«Man male den Menschen, so wie er ist, da ist die Seele ohnehin dabei»

Zur Ausstellung von Wilhelm Leibls Werken im Kunsthaus Zürich

von Urs Knoblauch, Kulturpublizist, Fruthwilen

Das Kunsthaus Zürich zeigt die erste Schweizer Retrospektive auf das Werk des Malers Wilhelm Leibl (1844–1900). Die Ausstellung steht unter dem Leitmotiv «Gut sehen ist alles». Damit werden die Suche und die Darstellung der «Naturwahrheit», das zentrale Anliegen des Realismus des 19. Jahrhunderts, angesprochen. Der in Köln geborene Künstler gilt als einer der bedeutendsten Vertreter dieser in ganz Europa entstehenden Kunstauffassung und ihrer Künstlervereinigungen. Mit der Entwicklung des modernen Lebens in der Grossstadt war auch eine neue Wertschätzung der bäuerlichen Lebenswelt und der Menschen verbunden. Gerade Leibls relativ kleines Werk stellt hier einen grossen Schatz dar. Der Künstler starb mit nur 56 Jahren. Schon früh fand er Anerkennung. Er war an zahlreichen internationalen Ausstellungen beteiligt, seine lebensnahen Porträts und Menschendarstellungen fanden zu hohen Preisen Eingang in öffentliche Sammlungen. Wilhelm Leibls grosser Beitrag war es, die «Naturwahrheit», die seelische Dimension und die feinen Gefühlsregungen des Menschen in seinen grossartigen Bildnissen und Figurenbildern genauer zu erfassen. Mit dieser Ausstellung wird der Maler sicher wieder neu entdeckt. Die Idee dazu entwickelte der Kunsthausdirektor Christoph Becker mit dem Kurator Bernhard von Waldkirch schon vor zehn Jahren, nun wurde sie erfolgreich zusammen mit Marianne von Manstein realisiert. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Bildnissen, Interieurs mit Figurendarstellung aus dem Freundeskreis und Menschen aus dem ländlichen Raum. Die vorzüglich  präsentierten 40 Gemälde und 60 Zeichnungen sind thematisch in sechs Sammlungsräumen im stilvoll passenden Ambiente des anfangs 1900 erbauten Museumsbaus von Karl Moser zu bewundern. So wirkt die Ausstellung auch als wunderschönes Gesamtkunstwerk, gemeinsam mit verwandten Werken in den anderen Räumen des Museums. Begleitende Texte zu den Werken und ein ausgezeichneter Katalog machen den Besuch zu einem wertvollen Kunsterlebnis.

Frühe Meisterschaft, anregendes Kunststudium, Vorbilder und erste Erfolge

Wilhelm Maria Hubertus Leibl kommt 1844 in Köln als fünftes von sechs Kindern des Domkapellmeisters Karl Leibl und seiner Frau Gertrud (geb. Lemper) auf die Welt. Schon als Schüler zeigt sich sein zeichnerisches Interesse und Talent. Nach einer abgebrochenen Schlosserlehre erhält er seinen ersten Zeichen- und Malunterricht bei einem Kölner Künstler. Der Einfluss des musischen Elternhauses macht sich bei ihm schon früh bemerkbar. Der Sohn begleitet seinen Vater oft in die Kirche, wo die besondere Atmosphäre und die Musik zu prägenden Eindrücken werden. Seine künstlerische Ausbildung kann er ab 1861 beim Historienmaler und Kunstkritiker Hermann Becker vertiefen. Es entstehen erste bemerkenswerte Bildnisse seiner Familie und von Verwandten. 1863 wird Wilhelm Leibl in die angesehene Akademie der Bildenden Künste München aufgenommen und kann das klassische Kunststudium beginnen. In einem Brief an seine Eltern schreibt er: «Über meine Beschäftigung ist eigentlich nicht viel zu sagen und besteht darin, dass ich jeden Tag um 8 Uhr in der Frühe auf die Akademie gehe und dort und im Antikensaal Köpfe und Figuren nach Gips zeichne; in der Mal-Classe zugleich ist nicht erlaubt zu arbeiten, und ich glaube, dass mir das Zeichnen für jetzt noch nützlicher ist […]. Wir hören des Abends Vorlesungen über Kunstgeschichte, Perspektive und Anatomie. Von 5 bis 7 Uhr ist jeden Abend Aktzeichnen.» (Katalog, S. 114) Eine wichtige Grundlage erhält er durch das Abmalen und Studieren der grossen Maler (Rembrandt, Rubens, Hals, Holbein, van Dyck, Velasquez) in der Alten Pinakothek. Der fleissige Kunststudent wird bereits durch besondere Arbeiten als Akademieschüler in München bekannt. Er freundet sich mit seinen Studienkollegen Johann Sperl, Theodor Alt und anderen an, es bildet sich eine regelmässige Freundschafts- und Diskutierrunde in einer Münchner Gastwirtschaft. Als Meisterschüler kommt er bei seinem Professor mit der neueren französischen Kunst in Kontakt. Der junge Künstler kann schon 1869 auf der I. Internationalen Kunstausstellung im Glaspalast vier Werke ausstellen. Er ist beeindruckt von den Werken der zeitgenössischen Maler und Realisten Gustave Courbet und Jean-Francois Millet. Als Courbet die Ausstellung in München besucht, ist er vom jungen Leibl begeistert und lädt ihn nach Paris ein, wo er in einem Atelier arbeiten kann.

Er begegnet den Künstlern des Realismus und der aufkommenden «Freilichtmalerei» der «Barbizon-Maler». Er wird 1870 in die berühmte Pariser «Salon-Ausstellung» eingeladen und erhält für sein dort ausgestelltes «Bildnis der Frau Gedon» seine erste Goldmedaille. Wegen des Ausbruchs des Krieges 1870/71 muss der Maler nach Deutschland zurückkehren.

In den folgenden Jahren kann der Künstler sich an zahlreichen Ausstellungen beteiligen und Aufträge ausführen. Mit seinem Freund Sperl verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft. Eine tragische Liebschaft, verknüpft mit einem im Säuglingsalter verstorbenen Kind, wird zu einem schweren Schicksalsschlag. 

Nahe beim Menschen: Suche nach «Naturwahrheit» und realem Landleben

Die aufkommende Industrialisierung und rasante Verstädterung bewog den passionierten Maler und Jäger, mit seinen Künstlerfreunden des «Leibl-Kreises» ab 1873 aufs Land zu ziehen. Dort fanden sie die natürlichen Modelle, Menschen, die Leibl in so grosser Meisterschaft bis in die feinsten seelischen Ausdrucksformen in grosser «Naturwahrheit» porträtierte. Im besonders schönen Werk «Leibl und Sperl auf der Jagd» (um 1888) zeigt sich die freundschaftliche Verbindung der beiden Maler: Die Figuren wurden von Leibl, die Landschaft von Sperl zu einem gemeinsamen Bild gemalt.
Die Ausstellung zeigt besonders eindrückliche Zeichnungen, Porträts und Figurenbilder, die stets im menschlichen und räumlichen Bezug sowie im atmosphärischen Lichtspiel von Hell und Dunkel dargestellt sind. Die Basis zu diesem «wahren Sehen» wird seine natürliche Verbundenheit zum Menschen sowie seine minuziöse und geduldige Beobachtung seiner Modelle, die sich meist über zahlreiche anstrengende Sitzungen, auch für die Modelle, hinzogen.
In einem Brief an einen Kunsthistoriker schreibt er: «Man male den Menschen, so wie er ist, da ist die Seele ohnehin dabei.» (S. 154) Damit spricht er die psychologische Dimension, den Gemütszustand, das zwischenmenschliche emotionale Empfinden, das Zusammenspiel des inneren Gefühlslebens des Künstlers und des Modells an, welches sich im Gesichtsausdruck, in der Gestik und der Haltung spiegelt. Leibls Meisterschaft zeigt sich in den Feinheiten, im Blickkontakt der Modelle zum Betrachter, beim Nachdenken oder bei einer konzentrierten Beschäftigung im häuslichen Leben. Die Bilder spiegeln die vielfältigen Lebenswelten sowie ihre jeweilige Lebenswahrheit und bewirken eine intensive zwischenmenschliche Gefühlsübertragung. In der Hamburger Kunsthalle befindet sich das berühmte Werk «Drei Frauen in der Kirche», von dem van Gogh tief berührt war. In Zürich ist das ebenso bedeutende Werk, das grossformatige Ölbild «Die Dorfpolitiker» (1877), eine Leihgabe von Kunstmuseum und Stiftung Oskar Reinhart, in der Ausstellung zu bewundern (siehe Abbildung). Darin wird Leibls Anliegen, nach «wahrem Sehen» sowohl das äussere wie das innere Leben des Menschen zu malen, besonders eindrücklich dargestellt. Das Bild zeigt fünf Männer, die sich beraten. Sie suchen im gemeinsamen Abwägen nach der Lösung einer kleineren oder grösseren Aufgabe. Der Künstler beschreibt die Szene in einem Brief an seine Mutter, mit der er in stetem Austausch war, am 3. Juni 1876: «Also mein Bild stellt fünf Bauern vor, die in einer kleinen Bauernstube die Köpfe zusammenstecken, vermutlich wegen einer Gemeindesache, weil Einer ein Papier, welches aussieht wie ein alter Kataster, in der Hand hält. Es sind aber wirkliche Bauern, weil ich sie alle möglichst treu und nach der Natur male, auch ist die Bauernstube wirklich eine solche, weil ich das Bild in derselben male, zum Fenster hinaus sieht man noch ein Stück vom Ammersee.» (S. 162) Leibl betont, dass es «wirkliche Bauern» sind. Er führt die Betrachter mit dieser menschlich anrührenden Szene in eine ethisch-politische Dimension, in die alltäglich aktuelle Lebenswelt und den möglichen Weg zu einem friedfertigen Zusammenwirken im Sinn des Gemeinwohls. Bernhard von Waldkirch bezieht sich auf eine Aussage des Kunsthistorikers Eberhard Ruhmer, der betont, dass für Leibl die Kunst «vorrangig eine ethische Aufgabe» darstellt, denn «ihr Gegenstand ist die Wahrheit» (S. 36). Wilhelm Leibls Werke und die Ausstellung verweisen auf zahlreiche Künstler. Besondere Berührungspunkte bestehen zu Bildern des grossen Schweizer Malers Albert Anker, der in seinem Realismus die sozialethische Dimension besonders eindrücklich einbezog.
Auch Kunst wurde in der Geschichte immer wieder sträflich missbraucht oder durch Unwahrheiten und Vorurteile abgewertet. So versuchten auch die Nationalsozialisten, bestimmte Motive des Künstlers Leibl für ihre verbrecherische völkische Ideologie zu instrumentalisieren. Mit dieser Ausstellung wird auch ein verdienstvoller Beitrag zur wahrhaften, sachlichen, gerechten und kulturellen Auseinandersetzung und zu einem sozialethische Wirken geleistet. Dies ganz im Sinn von Leibls Anliegen: «Ich wünsche nur, dass sich das Streben nach Naturwahrheit und wahrer Künstlerschaft, das ich für meine Bilder verwende, auf nachfolgende Generationen verpflanzt wird.»     •

Die Ausstellung ist bis zum 19. Januar 2020 zu besuchen. Informationen und Infos zu begleitenden Veranstaltungen unter Kunsthaus Zürich:
Tel. +41 (0)44 253 84 84 oder www.kunsthaus.ch 

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