen Auswirkungen für Umwelt und Verlagerungspolitik, würde das Kabotageverbot fallen. ASTAG-Zentralpräsident, SVP-Nationalrat Adrian Amstutz: ‹Es gehen Stellen verloren, in erheblichem Ausmass, und die Transportunternehmungen wären gezwungen, zum Teil aufzugeben oder ihre Standorte ins Ausland zu verlagern, um von dort mit billigen Chauffeuren aus dem Osten auch im Schweizer Markt zu operieren.› David Piras, der Generalsekretär des Verbandes der Chauffeure Les Routiers Suisses, befürchtet gar das Ende der Schweizer Transportbranche, sobald ausländische Camionneure für schweizerische Inlandtransporte zugelassen würden: ‹Die würden das schnell machen, sei es, dass sie hinter der Grenze ihre Basis aufbauen, oder direkt in der Schweiz. Wenn das kommt, dann geht’s schnell. Tut weh. Also das macht uns sehr Angst.›»

Folgen für den öffentlichen Verkehr

Auch für den öffentlichen Verkehr in der Schweiz wären die Folgen verheerend, warnt Verbandsdirektor Ueli Stückelberger: «Wenn den Fernbussen, die vom Ausland kommen, erlaubt würde, auch im Inland Leute zu transportieren, gäbe das einen extremen Druck auf die öV-Preise, ein Teil der Kundschaft würde vom heutigen öV auf die ausländischen Fernbusse abwandern. Und im Güterverkehr gäbe es eine gewisse Rückverlagerung von der Schiene auf die Strasse.»

Doch Bundesrätin Leuthard geht über den geharnischten Einspruch der Realität ganz einfach hinweg und verkündet, es brauche «einheitliche Bedingungen, wie wir das in anderen Berufen ja auch haben. Dann ist es wahrscheinlich schwierig, das [die Aufhebung des Kabotageverbotes; mw] zu verhindern».

Nun, es dürfte allgemein bekannt sein, dass einheitliche Bedingungen für slowakische, italienische und Schweizer Transporteure nicht realistisch sind.

Derweil behauptet das EDA, die Abschaffung des Kabotageverbots sei in den laufenden Verhandlungen mit Brüssel kein Thema.

Ein wirklich guter Witz! Denn das Landverkehrsabkommen ist auf jeden Fall eines der Marktzugangsabkommen, für das der Rahmenvertrag gelten soll. Das heisst, dass die EU das Kabotageverbot innerhalb der Schweiz in drei, vier Jahren mit einer neuen EU-Richtlinie abschaffen könnte.

Vor solchen und anderen Gesetzesänderungen von oben herab wird uns weder der EuGH noch ein sogenanntes Schiedsgericht schützen. Wir Bürger müssen uns selbst schützen, mit einem Nein zum Rahmenvertrag.

Die verzwickte Sache mit den staatlichen Beihilfen

Vor einem knappen Jahr erwähnte der Bundesrat in einer Medienmitteilung, eine offene Frage in bezug auf das Rahmenabkommen seien «die staatlichen Beihilfen».1 Diese Bemerkung führte zu lautem Rauschen im Blätterwald. Es stellte sich nämlich folgendes heraus: Die EU-Kommission verlangt seit Beginn der Verhandlungen 2014, die Schweiz müsse dafür sorgen, «dass der Staat nicht verzerrend in den Wettbewerb eingreift, wenn sie am europäischen Binnenmarkt teilnehmen will. Darum solle sie staatliche Beihilfen verbieten», beziehungsweise «basierend auf dem EU-Recht anwenden». Dies sei Bedingung für den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens.

Staatliche Beihilfen wären bei uns zum Beispiel Staatsgarantien für Kantonalbanken. Oder Bundessubventionen für die Landwirtschaft oder für die Energieversorgung. Oder Gemeindebeiträge an ein Sportstadion. Über diese und zahlreiche andere staatliche Beiträge entscheiden auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene in der Regel wir Bürger an der Urne. Gemäss dem Vertrag über die Europäische Union sind jedoch staatliche Beihilfen «mit dem Binnenmarkt unvereinbar» (Artikel 107/108). In den EU-Mitgliedsstaaten muss jede geplante staatliche Unterstützung der EU-Kommission gemeldet werden, diese bewilligt sie nur, «wenn sie tatsächlich im Interesse der Öffentlichkeit liegen, also der Gesellschaft oder der Wirtschaft als Ganzes dienen».3 Eine ziemliche Gummi-Definition …

Auf die bundesrätliche Mitteilung im letzten Sommer kündigte die KdK (Konferenz der Kantonsregierungen) eine Untersuchung an und erwies sich für einmal als taugliche Vertretung ihrer Mitglieder.

Am 23. März 2018 hat nun die Plenarversammlung der KdK deutsch und deutlich -Position bezogen.4 Hier folgen einige Auszüge aus dem Positonspapier.

«Wenn die Schweiz ein Verbot staatlicher Beihilfen nach den Massstäben des EU-Rechts einführt, ist grundsätzlich das gesamte staatliche Handeln einer […] Kontrolle unterworfen. Das Beihilfenverbot erfasst auch Sachverhalte, denen […] eine regionale oder lokale Bedeutung zukommt. Betroffen wäre eine grosse Bandbreite von Politikbereichen. […]» (Punkt 5)

Deshalb hält die KdK glasklar fest: «Eine Verankerung von Regeln oder Grundsätzen über staatliche Beihilfen in horizontalen Abkommen wie zum Beispiel in einem institutionellen Abkommen oder einem Rahmenabkommen ist ausgeschlossen.» (Punkt 10)

Allenfalls könnten in einzelnen bilateralen Abkommen Grundsätze über staatliche Beihilfen geregelt werden, allerdings nur, wenn sie «der föderalistischen Struktur der Schweiz und den Eigenarten der einzelnen Wirtschaftssektoren Rechnung tragen». Allerdings hegt die KdK berechtigte Zweifel daran, dass ein von Brüssel aufgesetzter Vertrag diesen Anforderungen genügen kann: «Dabei ist im Auge zu behalten, dass das System der EU staatspolitisch und verfassungsrechtlich […] nicht mit dem Schweizer System kompatibel ist. Eine Übernahme und dynamische Weiterentwicklung der Regelungen der EU ist daher auf jeden Fall ausgeschlossen.» (Punkt 11)

Wenn schon müsste eine Regelung staatlicher Beihilfen im einzelnen Abkommen stehen (Punkt 14), und eine Kontrolle sei nur durch eine Schweizer Behörde und gemäss Schweizer Recht statthaft (Punkt 16/17).

Ausserdem dürfte eine Schweizer Überwachungsbehörde maximal eine Empfehlungsbefugnis gegenüber den Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden haben. Rückzahlungsverpflichtungen oder andere Sanktionen seien auszuschliessen (Punkt 18).

Soweit die Konferenz der Kantonsregierungen. Alle Achtung! Frau Leuthard und ihre Kollegen könnte man direkt zur KdK in die Lehre schicken… Allerdings nicht so ganz das, was die EU-Kommission von der Schweiz hören will…

Stimmen aus verschiedensten Ecken: Wir brauchen kein Rahmenabkommen

Nur schon anhand der beiden Beispiele – Aufhebung des Kabotageverbots und Einschränkung staatlicher Beihilfen – wird jedem klar: Kein Wunder, wollen unsere Bundesräte uns nicht verraten, was im geheimnisumwitterten Rahmenabkommen stehen soll. Je mehr Begehrlichkeiten die EU hineinpacken will, desto unwahrscheinlicher wird ein Ja des Volkes in der Referendumsabstimmung.

Erfreulich ist, dass immer mehr namhafte Persönlichkeiten aus verschiedensten Ecken sich einig sind, dass die Schweiz gar kein Rahmenabkommen braucht:

Daniel Lampart, Sekretariatsleiter und Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), am 20. Januar im «Blick»: «Aus unserer Sicht ist das Rahmenabkommen nichts, was die Schweiz haben müsste. Es ist die EU-Kommission, die das will und weniger die Mitgliedsstaaten. Aus ökonomischer Sicht besteht für uns kein dringender Handlungsbedarf.»5

Gerhard Schwarz, früherer Chef der NZZ-Wirtschaftsredaktion und Direktor von Avenir Suisse, und Rudolf Walser, früherer Chefökonom bei economiesuisse und ebenfalls bei Avenir Suisse, zählen in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 9. April eine ganze Reihe von Gründen auf, warum das Abkommen nicht – und vor allem nicht in «schwer verständlicher Hast» abgeschlossen werden darf: «Erstens wird heute auf der bestehenden Vertragsbasis jährlich ein Handelsvolumen von rund 240 Milliarden Franken (2016) so gut wie friktionslos abgewickelt. Zweitens ist beim Rahmenabkommen die EU ‹demandeur›. Die Schweiz oder die europäische und die schweizerische Wirtschaft haben nie ein institutionelles Rahmenabkommen verlangt. Drittens gibt es zurzeit keine Themen, die dringend nach einem bilateralen Abkommen rufen […].» Viertens raten Schwarz und Walser zu warten, bis der Brexit abgewickelt ist. Dagegen sei eine schnelle und ungleichgewichtige Lösung «wirklich eine ‹rote Linie› – für alle Liberalen genauso wie für alle, die das politische System der Schweiz […] für weniger schlecht halten als das der europäischen Partner und der EU.»6

Bankier Felix W. Zulauf mahnt den Bundesrat laut «Finanz und Wirtschaft» und Zeit-Fragen: «Bern kann nie gute Verträge mit der EU aushandeln, wenn die eigenen Vertreter lieber auf der anderen Seite des Tisches sässen.»7

Schliesslich hatte Rolf Dörig, Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes und Verwaltungsratspräsident von Adecco und Swiss Life, Gelegenheit, am 2. Mai an der Botschafterkonferenz des EDA zu sprechen, und schloss mit den Worten: «Wir müssen nicht um jeden Preis zu einem Rahmenabkommen mit der EU gelangen. Wir sind Partner auf Augenhöhe. Ich wünsche dem Bundesrat, dass er mutig ist. Ich bin überzeugt, dass ihn das Volk dafür belohnt.»8 Es ist zu hoffen, dass der EDA-Chef und seine Diplomaten gut zugehört haben.

Wenn also immer klarer zutage tritt, dass wir einen institutionellen Rahmenvertrag nicht brauchen und dass er nicht zur Schweizer Staatsstruktur passt – wie kommt unsere Mannschaft im Bundesrat und in der Bundesverwaltung dazu, ihn mit Hängen und Würgen zustandebringen zu wollen? Wie kommt sie dazu, die Brüsseler Bürokratie geradezu darauf zu bringen, dass damit noch einiges aus der Schweiz herausgepresst werden könnte? Der Bundesrat und ein Teil der vom Volk gewählten Parlamentarier wird uns dazu Rede und Antwort stehen müssen.                                        •

1  Medienmitteilung vom 28.6.2017

2  «Kantone rüsten sich wegen EU-Forderungen.» Ostschweiz am Sonntag vom 2.7.2017; vgl. «Auslegeordnung zur Jahresmitte 2017», Zeit-Fragen Nr. 17/18 vom 18.7.2017

3  EU-Kommission, «Informationen für Verbraucher. Staatliche Beihilfen für die Wirtschaft»

4  KdK Positionsbezug. Staatliche Beihilfen im Verhältnis Schweiz – EU. Plenarversammlung vom 23. 3. 2018

5  Lüchinger, René. «Wir brauchen kein Rahmenabkommen!» Interview mit SGB-Chefökonom Daniel Lampart. Blick vom 20.1.2018

6  «Vergessene rote Linien». Gastkommentar von Gerhard Schwarz und Rudolf Walser. «Neue Zürcher Zeitung» vom 9.4.2018

7  «Ordnung ins Verhältnis EU-Schweiz bringen» von Felix W. Zulauf. Zeit-Fragen Nr. 10 vom 8.5.2018

8  «Abkommen mit der EU – nicht um jeden Preis». Gastkommentar von Rolf Dörig. «Neue Zürcher Zeitung» vom 18.5.2018

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK