«Jedes fünfte Kind stört den Unterricht. Schon Kindergärtler sind heute aggressiv oder sogar gewalttätig – verhaltensauffällige Schüler bringen das Schulsystem an seine Grenzen», titelt die SonntagsZeitung am 28. April. Der Artikel alarmiert und wirft Fragen auf. Alarmierend ist die Zunahme von immer jüngeren Kindern, deren Verhalten Unterricht und Lernen in der Regelschule unmöglich machen. Die Rede ist von Vierjährigen, welche die Anweisungen von Kindergärtnerinnen ignorieren und diese beschimpfen, die andere Kinder provozieren und dauernd Streit anzetteln, deren Zeichnungen und Bastelarbeiten zerstören und diese schlagen. «Die Kinder», sagt Ursula Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich, «können kein Nein akzeptieren, zerstören mutwillig Dinge, wollen die Regeln nicht einhalten und plagen andere Kinder, verbal und körperlich.» Lehrer berichten von Kindern, «die den Tag unter dem Pult verbringen, fluchen, freche Antworten geben, den Unterricht mit nervtötendem Dauerlärm lahmlegen, ständig quasseln oder wegen einer schlechten Note den Stuhl durch das Zimmer werfen und einfach davonlaufen, wenn ihnen etwas nicht passt.»
Laut einer Umfrage von Reto Luder, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich, wurden 950 von 4300 Schülern in Zürich und Winterthur von den Lehrern als auffällig eingeschätzt. Für 60 Prozent der Klassenlehrer seien verhaltensauffällige Schüler der grösste Belastungsfaktor. Ähnliche Schwierigkeiten werden aus dem Kanton Genf und auch aus Basel gemeldet. Die Zahl der Vorfälle mit verhaltensauffälligen Kindern sei in den letzten Jahren stark gestiegen, sagt der Präsident der Basler Schulsynode und bestätigt damit die Zürcher Befunde. Auch aus Deutschland, Österreich und weiteren Ländern erreichen uns ähnlich lautende Berichte von Lehrern. Das wirft Fragen auf, Fragen nach der Entwicklung unserer Schulen, aber auch der Erziehung ganz allgemein. Es braucht ein ehrliches Nachdenken über Ursachen und Lösungen.
Der Artikel in der SonntagsZeitung hat eine Flut von Leserbriefen ausgelöst. Die meisten fordern wieder mehr Kleinklassen, insbesondere Einführungsklassen, denn nur so könne die Schule sowohl Verhaltensauffälligen als auch der Mehrheit der Kinder gerecht werden. Heute werden immer mehr verhaltensauffällige Kinder auf Grund der Forderung nach «Inklusion» in den Regelklassen durch ein ganzes Heer von Schulpsychologen, Schulsozialarbeitern, Fachleuten für Gewaltprävention, Heilpädagogen und Lehrern einzeln betreut, und Kleinklassen werden geschlossen.
Die ideologisch gestützte Abschaffung der Kleinklassen habe aber überhaupt nicht zu mehr Integration geführt, schreibt ein ehemaliger Kleinklassenlehrer und heutiger Leiter eines Internats mit internen und externen Sonderschulplätzen für Kinder mit «emotionalem und sozialem Förderbedarf». «Im Gegenteil: Zunehmend schwierige Situationen für die überforderten Schüler, Lehrer und Eltern haben den Bedarf an Plätzen an Sonderschulen (und damit die Kosten) wachsen lassen.»
Ein heute 91jähriger Sonderklassenlehrer und Heilpädagoge für die Oberstufe «hintersinnt» sich nun schon fast 40 Jahre, wieso die «Betreuungsindustrie samt ideologischem Grundton» bereits in den achtziger Jahren die gesammelten Erfahrungen in kurzer Zeit «weggeputzt» hat. Er schreibt: «Das damalige Kleinklassen-Konzept hat funktioniert. Die Ressourcen, um die ‹schwierigen› Schüler zu betreuen, waren im Gleichgewicht in bezug zu den Herausforderungen, und jeder einzelne Jugendliche konnte begleitet werden. Begleitung im Sinn von: Die Stärken eines Menschen fördern, die ihm eine Zukunft verheissen.» Das Ergebnis lasse sich auch aus heutiger Sicht mehr als sehen. Viele seiner Sonderklassen-B-Schüler seien später Unternehmer geworden. Er hat die Erfahrungen mit Kleinklassen für verhaltensauffällige Schüler minutiös aufgeschrieben und wäre äusserst interessiert, dass sie nicht verlorengehen. «Es würde mich sehr glücklich machen», schreibt er, «wenn zum Schluss meines Lebens jüngere Personen, die diesen Weg wieder zu beschreiten versuchen, mit diesen Informationen arbeiten könnten.» (SonntagsZeitung vom 12. Mai)
Wenn wir über Ursachen der Verhaltensauffälligkeit nachdenken und nach Lösungen suchen, kommen wir nicht darum herum, auch die Erziehung miteinzubeziehen. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen. Aber ein Kind, das dem Lehrer die Zunge rausstreckt und sagt: «Du hast mir gar nichts zu sagen!», das die Kindergärtnerin tritt und beisst und andere Kinder plagt, ist nicht als verhaltensauffälliges Kind zur Welt gekommen. Kinder entwickeln aus dem, was sie am Anfang ihres Lebens vorfinden, einen eigenen Lebensstil, in welchem in den beschriebenen Fällen die Verhaltensauffälligkeiten eine Strategie zur Durchsetzung des eigenen Willens sind. Erklärungen wie, dass solche Kinder überfordert sind, greifen zu kurz, denn ein überfordertes Kind könnte ja ebenso gut um Hilfe bitten und nachfragen, wenn es etwas nicht versteht. Falsche Theorien führen nicht nur in den Schulen, sondern auch in vielen Familien zu chaotischen Zuständen. Eltern und Lehrer sind heute oft gleichermassen im Stich gelassen.
Es muss einem schon zu denken geben, wenn bei allem Reichtum an Wissen und schönen Ideen – festgehalten in unzähligen Büchern und Bibliotheken – weitaus die meisten Menschen heute noch keinerlei Kenntnis über die Entwicklung des menschlichen Seelenlebens haben und das Gelingen der Erziehung weitgehend dem Zufall überlassen ist. Wie ist es zu erklären, dass hundert Jahre, nachdem sich die Psychologie als Wissenschaft etablieren konnte, Väter und Mütter immer noch in der Erziehung scheitern, weil sie weder sich noch ihre Kinder verstehen, und das, obwohl es bereits im letzten Jahrhundert zahlreiche Versuche gegeben hat, die psychologische Menschenkenntnis für die Erziehung nutzbar und allen Menschen zugänglich zu machen?
Indem wir die Frage der Erziehung in den letzten dreissig, vierzig Jahren sträflich vernachlässigt haben, haben wir die natürliche Abfolge des Lebens ignoriert und versucht, auf dem Kopf zu gehen. Die verhaltensauffälligen Kinder geben uns heute die Antwort. Sie sagen uns, dass es so nicht geht. •
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