Gummistiefel statt Kochschürze

Gummistiefel statt Kochschürze

Kochlehrlinge holen Know-how im Stall und auf dem Acker

von Heini Hofmann

Die moderne Agglomerationsgesellschaft hat ein Problem: Ihr fehlt der Mist am Ärmel! Dieweil die Bauernsame schrumpft, explodiert die schollenentfremdete Konsumentenschaft. Dies führt zu Kontaktverlust zwischen Urproduzent und Endverbraucher. Not tut deshalb direkter Brückenschlag mit Ersthandinformation; denn nur diese wirkt glaubhaft und nachhaltig.

Ein Paradebeispiel dafür sind die schon seit Jahren zur Tradition gewordenen Schnuppertage von Kochlehrlingen der Allgemeinen Berufsschule Zürich (ABZ) im Landwirtschaftlichen Berufs- und Bildungszentrum (LBBZ) Plantahof in Landquart, sozusagen ein «Gummistiefel statt Kochschürze»-Experiment; denn was diesen zukünftigen Zubereitern der Urprodukte hier an Basiswissen vermittelt wird, dient nicht nur ihnen persönlich, sondern erfährt später in ihrem Berufsleben einen Multiplikatoreffekt.

Zurück zu den Wurzeln

Während bereits Rousseau ein «Retour à la nature» gefordert hat, tut heute für breite Volkskreise ein «Retour à l’agriculture» Not. Die moderne Stadt- und Agglomerationsjugend kennt exotische Wildtiere besser als einheimische Bauernhoftiere, denen die meisten nur noch als anspruchsvolle Konsumenten ihrer Produkte über den Tellerrand hinweg begegnen. Und dass die Natur Früchte und Gemüse saisonal hervorbringt, geht ob den zur Selbstverständlichkeit gewordenen Dauerangeboten bei den Grossverteilern total vergessen.

Kein Wunder, dass durch solche Entfremdung der Mist am Ärmel, sprich das Verständnis für handfeste biologisch-ökologische Zusammenhänge verlorengeht, was unrealistischen Forderungen Vorschub leistet, und zwar sowohl bezüglich überspitzter Konsumentenansprüche (weisses Kalbfleisch) als auch in Richtung tierschützerischer Extremforderungen (fleischlose Gesellschaft) – beides indirekt Ausdruck eines gesamtgesellschaftlich unguten Gefühls oder gar schlechten Gewissens über verdrängte, das heisst delegierte Verantwortung.

Solch alarmierende Ausgangslage gab den ungleichen Schulleitungen in Zürich und Landquart schon vor Jahren den Anstoss, einen Brückenschlag zwischen Landwirtschaft und Gastronomie im Massstab 1:1 zu realisieren. Und dieser hat sich dermassen erfreulich bewährt, dass er im Rahmen der Ausbildung der Kochlehrlinge im 1. Lehrjahr im sogenannten Intervallunterricht inzwischen zur festen Tradition und zugleich zu einem Höhepunkt geworden ist. Der findet jährlich im Mai statt.

Schlüsselqualifikation

Es spielt sich immer gleich ab: Die Boys und Girls der zukünftigen Kochgilde treten in fröhlich-lässiger Schulreisli-Stimmung an, nicht ahnend, dass sie nach diesen intensiven Erlebnistagen mit eisernem Frühaufstehen und praktischem Zupacken beim naturnahen Freiluft-Unterricht auf dem Feld und im Stall zwar glücklich, aber todmüde, dafür mit dauerhaftem Mist am Ärmel heimkehren werden. Und eines ist sicher: Die Forderung der Wirtschaft, den Lehrlingen vermehrt Schlüsselqualifikation zu vermitteln, lässt sich wohl nirgendwo nachhaltiger erfüllen als in solch praxisnahem Unterricht an der Erzeugerfront.

Zuerst dürfen die Agrar-Novizen ihre Vorstellungen über den Beruf der Bauern zeichnerisch zu Papier bringen – was reichlich romantisch ausfällt. Dann werden sie in die Realität der modernen Landwirtschaft eingeführt, wo im Rhythmus der Natur und unter dem Diktat von Markt und Strukturwandel hart gearbeitet wird. Gewisse Parallelen zur aktuellen Situation in der Gastronomie werden dabei offensichtlich, so dass man sich sofort näherkommt.

Von der Biene bis zum Rind

Dann heisst es, die Stiefel montieren. Das deftige Gschmäckli im Schweinestall führt anfänglich zu Nasenrümpfen. Doch bald dominiert das Interesse an diesen intelligenten, von Natur aus sauberen – und zudem meistgegessenen Tieren (der Durchschnittsschweizer verzehrt pro Jahr eine halbe Sau).

Beim Milchvieh imponieren die grossen Jahres- und Lebensleistungen, die nur bei optimaler Haltung, Fütterung und Pflege möglich sind. Und man nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass der Umgang mit freilaufenden und daher halbwilden Mutterkuhherden ein ganz anderer ist als mit den durchs tägliche Melken zutraulicheren Milchkühen. Dort helfen beim Zähmen der Jungbullen nur Methoden à la Monty Roberts: Bullen- statt Pferdeflüsterer.

Aber auch die kleineren Produktelieferanten unter den Nutztieren stossen auf Interesse. Wer hätte schon gewusst, dass nicht die weissen Hühner weisse und die braunen Hennen braune Eier legen, sondern dass die Farbe der Eischalen genetisch mit der Farbe der Ohrscheiben gekoppelt ist, dass also Hühnerrassen mit weissen Ohrläppchen weisse und solche mit roten Ohrscheiben braune Eier legen. Oder welch gewaltige Bedeutung der Blütenbestäubung durch die Honigbienen im Pflanzen- und Obstbau zukommt, ja, dass es ohne Immen weder Früchte noch Gemüse gäbe!

Ökologie und Regionalprodukte

Dann geht’s vom Stall aufs Feld, um den Unterschied zwischen Dauergrünland und Kunstwiesen (welche die früheren Brachen ersetzen) und zwischen offenem Ackerland und Spezialkulturen kennenzulernen samt den dazugehörenden Begriffen wie Fruchtfolge, Sortenwahl, Ökoflächen, Unkrautbekämpfung und Nützlingsförderung, das heisst optimale Ertragserwirtschaftung ohne Bodenschädigung.

Dass ökologische Landwirtschaft neben Minderertrag auch vermehrte Handarbeit bedeutet, können die angehenden Kochlehrlinge gleich selbst erfahren beim mühsamen Blackenstechen (Unkraut mit elend langen Wurzeln) von Hand statt mit der chemischen Keule. Schliesslich steht noch das Thema Regionalprodukte auf dem Programm, eindrücklich vordemonstriert in der schuleigenen und in der privaten Hofkäserei der Bauernfamilie Marugg in Klosters sowie in der Spezialitätenmetzgerei Mark mit eigenem Schlachthaus in Lunden ob Schiers: florierende Familienbetriebe, wo mit Hand und Herz gearbeitet wird – das sympathische Gegenteil von Massenfabrikation.

Nachahmenswert!

Kurz: Vom «Gummistiefel statt Kochschürze»-Experiment kehren die angehenden Köchinnen und Köche voller Impressionen in den Schulalltag nach Zürich zurück. Es bleibt die schöne Aussicht für ihre dereinstigen Gäste zu wissen, dass diese Chefs der Küchenbrigaden trotz weisser Berufskleidung etwas Mist am Ärmel haben, will heissen, dass sie wissen, wo und wie die Produkte entstanden sind, die sie ihren Gästen zubereiten. Deshalb: Die Aktion ABZ Zürich/LBBZ Plantahof Landquart ist ein sinnvolles und gewinnbringendes Experiment, das schweizweit Nachahmung verdient!

Pioniergeist am Plantahof

HH. Wo früher im sumpfigen Riedland die Postkutschen steckenblieben, hat auf dem Gebiet des heutigen Plantahofs in Landquart der Präzer Viehhirt Thomas Lareda, nachdem er zur Zarenzeit in St. Petersburg als Zuckerbäcker reich geworden war, 1811 ein kleines Gehöft, die Schnideri Bündt gekauft, das «dem Russen zu Liebe» in Russhof umbenannt wurde.

Braunvieh statt Baumwolle

Nachdem Lareda 1848 an einer Grippe gestorben war, ging das unterdessen stark erweiterte Anwesen, das zwischenzeitlich Christian Luzi, einem Agenturbetreiber für Auswanderer gehört hatte, 1886 an den erst 25jährigen, 1861 in Ägypten als Sohn eines Baumwoll-Magnaten geborenen Rudolf Alexander von Planta über, dessen Traum es war, Bauer zu werden. Von Planta gehörte in jener Zeit der Weichenstellung in der Bündner Viehzucht (kleines Bündner Grauvieh versus grosses Schwyzer Braunvieh) zu den Modernisten, geprägt von den erfolgreichen Zuchtmethoden, die er sich in England angeeignet hatte. Leider starb er 1895, knapp 35jährig, viel zu früh an einer heimtückischen Nierenkrankheit.

In seinem Testament setzte er – das war der Grundstein zur Landwirtschaftsschule Plantahof – den Kanton Graubünden als Universalerben ein, knüpfte jedoch die Bedingung daran, allzeit eine Rindvieh-Stammherde der Braunvieh-rasse zu halten und damit die Landeszucht zu alimentieren. Daran hat sich der Plantahof gehalten. Und ganz generell ist hier immer noch ein besonders starker Pioniergeist spürbar.

La vache qui pleure

HH. Wie weit die moderne Gesellschaft von den bäuerlichen Wurzeln entfernt ist, mögen einige Alltagsbeispiele belegen: Eine Kindergärtnerin und die von ihr besuchte Bäuerin trauen ihren Augen nicht. Vom Dutzend mitgebrachter Naturvollwaisen aus der Agglomeration buddeln sich gleich deren mehrere – wie kleine Säuli – in die Ackererde ein. Und ein anderer Dreikäsehoch rennt mit weit ausgebreiteten Armen quer über die Kleematte. Offensichtlich erste intensive Erlebnisse mit Wiesland und Erde. Wenn das nicht zu denken gibt!

Doch solches Phänomen beschränkt sich nicht bloss auf die jüngsten Sprosse der einstigen Bauern- und Sennennation. «Wachsen die Kartoffeln an den Stauden, da wo die Blüten stehen?» fragt eine vierzehnjährige Tochter aus der Stadt naiv-interessiert den Landwirt, bei dem sie ihr Reitross in Pension hat. Oder ein zwölfjähriger Schüler, von seinen Klassenkameraden als Computerchampion gefeiert, schreibt unbesorgt im Aufsatz: «Die Milch wird in der Fabrik hergestellt; Migros und Coop haben verschiedene Verfahren.»

Und umgekehrt zerbrechen sich Werber in gestylten Stadtbüros den Kopf darüber, wie der Milchkonsum gefördert werden soll, nämlich, indem der weisse Saft von seinem rustikalen Herkunfts-image, das heisst vom Kuh-euter und damit vom Stall- und Mist-umfeld zu befreien sei. Resultat: Das «Glas kalte Milch» ist tot, es lebe der «Ice milk drink». Dass ob solcher Entwicklung der braven Kuh Liese nicht die Tränen in die Augen schiessen!

Deshalb ist solch direkter Brückenschlag mit Ersthandinformation, wie ihn die Aktion «Gummistiefel statt

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