Zwingende Übernahme von EU-Recht krampfhaft überspielt

Im Vorfeld der Wahlen – Herbstsession 2019

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Am 20. Oktober werden wir Schweizerinnen und Schweizer den Nationalrat wählen, in den meisten Kantonen auch die Ständeräte. Vorher findet die dreiwöchige Herbstsession der Eidgenössischen Räte statt, vom 9. bis 27. September, die ganz im Zeichen der Wahlen stehen wird. Deshalb haben sich viele Parteien krampfhaft bemüht, das wichtigste Thema, das Rahmenabkommen mit der EU, draussen zu lassen, damit sie sich nicht festlegen müssen. Zum selben Zweck wurde der Entscheid, ob die Schweiz weitere 1,3 Milliarden in den Kohäsionsfonds der EU bezahlen soll, auf die Dezembersession verschoben. Ganz auslassen konnte man aber die Beziehung Schweiz-EU nicht. Der Nationalrat wird über die Begrenzungsinitiative diskutieren, der Ständerat über einen Vorstoss einiger Ständeräte zur Rückweisung des Rahmenabkommens an die EU. Diese beiden Vorlagen sollen hier vorgestellt werden.

«Offensichtlich bestehen die ‹Bedürfnisse der Wirtschaft› für den Bundesrat vor allem in der unkomplizierten Besetzung von Arbeitsplätzen durch die Unternehmen. Die flankierenden Massnahmen, welche die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände […] miteinander ausgehandelt haben, würden dagegen mit dem geplanten Rahmenabkommen hinfällig oder mindestens stark verwässert.»

Am 16. September im Nationalrat

«Begrenzungsinitiative» – ja zur Souveränität der Schweiz

Am 16. September wird der Nationalrat seine Abstimmungsempfehlung zur Volksinitiative der SVP «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» abgeben. Sie wurde im Januar 2018 gestartet, und bereits im Juli 2018 konnten die 100 000 Unterschriften eingereicht werden. Die Initiative schliesst an die vom Souverän angenommene, aber vom Parlament nicht umgesetzte Masseneinwanderungsinitiative von 2014 an und fordert die eigenständige Regelung der Zuwanderung; zu diesem Zweck soll das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU innerhalb eines Jahres nach der Annahme dieser Initiative auf dem Verhandlungsweg ausser Kraft gesetzt oder notfalls gekündigt werden.1
Tatsache ist: Die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz ist von rund 7,1 Millionen im Jahr 2000 (Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens FZA) auf über 8,5 Millionen Ende 2018 gewachsen und wird weiter steigen. 25,1 Prozent der Gesamtbevölkerung sind Ausländer.2 Damit nehmen die Überbauung des knappen Bodens und der laufende Ausbau der Infrastruktur zwingend zu. Wer in Sorge ist um die Zunahme des Ressourcenverbrauchs und der Schadstoffe, müsste sich eigentlich für die Begrenzungsinitiative einsetzen.
Ungeachtet solcher Zusammenhänge haben sich zur Bekämpfung der Initiative dieselben Kreise in Stellung gebracht wie zur Ja-Kampagne zum Rahmenabkommen. Parteibeschlüsse gibt es zur Begrenzungsinitiative noch keine, darüber werden zu gegebener Zeit die jeweiligen Delegiertenversammlungen entscheiden. Deshalb beschränken wir uns vorläufig auf die Gegenkampagnen des Bundesrates und des Think tank Operation Libero. Sie liefern genug Stoff zum Nachdenken.

Gegenargumente des Bundesrates in verschiedener Hinsicht bemerkenswert

Zum einen begründet er sein Nein mit den «Bedürfnissen der Wirtschaft», denn die Personenfreizügigkeit «erlaubt es Arbeitgebern, rasch, flexibel und ohne administrativen Aufwand Fachkräfte im EU/EFTA-Raum zu rekrutieren». Ausserdem nutze der Bundesrat die «bestehenden flankierenden Massnahmen». Im übrigen habe die Zuwanderung «nicht zu einer Zunahme der Sozialleistungsbezüge» geführt.3
Offensichtlich bestehen die «Bedürfnisse der Wirtschaft» für den Bundesrat vor allem in der unkomplizierten Besetzung von Arbeitsplätzen durch die Unternehmen. Die flankierenden Massnahmen, welche die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vor dem Abschluss des Freizügigkeitsabkommens zum Schutz gegen Lohndumping miteinander ausgehandelt haben, würden dagegen mit dem geplanten Rahmenabkommen hinfällig oder mindestens stark verwässert. Dass die übermässige Zuwanderung nicht zu mehr Sozialleistungsbezügern geführt habe, ist eine kühne Behauptung! Statistiken und Medienberichte sprechen eine andere Sprache. Ausserdem würde die Unionsbürgerrichtlinie, die mit dem Rahmenabkommen auch für die Schweiz gälte, den Zuwanderern zusätzlich erleichterten Zugang zu unseren Sozialwerken ermöglichen. Schliesslich erlaubt sich der Bundesrat eine absurde Bemerkung: Er möchte «nur so viel Zuwanderung wie nötig»! Genau das wollen die Initianten mit der Begrenzungsinitiative erreichen – mit dem Freizügigkeitsabkommen hingegen ist dies eben gerade nicht möglich.
Zum anderen wiederholt der Bundesrat zum x-ten Mal, nach einer Kündigung des FZA «fielen auf Grund der ‹Guillotine-Klausel› zudem alle anderen sechs Abkommen der Bilateralen I weg».3 Damit demonstriert er einmal mehr, auf welcher Seite des Tisches er bei Verhandlungen mit Brüssel zu sitzen pflegt. Wenn der Verhandler schon im voraus akzeptiert, was die Gegenseite anstreben könnte, hat er schon verloren.
Zur immer wieder bemühten «Guillotine-Klausel» sagt SVP-Präsident Albert Rösti: «Ich glaube, die EU wird sich auf Verhandlungen einlassen, weil sie massiv von den sechs betroffenen Verträgen profitiert. Sollte das nicht gelingen, dann ist der Wegfall der sechs Verträge in Kauf zu nehmen. Der wichtigste Vertrag für den Export, der Freihandelsvertrag von 1972, wird nicht tangiert.»4

«‹Es ist offensichtlich, dass die drei Punkte, zu denen der Bundesrat in Brüssel Klärung verlangt – staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie – bewusst die zwei zentralen Fragen des institutionellen Rahmenabkommens ausklammern: Die dynamische, d. h. automatische und zwingende Rechtsübernahme von EU-Recht und die Gerichtsbarkeit durch den Gerichtshof der EU.›»

Begriffsverwirrung: Operation Libero «verteidigt unsere Freiheit in Europa»

«Willst du unsere Freiheit in Europa verteidigen? Werde ein Braveheart und hilf uns, die Kündigungsinitiative zu versenken.» Mit diesem Slogan rief Operation Libero im Januar 2019, als das Initiativkomitee begann, die 100 000 Unterschriften für die Begrenzungsinitiative zu sammeln, zur Online-Sammlung von 100 000 Gegenstimmen auf.
Die fragwürdigen Hintergründe der Polit-Bewegung Operation Libero wurden am 13. August in dieser Zeitung vorgestellt.5 Ihre Ziele legt sie auf ihrer Homepage offen: Operation Libero ist wie Phönix aus der Asche der NEBS (Neue europäische Bewegung Schweiz) gestiegen und hat sich wie einst diese auf ihre Fahne geschrieben: «Die Schweiz muss ihre Stellung in Europa endlich ohne Scheuklappen diskutieren […]». Aktualisiert heisst das: «Womöglich kann ein erweitertes bilaterales Vertragswerk [gemeint ist der Institutionelle Rahmenvertrag, mw] die offenstehenden Fragen regeln. Sollte dies jedoch nicht möglich sein, dann kann ein Beitritt zur EU im Interesse der Schweiz liegen.»6
Warum Operation Libero wohl ausgerechnet «Braveheart» (mutiges, tapferes Herz), die Titelfigur eines Hollywood-Films, als Symbol auswählt? Der Held ist ein schottischer Freiheitskämpfer gegen das mächtige England im 13. Jahrhundert. Passt diese Rolle nicht eher zu den Schweizer Freiheitskämpfern gegen die mächtige EU? Unsere Freiheit verteidigen wir doch, indem wir uns politisch nicht in die EU eingliedern lassen – oder etwa nicht? Operation Libero meint aber offensichtlich eine ganz andere «Freiheit»: Nicht diejenige gegenüber der EU, sondern die Freiheit in der EU, die Freiheit der globalen Grosskonzerne, innerhalb des grenzenlosen EU-Binnenmarkts schalten und walten zu können – ohne Bindung an das Recht eines souveränen Staates wie der Schweiz.

«Unsere Freiheit verteidigen wir doch, indem wir uns politisch nicht in die EU eingliedern lassen – oder etwa nicht? Operation Libero meint aber offensichtlich eine ganz andere ‹Freiheit›».

Am 17. September im Ständerat

Rückweisung des institutionellen Rahmenabkommens an die EU

«Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes. Rückweisung des institutionellen Rahmenabkommens an die EU»
Was viele Schweizer sich von den Bundespolitikern wünschen, hat eine Handvoll Ständeräte getan: Ständerat Peter Föhn (SVP SZ) hat im Juni mit fünf Mitunterzeichnern eine Motion zur Rückweisung des Rahmenabkommens an die EU eingereicht. Damit setzen sie sich über die Regieanweisung der anderen Parteien hinweg.
Text der Motion 19.3746: «Der Bundesrat wird aufgefordert, weder mit der EU noch mit anderen Staaten bilaterale oder multilaterale Abkommen abzuschliessen, die eine Verpflichtung zur dynamischen, d. h. automatischen und zwingenden Rechtsübernahme beinhalten oder die die Gerichtsbarkeit der Gegenpartei zur Streit­entscheidung vorsehen, da dies ein krasser Verstoss gegen den Zweckartikel der Bundesverfassung wäre (Art. 2 Abs. 1 BV: ‹Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes›).»
Aus der Begründung: «Es ist offensichtlich, dass die drei Punkte, zu denen der Bundesrat in Brüssel Klärung verlangt – staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie – bewusst die zwei zentralen Fragen des institutionellen Rahmenabkommens ausklammern: Die dynamische, d. h. automatische und zwingende Rechtsübernahme von EU-Recht und die Gerichtsbarkeit durch den Gerichtshof der EU. Die Schweizerinnen und Schweizer würden dadurch die Rechtshoheit in ihrem eigenen Land verlieren. Es wäre nicht mehr möglich, unser Zusammenleben nach unseren Regeln der direkten Demokratie zu gestalten.
Der EU ist freundlich und unmissverständlich darzulegen, dass die Schweiz an guten bilateralen Beziehungen auf Augenhöhe interessiert ist, aber keinen Vertrag unterschreiben kann, der gegen den Zweckartikel der Bundesverfassung verstösst, welcher die Unabhängigkeit des Landes und die Rechte des Volkes garantiert […].»

Kästli-Denken pflegen oder ehrlich politisieren?

Eine dringende Frage stellt sich: Wollen die Mitglieder unseres Parlamentes weiter das Kästli-Denken pflegen, oder geben sich Ständeräte (und später Nationalräte) aus anderen Parteien einen «Schupf» und schliessen sich diesem Vorstoss an? Wir Bürgerinnen und Bürger sollten genau hinschauen, wen wir am 20. Oktober wählen wollen: Keine Taktierer, die ihr Fähnlein in den Wind hängen, sondern aufrechte, ehrliche Persönlichkeiten. Diese gibt es in jeder Partei.    •

1    Initiativtext siehe www.begrenzungsinitiative.ch/initiativtext/
2    www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/alter-zivilstand-staatsangehoerigkeit.html
3    «Bundesrat sagt nein zur Begrenzungsinitiative». Medienmitteilung des Bundesrates vom 7. Juni
4    «Es gibt keine halbe Unabhängigkeit». Interview mit SVP-Präsident Albert Rösti, in: St. Galler Tagblatt vom 4. September, Interview: Tobias Bär
5    «Wieviel Freiheit bringt die ‹Operation Libero›?», in: Zeit-Fragen vom 13. August
6    «Operation Libero sucht 100 000 Nein-Sager!», im: Blick vom 22. September 2018, Andrea Willimann

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