Familienausflug mit zwei Buben

Genauere Betrachtung einer ganz normalen Erziehungssituation

von Marita Brune-Koch, Pädagogin

Zwei lebendige Buben, etwa 4 und 6 Jahre alt, nette bemühte Eltern auf einem Ausflugsschiff der Blau-Weissen Flotte irgendwo in Deutschland. Der Vater ist sehr aktiv in der Beziehung zu den beiden Buben, spricht mit ihnen, erklärt ihnen vieles. Schliesslich lädt er sie ein, mit ihm auf Deck zu kommen und zu schauen, wie es dort ist. Er füllt seine Vaterrolle wunderbar aus, zeigt seinen Jungs die Welt. Es ist eine Freude, dies mitanzusehen. Doch auch in einer solch idealen Situation geschehen Abläufe, die zum Denken und Reflektieren anregen.
Der Kleinere klettert auf eine Bank an der Reling, der Vater passt auf, dass er nicht über Bord fällt. Der Vater gibt klare Anweisungen: «Nicht klettern, sitzen bleiben! Ja, gut, auf die Knie darfst du, aber nicht höher.» Währenddessen hat der Grössere ein Schwesterschiff entdeckt und versucht, den Vater aufmerksam zu machen: «Papa, guck mal da, die Blau-Weisse Flotte!» Der Vater hört nicht, er ist mit der Sicherheit des Jüngeren beschäftigt. Der Ältere gibt nicht auf: «Papa, guck mal da, die Blau-Weisse Flotte!», ruft er, schon lauter und tippt dem Vater auf den Arm. Obwohl der Kleinere nun sicher auf der Bank kniet, hört der Vater immer noch nicht, der ältere Bub wird energischer, er zieht den Vater am Ärmel, Papa, guck doch mal! Und zeigt mit seinem Arm in Richtung des Schiffes, das zu entschwinden droht. Vier, fünf Mal geht das so, der Bub gibt nicht auf, wird fordernder, lauter, aber auch verzweifelter. Der Vater legt beschwichtigend seine Hand auf den Kopf des Sohnes, sagt ihm, er solle nicht so aufdrehen, guckt aber nicht hin, was der Sohn ihm zeigen will, hat es womöglich nicht gehört. «Jetzt müssen wir erst mal Fotos machen», sagt er, zückt seine Handy-Kamera und fotografiert alles Mögliche, nur nicht das Schiff, das für seinen Sohn von Interesse war. Er nimmt nicht wahr, wie sein Sohn resigniert aufgibt.
Wieder unter Deck am Kaffeetisch. Der Vater unterhält sich mit der Mutter, die beiden Jungs fangen irgendeinen Händel an, werden laut, fuchteln mit den Händen, ein handfester Streit scheint sich anzubahnen. Plötzlich haut der Vater dem älteren Sohn eine Speisekarte auf den Kopf. Betroffene Stille tritt ein. Der Geschlagene guckt sehr betroffen, dann tief gekränkt, beschämt, dreht sich auf seinem Stuhl um, weg von Vater und Familie und der übrigen Gesellschaft im Raum. Der Vater scheint zu empfinden, dass etwas an seiner Reaktion nicht stimmte, denn er bringt – quasi entschuldigend und für die ganze Gesellschaft drumherum gut hörbar – vor: «Ich habe dich gewarnt! Ich mach’s auch noch mal, wenn’s sein muss. Auch hier.» Die Mutter schaut die ganze Zeit aus dem Fenster. Von ihr ist nichts zu hören. Der Kleinere klettert auf Vaters Schoss, die beiden haben’s scheinbar nett und lustig miteinander. Währenddessen wendet sich der Grössere noch immer ab, ist nicht mehr in der Familie. Nach etwa 10, 15 Minuten beendet der grosse Bub sein Schmollen, wendet sich wieder der Familie zu, und der Vater empfängt ihn mit ausgebreitetem Arm, nimmt ihn wieder mit auf ins Familiengeschehen.
Zwei alltägliche Szenen, nicht ausgefallen und besonders krass, und doch kann in solchen Abläufen der Keim für unheilvolle, ungewollte Entwicklungen liegen.
Schauen wir uns das Ganze einmal etwas genauer an: Der Vater ist sehr bemüht. Er hat beide Söhne gern, das merkt man, er will ihnen etwas zeigen von der Welt, ist auch aktiv in der Beziehungsgestaltung. Seine Rolle als Vater füllt er voll aus. Und doch passieren kleine Unglücke, ohne dass er es will, und teilweise ohne dass er es überhaupt bemerkt.
In der ersten Szene hätte es gereicht, wenn er wahrgenommen hätte, was sein Sohn ihm zeigen will. Ein Blick und eine Reaktion: «Ja, stimmt, du hast ein Schiff der Blau-Weissen Flotte entdeckt» – und der Sohn hätte sich erfasst und gesehen gefühlt. «Prompte Reaktion» – wie von der Entwicklungspsychologie für eine gedeihliche Entwicklung des Kindes gefordert – braucht oft so wenig. Ein Augenblick der Aufmerksamkeit, der ruhigen Wahrnehmung und der angemessenen Reaktion. Wenn die nicht beim ersten Mal und sofort erfolgt, macht das nichts, wir sehen an dem Beispiel ja, wie hartnäckig der Bub die Aufmerksamkeit des Vaters einfordert. So aber macht er das Erlebnis, nichts bewirken zu können, das Gefühl, dass der Vater ihn nicht sieht, nicht wahrnimmt, nicht verstärkt, hat Raum greifen können. Einmal ist keinmal – sagt der Volksmund, und tatsächlich, wenn dies ein einmaliges oder seltenes Erlebnis wäre, wäre es nicht schlimm, prägend wird es, wenn es die Regel wird. Es besteht auch die Gefahr, dass der Bub seinen Misserfolg dahingehend verbucht, dass dem Vater der Kleinere wichtiger sei, dass er nur Aufmerksamkeit für diesen habe – und zwar unabhängig davon, ob dies tatsächlich so ist oder nicht. Beim Älteren kann das ein eventuell schon vorhandenes Entthronungserlebnis verstärken, er könnte sich zur Seite geschoben fühlen. Dies gilt es für Eltern im Auge zu haben und eventuell zu korrigieren.
Und wie wollen wir die zweite Episode bewerten?
Ganz sicher hat der Vater recht, wenn er von den Buben verlangt, dass sie nicht stören, nicht zu lärmen und zu streiten anfangen, wenn er sich am Tisch mit der Mutter unterhalten will. Es ist wichtig, dass Kinder lernen, dass sie nicht immer im Mittelpunkt stehen, dass Erwachsene sich einmal in Ruhe unterhalten können, auch wenn die Kinder der Unterhaltung nicht oder nur wenig folgen können, dass es im Restaurant auch andere Leute gibt, die ungestört ihr Essen geniessen wollen. Kurz vorher hatte sich der Vater ja auch noch ausführlich den Kindern gewidmet. Doch nun haben sich die Buben nicht an die Regeln des Vaters gehalten. Sie haben zu streiten und zu lärmen angefangen, wurden sogar über den Tisch handgreiflich. Wir wissen nicht, ob dies noch der vorigen Situation geschuldet war, möglicherweise hat der ältere Bub aus Eifersucht mit dem kleinen Streit angefangen. Wie auch immer, es war richtig, dass der Vater eingreift und deutlich Grenzen setzt. Es war auch gut, dass er prompt reagiert hat, mit einer gefühlsmässigen Reaktion. Die Kinder müssen merken, was sie bei ihren Eltern und sonstigen Bezugspersonen bewirken. Das merken sie nicht über Erklärungen, sondern über Affekte. Und doch: Ein Schlag, noch dazu in aller Öffentlichkeit, wirkt demütigend. Er wird zwar kaum weh getan haben, der Vater hatte nur mit einem Kartondeckel geschlagen – aber es kommt auf die Geste an. Verstärkt wurde die Wirkung noch dadurch, dass im Anschluss der Kleinere auf des Vaters Schoss kletterte und mit ihm lieb tat und der Vater mit ihm. So war eindeutig der ältere Sohn «der Böse» – und das ist gefährlich. Wir wissen zwar nicht, wie und ob der Kleinere an der Entwicklung des Streites beteiligt war, aber es ist wichtig, dass Eltern unparteiisch bleiben und nicht Signale aussenden, die solche Einteilungen im Gefühl der Kinder begünstigen. Das ist problematisch für den Älteren: Wenn er gehäuft solche Erlebnisse macht, könnte sich das Gefühl herausbilden, abgelehnt zu werden, und in der Folge könnten sich ungute Charaktereigenschaften entwickeln: Trotz, Opposition, Rückzug, um einige typische zu nennen. Doch auch für den Jüngeren ist eine solche Einteilung gefährlich: Ein jüngeres Kind, das erlebt, dass der Ältere immer «der Böse» und es selbst «der Gute» ist, wird Ängste entwickeln, wie es ist, in die Rolle des Bösen zu rutschen. Das kann korrumpieren und auf jeden Fall unfrei machen. Zwischen den Geschwistern erschweren solche wertenden Zuschreibungen die Entwicklung von Freundschaft.
Nochmal: Wenige solcher Erlebnisse sind nicht der Weltuntergang. Erziehungsfehler kann man korrigieren, und ein Erziehungsfehler bewirkt noch kein Trauma. Der Vater hat ja auch bewusst und freudig den älteren Sohn wieder einbezogen. Problematisch wird es, wenn sich solche Abläufe wiederholen, Muster einspielen, ohne dass die Erwachsenen das bemerken. Sie müssen aufmerksam die Entwicklung des Gefühlslebens ihrer Kinder beobachten und eventuell korrigierend eingreifen.
Zurück zur Situation am Tisch. Was hätte der Vater – oder auch die Mutter – tun können, statt zu schlagen? Vielleicht hätten sie deutlich – und dabei sollte ihr Gefühl mitschwingen – zu beiden sagen können: Nein, Linus und Leon (oder wie immer die beiden auch heissen), hört sofort auf! Falls der Streit und die Unruhe weitergegangen wären, hätte man die beiden vielleicht trennen können, der eine rechts vom Vater, der andere links von der Mutter. Eine deutliche Reaktion ist jedenfalls in einer solchen Situation durchaus angezeigt, und es ist wichtig, dass die Eltern die Störung beenden und eine Situation herstellen, die ihnen eine ruhige Unterhaltung ermöglicht. Denn fraglos ist es auch von grosser Bedeutung, dass die Kinder lernen, Rücksicht zu nehmen und die Bedürfnisse der Eltern zu respektieren.    •

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