Der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, hat erneut ein Ende der Folter von Julian Assange gefordert

Herzlichen Dank für die Einladung, an dieser Veranstaltung teilzunehmen und meinen Beitrag dazu zu leisten. Ich denke, die Frage [nach den psychologischen Folgen der Haft] müssen wir in zwei Teile unterteilen. Ich habe mit meinem Ärzteteam Julian Assange am 9. Mai in Belmarsh besucht. Das war etwa drei, vier Wochen nach seiner Festnahme am 11. April, und wir haben festgestellt, medizinisch, in einer dreistündigen Untersuchung und in einer einstündigen Unterredung mit mir, dass er alle Symptome zeigt, die typisch für Personen sind, die über längere Zeit psychologischer Folter ausgesetzt sind. Das sind sehr ernste Symptome, die physisch schon messbar waren, neurologisch messbar waren. Und zu diesem Zeitpunkt, am 9. Mai, konnten wir uns auch fragen, woher diese Symptome kommen. Wie wurden sie verursacht?
Dieser Mann wurde während mehr als sechs Jahren in einem ganz kontrollierten Umfeld festgehalten, in der ecuadorianischen Botschaft. Man konnte mit hoher Sicherheit feststellen, welche Faktoren diese Symptome überhaupt auslösen konnten, weil er ja nur dieser umschränkten Umgebung ausgesetzt war. Das ist eine Umgebung, die vor allem vier Staaten kreiert haben. Hier müssen, glaube ich, an erster Stelle die USA genannt werden, die von Anfang an die Auslieferung von Julian Assange erreichen wollten. Sie machten das natürlich nicht publik. Julian Assange hat gesagt, es sei seine grosse Angst, dass er ausgeliefert und dann dort [in den USA] einem Schauprozess ausgeliefert und höchstwahrscheinlich zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt wird, dem sogenannten Supermax regime, das von mir und auch von meinem Vorgänger im selben Mandat als durchwegs unmenschlich klassifiziert wird. Er hatte diese Angst – das wurde ihm als Paranoia vorgeworfen –, aber an dem Tag, als er zum ersten Mal den Fuss aus der Botschaft setzte, nur eine Stunde später überreichten die USA dem Vereinigten Königreich das Auslieferungsgesuch. Es war überhaupt keine Paranoia, er war sehr realistisch, wie er seine Situation einschätzte und welcher Bedrohung er ausgesetzt war. Das ist das Grundbedrohungsszenario.
Dazu kamen 2010 die schwedischen Verfahren, und die wurden, wie ich in verschiedenen öffentlichen Stellungnahmen an die schwedische Regierung und auch anderweitig dargelegt habe, in schwerster Weise willkürlich durchgeführt: eine Voruntersuchung, die neun Jahre lang nicht imstande war, eine Klage zuwege zu bringen, und die nach neun Jahren sang- und klanglos eingestellt wurde. Dieses Verfahren zwang Julian Assange dazu, diese [ecuadorianische] Botschaft aufzusuchen und Asyl zu beantragen. Er war ein Flüchtling in dieser Botschaft, konnte deshalb nicht aus der Botschaft heraus, er bot den schwedischen Behörden an, dass er am Strafverfahren teilnehmen würde, dass er nach Schweden kommen würde, wenn er nur die Garantie bekäme, dass er nicht von den Schweden nach Amerika ausgeliefert wird, was ja eigentlich nichts mit dem schwedischen Verfahren zu tun hatte. Die Schweden weigerten sich, das zu tun, aus Gründen, die nicht vertretbar sind. Die Schweden haben mit dieser Art und Weise, wie sie das durchgeführt haben, ganz entscheidend mit dazu beigetragen, dass Julian Assange nicht mehr aus dieser Botschaft herauskam. Die Briten haben ganz entscheidend mitgewirkt und diese Politik unterstützt und sogar, als die Schweden aufgeben wollten, mit einer Korrespondenz, die uns heute bekannt ist, die Schweden dazu ermutigt, dieses Verfahren nur ja nicht fallenzulassen, «keine kalten Füsse» zu bekommen. Es scheint, dass sie nach neun Jahren endlich «kalte Füsse» bekommen haben.
In dieser Situation kam 2017 der Regierungswechsel in Ecuador. Ein neuer Präsident, Moreno, kam an die Macht, der sich zum Ziel gemacht hatte, sich mit den USA zu versöhnen, und da war die Auslieferung von Assange ganz sicher ein Verhandlungsgegenstand. Man sieht, dass ab diesem Datum das Mobbing innerhalb der Botschaft durch das Botschaftspersonal und das Sicherheitspersonal in der Botschaft begonnen hat, die Julian Assange das Leben sehr schwergemacht haben. Wir wissen heute auch sehr viel von der schweren Überwachung, der er ständig ausgesetzt worden war: in seiner Privatsphäre, bei seinen Besuchen mit Anwälten, mit Ärzten usw. Man muss sich das mal vorstellen, wenn man 24 Stunden überwacht wird, das ist ein Faktor, der in der psychologischen Folter eingesetzt wird, dass man keinen Rückzugsraum hat, dass man so ständig in eine Art Verfolgungswahn getrieben wird, der eigentlich gar kein Wahn ist, sondern der Realität entspricht.
Diese vier Staaten, die USA, das Vereinigte Königreich, Ecuador und Schweden, haben zusammengewirkt, um das Resultat hinzukriegen, das wir heute haben. Am 11. Mai wurde Julian Assange ohne jedes Rechtsverfahren das Asyl und die Staatsbürgerschaft entzogen, was nach ecuadorianischem Verfassungsrecht gar nicht möglich ist, und er wurde, wie wir wissen, von der britischen Polizei verhaftet, innert Stunden dem Richter vorgeführt und in einem viertelstündigen Verfahren, bei dem er keine Zeit hatte, sich mit seinem Verteidiger vorzubereiten, abgeurteilt.
Seither gibt es die zweite Phase, die zur Verschlechterung seines Gesundheitszustandes geführt hat, seit meinem Besuch zu einer dramatischen Verschlechterung, die wir vorausgesagt haben in unserem Bericht, die Ärzte und ich. Wir kamen zu dem Schluss: Wenn der Druck auf Julian Assange aufrechterhalten wird, wenn sich die Situation nicht verbessert, wenn diese Willkür kein Ende hat, kann er sehr schnell in eine Abwärtsspirale geraten, psychisch und eben dann auch physisch. Schliesslich habe ich dann am 1. November die Alarmglocke noch einmal geläutet und gesagt, dass ich jetzt ernsthaft besorgt bin, dass es ihn auch das Leben kosten könnte. Das ist keine Übertreibung.
Psychologische Folter ist nicht Folter «light». Psychologische Folter geht direkt auf die Persönlichkeit des Menschen und versucht, diesen ganz gezielt zu destabilisieren, indem man seine Umgebung willkürlich gestaltet, alles unvorhersehbar macht, ihn isoliert, ihn seiner sozialen Kontakte beraubt und aller Möglichkeiten, die seine Menschenwürde erhalten. Systematisch wird dem Folteropfer all das über längere Zeit entzogen. Am Schluss führen diese Arten von Miss­handlungen zu Kreislaufkollaps, zu Nervenzusammenbrüchen, zu neurologischen Schäden, die nicht mehr behebbar sind. Das sind ganz ernsthafte Misshandlungen. Die werden aber auf eine Art und Weise durchgeführt, dass sie in Einzelteilen ein bisschen harmlos aussehen, aber im Zusammenspiel ist das mörderisch.
Das ist das, was mit ihm heute in Belmarsh geschieht, immer noch. Er wurde ja wegen einer Kautionsverletzung verurteilt, wofür in Grossbritannien im Prinzip niemand ins Gefängnis geht, sondern eine Busse bekommt. Wenn jemand kein Verbrechen begangen hat während der Kautionsverletzung, geschieht da nicht viel. Er aber wurde fast zur Höchststrafe verurteilt, 50 statt 52 Wochen, für eine Kautionsverletzung, die er ja begehen muss­te, um politisches Asyl zu bekommen. Politisches Asyl ist, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund, dann ein Strafmilderungsgrund, der monumental ist. Schon dieses Faktum, dass er überhaupt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, belegt die Willkürlichkeit dieses Verfahrens. Ich will jetzt nicht alles aufzählen, die ganzen willkürlichen Schritte, die in jedem Verfahrensschritt begangen wurden, ob es um die Kautionsverletzung geht, um die Auslieferung geht.
Wir haben Interessenkonflikte. Wir haben eine ganz klare Parteilichkeit der Richter, die durch Beleidigungen im Gerichtssaal und Beschimpfungen dokumentiert werden. Schritt für Schritt, Julian Assange hatte keinen Zugang zu seinen Dokumenten, er konnte seine Verteidigung nicht vorbereiten. Also, wo ist denn da der Rechtsstaat? Wo sind wir denn da, wenn ein Angeklagter seine Anklageschrift nicht lesen kann, bevor er Stellung nehmen muss dazu? Das kann doch nicht sein! Also, ich traute meinen Augen nicht.
Jetzt wurde er, wie wir es vorausgesagt haben und neun Tage nach unserem Besuch, in die medizinische Abteilung des Gefängnisses überstellt und ist seither dort. Und wie es von seinem Vater gesagt wurde, ist er in einem sehr strengen Regime isoliert, obwohl er seine Strafe wegen der Kautionsverletzung unterdessen abgesessen hat, und nur noch in Präventivhaft ist für das amerikanische Auslieferungsverfahren. Und das braucht kein Hochsicherheitsgefängnis, braucht keine Isolation. Das kann man im Hausarrest machen. Das kann ein offenes Regime sein, wo er Zugang zu seiner Familie hat, zu seinen Anwälten, wo er seine Verteidigung vorbereiten kann, wo er auch mit der Presse korrespondieren kann, aber das ist ja genau das, was sie nicht wollen.
Niemand soll den Scheinwerfer auf das richten, worum es hier wirklich geht. Es geht um den Rechtsstaat, es geht um die Demokratie, es geht darum, dass wir es uns nicht leisten können, dass Staatsmacht unüberwacht bleibt. Wir können uns das nicht leisten, deshalb haben wir Gewaltenteilung. Wenn die Gewaltenteilung nicht mehr funktioniert, dann brauchen wir die Presse, und wenn die Presse nicht mehr funktioniert, dann kommt eben WikiLeaks mit diesen Enthüllungen. Es ist ganz wichtig! Es geht um staatspolitische Grundelemente hier, und die müssen geschützt werden.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass in Deutschland das Auswärtige Amt, die Regierung, wiederholt darauf angesprochen wurde, wie sie sich zu meinen Berichten stellt. Das Auswärtige Amt hat mich gestern zu einem Treffen eingeladen. Das Treffen hat stattgefunden mit der Menschenrechtsabteilung. Es war nicht besonders ergiebig. Man hat mir gesagt, man habe meine Berichte nach wie vor nicht gelesen.
Ich habe dem Auswärtigen Amt ans Herz gelegt, sie mögen doch meine Berichte lesen, bevor sie sich mit mir darüber unterhalten. Ich hoffe, dass das dann auch wirklich ernstgenommen wird und stattfindet, denn das ist JA GERADE der Zweck meiner Berichte, dass sie EBEN gelesen werden.    •

* Der Schweizer Völkerrechtsexperte Prof. Dr. Nils Melzer ist seit November 2016 Sonderberichterstatter über Folter und damit Experte der sogenannten Special Procedures des Menschenrechtsrates. Die Experten von Special Procedures arbeiten ehrenamtlich; sie sind keine UN-Mitarbeiter und erhalten für ihre Arbeit kein Gehalt. Sie sind unabhängig von jeder Regierung oder Organisation und dienen in ihrer individuellen Funktion. Zuvor hatte Nils Melzer während zwölf Jahren beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in verschiedenen Krisenregionen gearbeitet, als Delegierter, Vize-Missionschef und Rechtsberater. Neben seinem Uno-Mandat hält er einen Lehrstuhl für Humanitäres Völkerrecht an der Universität Glasgow und lehrt an der Genfer Akademie für Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte.

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