Grosser Stellenwert des Milizprinzips in den Gemeinden

Interview mit Gemeinderat Claude Dougoud, Wangen-Brüttisellen (ZH)

mw. Der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) hat das Jahr 2019 zum «Jahr der Milizarbeit» deklariert: «Ziel ist es, das Milizsystem zu stärken und weiterzuentwickeln, so dass es zukunftsfähig bleibt. Denn das politische System der Schweiz lebt von der Partizipation und vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger.»

Oder mit den eindrücklichen Worten des ehemaligen Bundesrates Kaspar Villiger (vgl. Seite 1): «Die Stärken dieses Systems liegen auf der Hand. So fördert es beispielsweise die wichtige Verzahnung von Zivilgesellschaft und Staat. Wer etwa zu lange unter Parlamentskuppeln weilt, gerät in eine Art Blase, die mit der Zeit seine Wahrnehmung der Realität ausserhalb der Kuppel zu verzerren beginnt. Die Verantwortung im Beruf, die Kontakte am Arbeitsplatz oder das Mitmachen im Verein vermitteln den Politikern Bodenhaftung, indem ihnen immer wieder Lebensrealität eingeträufelt wird. Umgekehrt schafft der alltägliche Dialog im beruflichen Umfeld auch Verständnis für die Politik. Beides fördert Vertrauen, und Vertrauen ist die Basis jedes erfolgreichen Staates.»
Claude Dougoud ist Gemeinderat in der Zürcher Gemeinde Wangen-Brüttisellen. Er bestätigt die einzigartige Kraft und Bürgernähe des Milizprinzips, die in den mittelgrossen und kleinen Schweizer Gemeinden auch im 21. Jahrhundert lebendig ist.

Zeit-Fragen: Herr Dougoud, warum sind Sie Gemeinderat geworden?

Claude Dougoud: Vor einigen Jahren wurde ich gefragt, ob ich in die Rechnungsprüfungskommission RPK wolle, und ich wurde dann auch gewählt.
Nach vier Jahren in der RPK wurde ich dann gefragt, ob ich für den Gemeinderat kandidieren möchte. Ich habe zugesagt, um noch mehr zum Wohl der Gemeinde beitragen zu können.

Welches sind Ihre Aufgaben im Gemeinderat?

Mein Ressort ist Finanzen und Soziales. Dies kommt mir sehr entgegen, weil ich in der RPK bereits Einblick in die Finanzen der Gemeinde bekommen hatte und berufliche Erfahrung mit dem Sozialwesen habe.

In Ihrer Gemeinde sind alle Gemeinderäte Milizpolitiker, üben daneben also weiter ihren Beruf aus.

Ja, wir sind alle Milizler. Wir sind eine Gemeinde mit einer Gemeindeversammlung und mit knapp 8000 Einwohnern. Alle Mitglieder der Kommissionen sowie der Schul- und Sozialbehörden sind Milizpolitiker.

Wie viele Stellenprozente haben die Gemeinderäte und die Gemeindepräsidentin?

Das Gemeindepräsidium 50 Prozent, das Schulpräsidium 40 und die anderen Ressorts 30 Prozent. Im Frühling haben wir der Gemeindeversammlung beantragt, die Entschädigung zu erhöhen.

Über die Entschädigung der Behördenmitglieder entscheidet die Gemeindeversammlung

Die Gemeindeversammlung entscheidet also sogar über die Höhe der Entschädigung der Behördenmitglieder?

Ja. Besonders bei den Präsidien haben wir gesehen, dass die Belastung sehr gross ist, und deshalb haben wir beantragt, die Entschädigung der Arbeitsbelastung anzupassen. Interessanterweise waren die Parteien und die RPK gegen die Erhöhungen, aber die Bürger brachten uns ihr Vertrauen entgegen und haben sie mit grossem Mehr angenommen.

Viele Schweizer Gemeinderäte sind nicht Mitglied einer politischen Partei. Wie ist das in Ihrer Gemeinde?

Bei uns ist niemand parteilos. In unserer Gemeinde gibt es aber eine Gruppierung, die eher ein Verein ist als eine Partei. Sie heisst «Forum» und ist aus der Schulpolitik entstanden, die Mitglieder haben sich also vor allem für Schulfragen interessiert. Sie sind nun mit der Gemeindepräsidentin, der Schulpräsidentin und einer dritten Person ziemlich stark vertreten.

Obwohl sie nicht in einer herkömmlichen Partei sind?

Ja, sie haben Leute mit verschiedenen Ansichten über politische Fragen. Das ist auch eine Möglichkeit, Leute dazu zu bewegen, ein Milizamt zu übernehmen. Ich habe nie erlebt, dass jemand von sich aus sagt, er möchte Gemeinderat oder Schulpfleger werden. Es ist eher üblich, dass man gefragt wird.

Dann hat man auch gute Chancen, gewählt zu werden?

Anlässlich der Wiederwahl des Gemeinderates stellten sich mehr Kandidaten zur Verfügung, als Sitze zu vergeben waren. Aber wenn die Leute nichts Nachteiliges von einem hören, wird man wiedergewählt. Die Abwahl ist selbstverständlich auch möglich, aber für den Milizpolitiker nicht so tragisch, weil der Beruf die Existenz sichert.

Beruf und Amt unter einen Hut zu bringen ist nicht einfach

Als Teilzeitpolitiker müssen Sie Ihren Beruf mit dem Amt als Gemeinderat unter einen Hut bringen. Ist das nicht manchmal schwierig?

Ja, es ist eine Herausforderung. Ich habe den Vorteil, dass ich eine Halbzeitstelle als Schulsekretär habe und den anderen Teil als Psychotherapeut in einer psychiatrischen Praxis arbeite. Dort kann ich meine Termine selbst einteilen, so dass ich auch einmal an einem Nachmittag an einer Sitzung teilnehmen kann. Wenn ich am Morgen eine Sitzung habe, gibt mir mein Arbeitgeber frei, und ich kann die ausgefallene Zeit kompensieren. Für mich ist es nicht so schwierig. Die, welche voll arbeiten, haben oft Arbeitgeber, die ihnen Entlastung geben, aber das bedeutet Mehrarbeit am Abend oder am Wochenende. Das ist sehr streng.

Gibt es Gemeinderäte mit 100prozentigen Stellen?

Ja. Die Gemeindepräsidentin war Kindergärtnerin, hat aber ihre Stelle aufgegeben und ist sehr engagiert in ihrem Amt. Der Schulpräsident arbeitet in einer anderen Gemeinde als Chefbeamter und bekommt einige Stunden pro Woche frei, zwei weitere sind auch Vollzeit angestellt. Das ist nicht einfach. Oft sind die Gemeinderatssitzungen am Abend oder am Samstag oder beginnen schon um 16 Uhr.

Also schon viel Zeiteinsatz, aber machbar?

Ja. Das Amt des Gemeinderates ist aufwendig. Es gibt auch Milizler in der Rechnungsprüfungskommission, dort und in der Schulpflege ist der Aufwand etwas weniger gross, aber man muss schon viel Freizeit drangeben.

Gibt es genügend Leute, die in Kommissionen und anderen Bereichen mitmachen?

Es ist nicht so einfach, die Leute stehen nicht Schlange, aber man findet sie noch.

Der Gemeinschaft, der Gesellschaft etwas zurückgeben

Der Gemeindepräsident einer anderen Gemeinde hat mir einmal gesagt: «Noch wichtiger als die Finanzen ist das Zusammenleben.» Übernimmt man ein solches Amt aus diesem Grund?

Ja, ich glaube schon: Der Gemeinschaft, der Gesellschaft etwas zurückgeben, das ist schon das Hauptmotiv. Es ist sicher nicht der finanzielle Aspekt, der den Ausschlag gibt, sondern mitgestalten und zum Gemeinwohl beitragen können. Alle sind auch der Meinung, dass das Milizsystem und die direkte Demokratie eine einmalige Chance sind, weltweit. Viele merken, wenn sie beruflich oder privat in anderen Ländern sind, was für ein wunderbares System wir hier haben.

Dazu bemerkt der ehemalige Bundesrat Kaspar Villiger: «Das Milizprinzip vermittelt Bodenhaftung.» Sehen Sie das ähnlich?

Ja, es hat jeder seinen Beruf. Lustigerweise hat einer meiner Kollegen im Gemeinderat dieselbe Grundausbildung wie ich, kaufmännischer Spediteur (das war mein erster Beruf), jemand arbeitet im IT-Bereich, ein anderer im Elektrizitätswesen, ein Jurist bei einer Gebäudeversicherung, eine Kindergärtnerin, ein Architekt, der bei einer anderen Gemeinde angestellt ist. Da kommt wirklich vieles zusammen.
Was ich ausserdem sehr schätze: Wir haben eine sehr gute Gemeindeverwaltung. Als Politiker ist man ja kein Fachmann und ist auf eine gute Verwaltung angewiesen. Ich staune, wieviel Wissen vorhanden ist. Ich arbeite mit drei Abteilungsleitern zusammen, alle drei sind sehr qualifiziert, fachlich und menschlich. Man merkt, dass die Menschen, die Bürger, zufrieden sind.
Die Verwaltung ist ebenso ein Aushängeschild der Gemeinde wie die Politik, denn damit hat man es zu tun, wenn man sich anmeldet oder etwas braucht, zum Beispiel eine Baubewilligung. Da ist es ganz wichtig.

Stellt der Gemeinderat die Beamten an?

Der Gemeinderat stellt nur den Gemeindeschreiber an, er oder sie ist der Chef der Verwaltung und stellt die Abteilungsleiter an. Da werden die Politiker zwar zum Mitdenken beigezogen, aber den Entscheid fällt der Gemeindeschreiber, auch bei der Einstellung weiterer Mitarbeiter.

Das leuchtet ein, dann wird wirklich auf die Sachkompetenz geachtet und nicht auf die Parteizugehörigkeit.

Genau. Unsere Gemeinde hat auch viele junge Mitarbeiter, alle sehr qualifiziert. Sie machen auch Weiterbildungen, im Verwaltungsbereich gibt es viele Möglichkeiten, sich weiterzubilden, und ihr Einsatz ist sehr eindrücklich. Es ist zwar auch in der Verwaltung manchmal nicht so leicht, Leute zu finden, weil die Privatwirtschaft teilweise höhere Löhne zahlt, aber wir haben einen guten Ruf und finden die Leute.

Am Dorffest hilft die ganze Bevölkerung mit, auch die Jungen

Hängt der gute Ruf auch mit guten Projekten zusammen, welche Ihre Gemeinde organisiert?

Dem Gemeinderat ist es ein wirkliches Anliegen, für alle da zu sein, sei es für die älteren Mitbürger oder für die Jugend. Alle zwei Jahre machen wir zum Beispiel eine Jungbürgerfeier und einen Anlass für die Neuzuzüger, die wir mit einem Essen und einer Führung durch die Gemeinde empfangen. Wir haben jährlich eine grosse Chilbi in Wangen und ein Fest in Brüttisellen, beide werden durch die Vereine organisiert.
Dann gibt es einen Kulturkreis, einen Verein, der für die Gemeinde kulturelle Anlässe organisiert. Dafür erhält er Subventionen, muss aber die Hauptkosten wieder hereinholen. Er hat ein gutes Programm, einmal pro Jahr gibt es in Wangen Tanz auf dem Dorfplatz, dann musikalische Anlässe und anderes, das Programm ist sehr vielfältig.
Es ist nicht immer einfach, weil Zürich und Winterthur sehr nahe sind, mit vielen Angeboten, trotzdem wird es von vielen Bürgern geschätzt. Am Dorffest zum Beispiel hilft ein grosser Teil der Bevölkerung mit, in den verschiedenen Vereinen.

Auch die Jungen?

Ja, für ein Projekt wie die Chilbi, wo man sich drei, vier Tage engagieren kann, oder für einen Abend, da machen auch die Jungen mit. Aber in den Vereinen, bis auf den Fussball, haben alle Mühe, jüngere Leute für ein regelmässiges Engagement zu begeistern.

Welchen Gedanken würden Sie zum Abschluss gern mitgeben?

Ein politisches Amt in einer Gemeinde zu übernehmen, ist persönlich sehr bereichernd und macht viel Freude, das Positive überwiegt. Manchmal steht man vielleicht auch in der Kritik, aber im gesamten ist es etwas Schönes. Ich kann es nur empfehlen.

Vielen Dank für das ebenfalls sehr bereichernde Gespräch, Herr Dougoud.     •

(InterviewMarianne Wüthrich)

Stellung des Gemeinderates im Rechtsgefüge der Gemeinde

«Der Gemeinderat ist die Exekutive der Gemeinde. Er vollzieht die ihm von Bund und Kanton übertragenen Aufgaben und führt die von der Gemeindeversammlung gefassten Beschlüsse aus. Der Gemeinderat vertritt die Gemeinde nach aussen. Im Verwaltungsbereich und im Rahmen seiner Kompetenzen entscheidet der Gemeinderat selbständig. Alle Behördemitglieder üben ihr Amt nebenamtlich aus.»
(Homepage der Gemeinde Wangen-Brüttisellen)

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