US-Armee zieht aus Syrien ab

Lösung in Syrien durch Vermittlung Russlands?

von M. K. Bhadrakumar*, Indien

Das Szenario, das hinter dem Vorhang durch monatelange, oft persönliche Gespräche zwischen der russischen und der türkischen Führung über Nordostsyrien vereinbart wurde, tritt mit dem Abkommen zwischen den Kurden und dem Assad-Regime in eine kritische Phase der Umsetzung vor Ort ein.
Wir haben ein komplexes Szenario, in dem einerseits die türkische Armee und die Ankara-treuen syrischen Oppositionseinheiten ihre nach Süden gerichtete Offensive fortsetzen, um die Kontrolle über die von den Kurden bevölkerten Grenzregionen Syriens auszubauen. Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Erdogan wurden bereits 1000 Quadratkilometer Land, das zuvor unter kurdischer Kontrolle stand, «befreit».
Andererseits sind im Anschluss an das Abkommen mit den Kurden die ersten Kolonnen syrischer Regierungstruppen in den Norden des Landes Richtung türkische Grenze gezogen.
Auf den ersten Blick scheint es, dass Damaskus sich der türkischen Offensive entgegenstellen will und dass es im Prinzip zu einer Konfrontation kommen könnte. Aber in Syrien geschieht nichts so, wie man es auf den ersten Blick erwartet.
Ein Zusammenstoss zwischen türkischen und syrischen Kräften ist ausgeschlossen. So wird das Spiel nicht gespielt. Eine Erklärung des türkischen Verteidigungsministeriums vom Montag [14. Oktober] teilte mit, dass der Militärchef General Yasar Guler und sein russischer Amtskollege General Valery Gerasimov telefonisch in Kontakt standen und über die «Sicherheitslage in Syrien und die jüngsten Entwicklungen» diskutierten.
Es wurden keine weiteren Details bekanntgegeben, aber das Bild, das sich ergibt, ist, dass Russland vorgeschlagen und mit der Türkei vereinbart hat, dass nach dem Abzug der US-Truppen russische Einheiten im Gebiet zwischen türkischen und syrischen Streitkräften in Nordsyrien patrouillieren werden.
Dementsprechend hat das Moskauer Verteidigungsministerium bekanntgegeben, dass seine Militärpolizei in der kurdischen Stadt Manbij begonnen hat, entlang der syrisch-türkischen Grenze zu patrouillieren und sich mit den türkischen Behörden abzusprechen. Russische Truppen betraten am Montag zusammen mit den syrischen Regierungskräften die Stadt Manbij.
Noch wichtiger ist, dass sich Ankara und Damaskus mit Hilfe der russischen Vermittlung auf eine Aufteilung der Kontrollzonen in Nordsyrien einigen werden. Das heisst, die Dinge bewegen sich weitgehend in Richtung dessen, was im Adana-Abkommen von 1998 (über die Kurden-Frage) zwischen der Türkei und Syrien vorgesehen war, nämlich dass die Sicherheit der syrisch-türkischen Grenze eine bilaterale Angelegenheit zwischen Ankara und Damaskus sein soll.
In der gegebenen Situation ist es für die Türkei zwingend notwendig zu verhindern, dass an ihren Grenzen ein zusammenhängendes «Kurdistan» entsteht. Die sogenannte «sichere Zone» zielte darauf ab, die Pläne der USA zur Schaffung eines Kurdistans – ähnlich dem, was sie in der Saddam-Hussein-Ära im Irak geschaffen hatten – in Syrien zu vereiteln.
In dieser Hinsicht könnte es wohl zu einer Übereinstimmung der Interessen zwischen Ankara und Damaskus kommen. (Auch Teheran hat in dieser Hinsicht gemeinsame Interessen mit seinen beiden Nachbarn.)
Für Damaskus ist dies alles ein grosser Glücksfall, da der «freiwillige Rückzug» (wie das Pentagon es ausdrückte) – oder genauer gesagt die unvermeidliche Vertreibung der US-Truppen aus den nördlichen Regionen Syriens durch den türkischen Vorstoss – es Damaskus ermöglicht, Teile der nordöstlichen Regionen wieder zu besetzen, insbesondere die Teile, die gut mit Wasserressourcen und Ölreserven ausgestattet sind und die das amerikanische Militär als seine ausschliessliche Wirtschaftszone bezeichnet hatte.
Für Präsident Bashar al-Assad ist dies ein grosser Schritt nach vorn bei der Erfüllung seines Versprechens, die Kontrolle über ganz Syrien zurückzuerlangen (siehe Euronews-Kommentar «‹Damaskus scheint stärker denn je›: Wie entwickelt sich Syrien, wenn sich die Kurden mit Assad zusammenschliessen?»).
Was die Kurden betrifft, so können sie nirgendwo hingehen, ausser sich mit Damaskus zu einigen. Sie haben nun wirklich keine Möglichkeit, der hochprofessionellen türkischen Armee zu widerstehen.
Offensichtlich haben der türkische Vorstoss und die bevorstehende Offensive gegen die Kurden die anhaltende amerikanische Militärpräsenz in Nordsyrien unhaltbar gemacht, und Russland hat die Situation genutzt, um das Abkommen zwischen den Kurden und Damaskus zu erreichen.
Nachdem dies gelungen ist, haben die Russen die Türken ins Vertrauen gezogen. Es überrascht nicht, dass Präsident Recep Erdogan ganz entspannt über das Abkommen zwischen den Kurden und Damaskus redet und die syrischen Truppenbewegungen in der Nähe der türkischen Grenzen stattfinden. Er bezog sich ausweichend auf Wladimir Putins Zusicherungen.
Letztendlich zahlen die Amerikaner einen hohen Preis dafür, dass sie es besonders gut machen wollten – in den letzten Jahren haben sie die Türkei hingehalten, systematisch den Boden für die Schaffung eines autonomen Kurdistans an ihren Grenzen vorbereitet und gleichzeitig noch die kurdische Miliz bewaffnet und ausgebildet, um aus ihr eine reguläre Armee zu formen.
Erdogan hat buchstäblich den Amerikanern ein langes Seil in die Hand gegeben, um sich selbst zu erhängen. Als er zuschlug, wurden die Widersprüche in der US-Politik über Nacht offensichtlich – der Spielplan zur Balkanisierung Syriens und zum Sturz Assads; der Faust’sche Deal mit einer Terrorgruppe, die einen Nato-Verbündeten in Bedrängnis gebracht hatte; und die geopolitische Agenda zur Vereitelung einer iranischen Achse mit Syrien und der Levante.
Oder anders gesagt: Die Türken haben mit der Vertreibung der US-Streitkräfte aus Nordsyrien das erreicht, was sich Russland und Iran (und Damaskus) schon immer gewünscht hatten, aber nicht erreichen konnten. Von nun an werden Russland und Iran gegenüber Ankara dessen Versöhnung mit Damaskus durchsetzen.
Die USA haben nachträglich verstanden, dass die Türkei ihre achtjährige Intervention in Syrien, mit dem Ziel, Assads Regime zu stürzen, kurzerhand beendet hat. Die giftigen Reaktionen von Trump und seinem Verteidigungsminister Mark Esper sprechen für sich.
Die Androhung von US-Sanktionen wird Erdogan jedoch nicht abschrecken, denn das Gespenst eines Kurdistans an seinen Grenzen bedrohte die Souveränität und territoriale Integrität der Türkei, und wenn die nationale Sicherheit bedroht ist, gibt es keinen Spielraum für Kompromisse. Im übrigen wird Erdogan durch die überwältigende Mehrheit der türkischen Bevölkerung unterstützt.
Die Türkei war untypisch geduldig mit den USA und hoffte, dass diese die Verbindung mit der kurdischen Miliz YPG aufgeben würden, sobald der Kampf gegen den IS beendet sei. Es ist nicht so sehr Trump, sondern eher das Pentagon, das für den Vertrauensbruch zwischen der Türkei und den USA verantwortlich ist. Wie in den meisten aussenpolitischen Fragen gab es in Washington zwei Politiken gegenüber Syrien – diejenige von Trump und die der amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte.
Die USA haben nach internationalem Recht keine Aktivlegitimation (locus standii), um eine permanente militärische Präsenz in Syrien aufrechtzuerhalten, und als Trump zum ersten Mal den Truppenabzug ankündigte, hätte er umgesetzt werden müssen. Statt dessen untergrub das Pentagon Trumps Entscheidung, schwächte sie ab und ignorierte sie schliesslich völlig.
Erdogan weiss, dass die USA sich ärgern, sich aber an die «neue Normalität» in Syrien gewöhnen werden. Auch die EU wird ihren Ärger schlucken müssen, denn die Russen werden es nie zulassen, dass der IS in Syrien überhandnimmt. Gemäss letzten Informationen [Stand 15. Oktober] wird Trump den Vizepräsidenten Mike Pence in die Türkei entsenden, um eine «Verhandlungslösung» zu suchen – was auch immer das beinhaltet, angesichts der vollendeten Tatsachen, die Erdogan geschaffen hat.    •

*    M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: Indian Punchline vom 15. Oktober

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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