Ungenutzte Lehrstellen und Lehrabbrüche

Der Bildung unserer Jugend und dem dualen Berufsbildungssystem Sorge tragen!

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Im August beginnen Zehntausende von Jugendlichen im Land eine Berufslehre. Die duale Berufsbildung mit meist drei Tagen pro Woche im Lehrbetrieb und zwei Tagen in der Berufsschule gilt in der Schweiz als «Königsweg» zum Start ins Berufsleben. Lehrstellen in mehr als 2600 Berufen stehen den Schulabgängern laut der Homepage berufsberatung.­ch zur Verfügung. Dass der Anteil der Gymnasiasten im internationalen Vergleich kleiner ist, ist weder für die Jugend noch für den Wirtschaftsstandort ein Nachteil. Denn, so der Historiker Professor Caspar Hirschi: «Das Schweizer Bildungssystem hat im internationalen Vergleich drei Vorzüge: Vielfalt, Offenheit und Durchlässigkeit. Es ist vielfältig, weil Jugendliche die Wahl zwischen Berufslehre und Gymnasium haben und danach mit fast jedem Abschluss Anschluss an neue Ausbildungen gewinnen. Es ist offen, weil Bildungsinstitutionen bis hinauf zu den Spitzenhochschulen allen mit den entsprechenden Qualifikationen freien Zugang gewähren. Und es ist durchlässig, weil auf fast jeder Stufe der Quereinstieg in andere Ausbildungen möglich ist. Dank unserem Bildungssystem führen viele Wege an die Spitze von Wirtschaft und Politik.»1
Diesem hervorragenden Bildungssystem sollten wir Sorge tragen, zum Wohl der Jugend und der heute noch gut aufgestellten Schweizer Wirtschaft. Es ist alarmierend, dass auch diesen Sommer wieder Tausende von Lehrstellen unbesetzt bleiben und dass erschreckend viele Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden. Im Lehrstellen-Treffpunkt yousty (www.yousty.ch) werden – während das Lehrjahr bereits begonnen hat! – mehr als 4600 offene Lehrstellen in allen Branchen angeboten, auch in den beliebten Berufen Kaufmännische Angestellte (KV) oder Fachangestellte Gesundheit (FaGe), ja, sogar vereinzelte Stellen im begehrtesten Bereich, der Informatik – und viele, viele in handwerklichen Berufen und im Verkauf. Dass die Schülerzahl in der Oberstufe in den letzten Jahren rückläufig war, ist ein Erklärungsversuch, dass immer mehr Jugendliche die Matura machen wollen, ein anderer.2 Der rein statistische Ansatz lässt aber wesentliche Aspekte aus.

Grosse schulische Defizite vieler Lehrlinge

Was die meisten Medien ihrer Leserschaft verschweigen, ist die unerfreuliche Tatsache, dass ein Teil der Lehrstellen leer bleibt, weil viele Schulabgänger einen weniger gut gefüllten Rucksack aus der Volksschule mitbringen als Jugendliche früher. Das Bild des «gefüllten Rucksacks» wird hier bewusst verwendet, auch wenn es heute als «rückständig» verpönt ist: Die «Anhäufung» von Wissen sei nicht mehr nötig, so die Schulreformer, weil ja in der digitalisierten Welt alles jederzeit abrufbar sei und ausserdem rascher veralte. Diese Aussage wird trotz ständiger Wiederholung nicht wahrer, sondern demonstriert die fehlende pädagogische Bodenhaftung der «Experten», die sich ihrer bedienen.
Fakt ist: Lehrbetriebe wie Berufsschulen stellen bei den unerlässlichen schulischen Grundlagen (lesen, schreiben, rechnen) immer häufiger grosse Defizite fest. Ursache ist der Paradigmenwechsel im Lehrplan der Volksschule sowie in der Lehrerbildung. Das sieht zum Beispiel so aus: «In dieser Schule der Zukunft legt jedes Kind zu Beginn der Woche selber fest, was es lernen möchte. Vielleicht will es ein Computerspiel selber programmieren, vielleicht mithilfe eines Youtube-Videos Französisch üben. Ältere helfen Jüngeren, sie erhalten dafür Bonuspunkte und können wie in einem Spiel in neue Stufen aufsteigen: vom ‹Basisschüler› bis zum ‹Experten›. Um ihren Status zu halten, müssen sie andere Kinder unterstützen. Die Lehrerin sitzt zwar noch im Klassenzimmer, sie nennt sich jetzt Lerncoach und berät die Schüler individuell. Ihre Hauptaufgabe ist es zu motivieren. Die Lernfortschritte verfolgt sie online, denn jedes Kind arbeitet mit einem Tablet. So utopisch das jetzt vielleicht klingen mag, an einigen Orten in der Schweiz ist das so ähnlich Realität.»3
Gegen solcherlei «Realität» muss der Protest dringend lauter werden! Wie soll das Kind allein mit einem Youtube-Filmchen Französisch üben, wenn es die Ausspracheregeln nicht kennt und die Wörter nicht versteht – ganz zu schweigen von Satzbau und Grammatik? Die Online-Kontrolle durch den Lehrer kann die reale Lehrer-Schüler-Beziehung niemals ersetzen, und das wichtige freiwillige Miteinander unter den Mitschülern wird durch ein ausgetüfteltes Belohnungssystem geradezu pervertiert. Es ist der Kern des Lehrerberufes, sein eigentlicher Sinn, die Lernfreude der Kinder anzusprechen oder zu wecken. Den Lehrer zu einem Coach hinabzumindern und jedes Kind mit seinem Tablet alleinzulassen, ist ein Unrecht an unserer Jugend. Es kann dazu führen, dass Kinder die Lernbereiche, die sie sich nicht zutrauen, wo immer möglich umgehen. Dies kann dann zur Folge haben, dass gute Lehrstellen ungenutzt bleiben.

Ein Viertel der Lehrverträge wird vorzeitig aufgelöst

Eine Schule wie die oben beschriebene kann es dem jungen Menschen verunmöglichen, mit den Anforderungen einer Lehrstelle zurechtzukommen. Lücken im Schulstoff können vielleicht ein Stück weit nachgeholt werden – wenn er will. Aber ob er sich darauf einstellen kann, Anweisungen zu befolgen, Misserfolge einzustecken, es noch einmal und noch einmal zu versuchen, Freude zu bekommen am konstruktiven Tun, stolz zu sein, wenn es ihm gelingt, einen Auftrag zuverlässig und termingerecht zu erledigen – all dies kann ausschlaggebend sein für eine erfolgreiche Berufslehre.
Beunruhigend hoch ist denn auch die Zahl der aufgelösten Lehrverträge. Das Bundesamt für Statistik stellt in einem Bericht von 2017 fest: «Unter den rund 60 500 Lernenden, die im Sommer 2012 eine berufliche Grundbildung begonnen haben, werden knapp 15 000 vorzeitige Lehrvertragsauflösungen verzeichnet. Bezogen auf die Gesamtzahl der Verträge beträgt die Auflösungsquote 25 %.» Betroffen waren 12 500 Jugendliche oder 21% (das heisst, bei manchen von ihnen wurden mehrere Verträge aufgelöst).4
Mehr als ein Fünftel der Jugendlichen erleidet Schiffbruch in der Lehre! Da hilft es wenig, wenn der Lehrstellen-Treffpunkt yousty den Lehrabbruch als «neue Herausforderung» bezeichnet, falls die Stelle oder das Arbeitsumfeld einem Lehrling nicht entspreche (https://www.yousty.ch/de-CH/lehrabbruch). Selbstverständlich gibt es immer wieder Beispiele, wo der Lehrberuf den Fähigkeiten und Neigungen eines Jugendlichen nicht entspricht oder wo die «Chemie» zwischen dem Lehrmeister und dem Lehrling nicht «stimmt». Dann kann ein Wechsel an eine andere Stelle oder zu einem anderen Beruf sinnvoll sein. Aber das waren früher Einzelfälle. Dass heute jeder vierte Lehrvertrag durch den Lehrling oder den Ausbildungsbetrieb aufgelöst wird, ist ein Alarmzeichen! Wird hier die zukünftige 4.0-Gesellschaft geprobt, in der ein grosser Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung schon in jungen Jahren als Sozialbezüger ausgemustert werden soll?

Praktische Fertigkeiten können nicht am PC erworben werden

Am meisten unbesetzte Lehrstellen gibt es in handwerklichen Berufen. Die ersten 15 Stellen im Stellensuche-Portal von yousty, die sofort angetreten werden könnten: Coiffeur, Elektroinstallateur, Recyclist, Gerüstbauer, Strassenbauer, Netzelektriker, Kaufmann, Detailhandelsfachmann, Logistiker, Kältesystem-Monteur, Spengler, Koch, Bäcker/Konditor/Confiseur, Automobil-Mechatroniker, Pharma-Assistent. Allesamt drei- bis vierjährige EFZ-Ausbildungen, deren erfolgreicher Abschluss mit einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis bestätigt wird.
So sucht gemäss Tagespresse zum Beispiel der Eigentümer einer Haustechnikfirma, der in 30 Jahren über 100 Lehrlinge ausgebildet hat, seit einem Jahr vergeblich einen Heizungsmonteur-Lehrling. Wie Zehntausende andere Schweizer KMU sieht es auch dieser Unternehmer als seine Verantwortung, einen Beitrag zur Berufsbildung der Jugend zu leisten. Aber die Suche nach passendem Nachwuchs werde immer schwieriger. Dies sei nicht nur ein Problem für die sinnvolle Zusammensetzung des Teams in seiner Firma, sondern auch für die Zukunft des Schweizer Wirtschaftsstandortes: Die unbesetzte Lehrstelle werde sich später einmal auswirken, weil ein ausgebildeter Fachmann fehlt, den es eigentlich bräuchte.5
Das mangelnde Interesse an handwerklichen Berufen hängt auch mit der zunehmenden Lernzeit am Computer zusammen, die gemäss Lehrplan 21 bereits im Kindergarten einsetzt. Folge davon ist eine fatale Einseitigkeit der Bildung. Die praktischen Fertigkeiten, das Zeichnen und Schreiben von Hand (Schnürlischrift), das Arbeiten mit Werkzeugen und verschiedensten Materialien kommen dabei logischerweise viel zu kurz. In den Fachbereichen «Gestalten» und «Natur, Mensch, Gesellschaft» werden zwar Unmengen von Lernzielen mit praktischem Bezug aufgezählt, so dass einem schon beim Lesen der Kopf schwirrt. Aber einen Nagel richtig einzuschlagen oder eine Strecke genau zu messen, lernt man nun einmal nicht am Computer und nicht von einem Coach, sondern nur von einem begeisterten Lehrer. Erstaunlich, dass diese einfachen Tatsachen vom Wirtschaftsverband economiesuisse und anderen Stimmen in der Schweizer Wirtschaft (vor allem in den Grossbetrieben) bisher kaum beachtet werden. Mit ihrem Drängen zur Volldigitalisierung von Schule, staatlicher Verwaltung und Arbeitswelt übergehen sie im Grunde genommen das gesamte handwerkliche Gewerbe.

Ein Lichtblick: 41 junge Schweizer an den World Skills vom 22.–27. August

Die Volldigitalisierung von Schule und Arbeitswelt wird’s nicht richten. Denn wenn die Heizung defekt ist oder die Fahrradschaltung klemmt, ebenso in der Pflege und in unzähligen anderen Berufen braucht es den Fachmann, die Fachfrau, den Menschen.
Ein Lichtblick sind die 41 jungen Schweizer Berufsleute, welche derzeit an den World Skills in der russischen Stadt Kazan unser Land vertreten und eine Top-3-Platzierung in der Nationenwertung anstreben. In einem Feld von 1600 Bewerbern aus 63 Nationen ein hohes, aber – wie es sich an den World Skills der letzten Jahre gezeigt hat – durchaus erreichbares Ziel.    •

1    Hirschi, Caspar, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. «Der Hype ums Gymnasium bedroht unser Bildungssystem». NZZ am Sonntag vom 11.8.2019, Gastkolumne
2    «Gesucht: Tausende Lehrlinge». St. Galler Tagblatt vom 12.8.2019
3    Burri, Anja. «Schule nach dem Lustprinzip». NZZ am Sonntag vom 18.8.2019
4    Bundesamt für Statistik. «Lehrvertragsauflösung, Wiedereinstieg, Zertifikationsstatus. Resultate zur dualen beruflichen Grundbildung […]», 2017, S.5
5    «Gesucht: Tausende Lehrlinge». St. Galler Tagblatt vom 12.8.2019

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