Covid-19 – vielfach instrumentalisiert

von Karl-Jürgen Müller

Eigentlich wäre die Sache ganz einfach: Covid-19 ist eine durch ein neu aufgetauchtes Corona-Virus verursachte Krankheit, die auch zum Tode führen kann. Wenige Monate nach dem erstmaligen Auftreten dieses Virus weiss die medizinische Wissenschaft zwar schon einiges über das Virus und dessen Wirkungen, viele Fragen sind aber auch noch offen, auch die nach dem ganzen Ausmass der mit einer Ansteckung verbundenen möglichen Erkrankungen. Es ist deshalb sehr ratsam, die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten.
Kernaufgabe des Staates ist es, Gesundheit und Leben seiner Bürger soweit wie möglich zu schützen und die dafür notwendigen Mass-nahmen entweder selbst zu organisieren oder aber zu unterstützen. Wie dies am besten gelingen kann, darüber muss immer wieder und je nach den Umständen diskutiert und entschieden werden. Dabei ist es durchaus möglich, dass andere Grundrechte zu Gunsten des Rechts auf Gesundheit und Leben – zeitlich begrenzt – beeinträchtigt werden. Jedoch sind immer Mittel und Wege zu suchen, die es jedem Bürger ermöglichen, alle seine Grundrechte so gut wie möglich wahrzunehmen. Wie dies gelingen kann – auch hierüber muss immer wieder und je nach den Umständen diskutiert und entschieden werden.

Öffentliche Diskussionen sind wichtig

Auch denjenigen, die gegen die staatlichen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie Widerspruch erheben, darf nicht pauschal die Ernsthaftigkeit und die Sorge in der Sache abgesprochen werden. Die staatlichen Massnahmen hatten und haben zum Teil sehr einschneidende Konsequenzen. Niemand kann heute und konnte auch in den vergangenen Monaten mit absoluter Sicherheit sagen: Ich kenne die richtige Lösung für unser Problem. Dass heute viele kritische Stimmen als «Verschwörungstheorie» oder noch Schlimmeres abgetan werden, ist in der Sache nicht angemessen und hilft nicht weiter, sondern ist oftmals politisch motiviert.
Es ist gut, wenn die staatlichen Massnahmen zum Schutz der Bürger vor einer Erkrankung an Covid-19 und für eine ausreichende medizinische Versorgung der dennoch Erkrankten öffentlich diskutiert werden, auch kontrovers. Der Idealfall wäre das ganz an der Sache orientierte Gespräch – mit dem Ziel, immer wieder neu die beste Lösung zu finden.
Ist dies der Zustand in unseren Ländern?

Stimmungswandel

Zweifel sind angebracht. Am 27. Mai 2020 berichtete die Sendung Zapp des Norddeutschen Rundfunks (NDR) über die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap. Die Umfrage findet seit Mitte März in regelmässigen Abständen statt, und ein wesentliches Ergebnis der aktuellsten Umfrage (im Zeitraum 18.–22. Mai 2020) ist: «Jeder fünfte Wahlberechtigte in Deutschland meint, dass ‹-Politik und Medien die Gefährlichkeit des Corona-Virus ganz bewusst übertreiben, um die Öffentlichkeit zu täuschen›.» Der Anteil derjenigen, die diese Meinung haben, schwankt stark, je nach politischer Orientierung. So stimmen 54 %der deutschen AfD-Anhänger der zitierten Aussage zu. Der Anteil schwankt auch je nach Mediennutzung: Bei Personen, die «Social-Media-Plattformen aktiv nutzen», sind es 31 %. Wie ist das zu erklären? Sind diese Menschen dem Staat gegenüber so miss-trauisch, weil sie besser informiert sind als andere? Oder zeigt sich hier, wie stark die eigene Weltanschuung und politische Orientierung die Stellungnahme zu Covid-19 und zu den staatlichen Massnahmen prägen?
Am 29. Mai 2020 titelte NZZ online: «Im Netz haben sich viele mit ihren Mitmenschen solidarisch gezeigt – jetzt nehmen Beleidigungen zu». Zur Untersuchung heisst es: «Die Forschungsstelle Sotomo1 hat die Emotionen, Akteure und Risikowahrnehmungen in der digitalen Debatte während der Corona-Krise untersucht. Es wurden rund 930 000 Online-Kommentare verwendet, die […] vom 3. März bis am 25. Mai auf Twitter und den kostenlos zugänglichen Schweizer Online-News-Plattformen 20 Minuten, Blick online, Watson, SRF News und Nau publiziert wurden.» Im NZZ online-Bericht ist zu lesen: «Als etwa ab Mitte April klar wird, dass die Schweiz die erste Ansteckungswelle des Corona-Virus wohl ohne ein Desaster überstehen wird, nimmt die Dominanz der Kommentare mit Solidaritätsbekundungen […] etwas ab. Auch das vorher sehr ausgeprägte Loben der Mitmenschen, des Spitalpersonals, der Wissenschafter und des Bundesrates geht zurück. Seit den ersten Lockerungen werden Beleidigungen und Beschuldigungen dominanter. Die hier untersuchten Kommentare umfassen wütende Äusserungen, Fluchworte, Bekundungen von Frustrationen sowie anklagende Worte, unter denen ‹hirnlos› und ‹bescheuert› zwei eher harmlose sind. Die Wut steigt dann zur zweitwichtigsten Emotion auf und nimmt weiter leicht zu.»
Wie ist dies zu erklären? Gibt es gute Gründe für diesen Stimmungswandel? Oder sehen wir hier das Resultat von Stimmungsmache? Einer Stimmungsmache, die längst die Grenzen der sogenannten Alternativmedien überschritten und auch den Mainstream erreicht hat?

Weltanschauungen, Politik, Interessen…
und wohl auch einiges Irrationale

Sicher sagen kann man heute: Covid-19 wird – wie viele andere Themen – benutzt – man könnte auch sagen: missbraucht –, um eine schon vor dem Auftreten der Erkrankung vorhandene weltanschauliche und politische Agenda und/oder handfeste (nicht per se unberechtigte) materielle Interessen zu verfolgen.
An alle Stimmen zu den bisherigen staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ergeht deshalb die Frage nach ihren Motiven und Zielen: «Sie haben sich mit Ihren Druckerzeugnissen, Internetseiten, sozialen Netzwerken und öffentlichen Bekundungen zum Thema Corona zu Wort gemeldet. Wollen Sie damit konstruktiv dabei mithelfen, die Probleme unseres Landes in vielen kleinen Schritten zu lösen, und zwar mit allen anderen massgeblichen Kräften gemeinsam (Reformansatz)? Oder sind Sie der Meinung, dass unser politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System derart marode ist, dass nur ein radikaler Systemwechsel mit einer absoluten Entmachtung der bislang Mächtigen Abhilfe schaffen kann (Revolution)? Oder haben Sie ganz andere, nicht offen deklarierte Motive und Ziele?» Zugegeben, diese Fragen sind zugespitzt – aber herausfordernd gemeint.

Mehr Globalisierung, mehr Global governance,
mehr Konflikte, mehr Armut…

Es gibt auch die Kräfte, für die Covid-19 ein Anlass ist, noch stärker als bislang für mehr Global governance zu plädieren. Diese Kräfte haben dies auch schon vor Covid-19 getan … und sie tun es jetzt eben erneut. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 23. Mai 2020 hat sich sogar Richard N. Haass, der Präsident des US-amerikanischen Council on Foreign Relations, zu Wort gemeldet, in Anbetracht von Covid-19 die verbreitete Globalisierungskritik aufgegriffen und trotzdem für mehr Globalisierung plädiert: «Die Globalisierung ist kein Problem, das von den Regierungen zu lösen ist, sondern eine Realität, mit der wir umgehen müssen. Wer für eine umfassende Deglobalisierung eintritt, entscheidet sich nicht nur für ein falsches Heilmittel, sondern auch für etwas, was die diagnostizierte Krankheit an Übel übertrifft.» Das neoliberale Globalisierungsmodell wurde noch nicht zu den Akten gelegt – obwohl es auch gewichtige Stimmen gibt, die in eine andere Richtung gehen. So zitierte dieselbe Zeitung am 25. Mai 2020 die designierte neue Chefökonomin der Weltbank, die Harvard-Professorin Carmen Reinhart, mit den Worten, die Corona-Krise sei der «Sargnagel der Globalisierung». Dazu passend betitelte die Zeitung einen anderen Artikel in derselben Ausgabe mit «Politiker besinnen sich auf den Nationalstaat zurück».
Neue kalte Krieger in den Nato-Staaten und So-wie-Nato-Denker sonstwo in der Welt sehen in der Corona-Pandemie eine weitere Gelegenheit, Russland und China auf die Anklagebank zu setzen. Der Silberstreifen Hoffnung, dass mit einer alle Völker gleichermassen bedrohenden Krankheit mehr Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe zwischen allen Staaten und Völkern Wurzeln schlagen, hat sich auf der politischen Ebene vorerst als Trugbild erwiesen. Im Gegenteil, im Schatten der Corona-Pandemie wird so manche weitere friedensgefährdende Entscheidung getroffen. Die angekündigte Kündigung des Open-Skies-Abkommens durch die US-Regierung2 gehört hierzu, wie auch die drohende Entwicklung im Nahen Osten nach der neuen Regierungsbildung in Israel. Und das Wettrüsten wird auch fortgesetzt.
Zu befürchten ist zudem, dass die mühsamen Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers in der Welt zur Makulatur werden. Viele Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sind von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie besonders stark betroffen.

… und mehr Digitalisierung?

Nicht zuletzt: Der Eindruck, dass Covid-19 als eine Art 9/11 für die Digitalisierung der Schulen missbraucht werden soll, verfestigt sich. Wer am 25. Mai 2020 die ARD-Sendung «Hart aber fair» gesehen hat, musste schockiert darüber sein, wie massiv und einseitig nun für die Digitalisierung der Schulen öffentlich Propaganda gemacht wird und wie die vielen soliden kritischen Stimmen hierzu ausgeblendet werden sollen.

Was wird aus der EU?

Besonders interessant für uns in Europa ist der Blick auf die EU. Welche Pläne gibt es dort? «Der Mensch akzeptiert die Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit.»3 Jean Monnet, einer der wichtigsten Strippenzieher bei Beginn der Supranationalisierung in Europa Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre hat diesen Satz formuliert und damit zum Ausdruck gebracht, dass «Krisen» ein entscheidender Motor bei der schrittweisen Supranationalisierung der Politik der europäischen Staaten sein sollen. Mitte März, als die europäischen Nationalstaaten ihre ersten Mass-nahmen gegen die Corona-Pandemie beschlossen, geriet die EU in eine Krise. Viele – zum Teil befürwortend, zum Teil aber auch ablehnend – sprachen von einer «Renationalisierung der Politik». Die EU hat im Bereich der Gesundheitspolitik keine vertraglichen Befugnisse, die nationale Politik musste und wollte entscheiden. Nun aber deutet sich wieder mehr, noch mehr EU an. Nicht im Bereich der Gesundheitspolitik, aber in der Finanzpolitik. Stichworte dazu sind die wieder aufgenommene Debatte über Euro-Bonds für hoch verschuldete EU-Staaten, ganz konkret der gemeinsame Plan von Angela Merkel und Emmanuel Macron, der EU-Kommission einen Kreditrahmen von 500 Milliarden Euro als Gelder für Konjunkturprogramme der von Covid-19 betroffenen EU-Staaten zu gewähren, die diese Länder nicht zurückzahlen müssen. Nicht nur die Kritiker des Programms sehen hierin einen grossen Schritt hin zu einer «Vergemeinschaftung» der Finanzpolitik der EU-Staaten und damit zu einer Aushöhlung des nationalstaatlichen Haushaltsrechts.
Mehr noch: Ganz offen wird davon gesprochen, dass die Investitionen, die mit den geplanten 500 Milliarden Euro Konjunkturhilfen angestossen werden sollen4, Teil des «European Green Deal» sein sollen. Die Wirtschaftsstruktur in den EU-Staaten soll sich – staatlich gelenkt – radikal verändern. Der einflussreiche deutsche CDU-Politiker Wolfgang Schäuble nannte dies in der Sendung ARD-Extra vom 22. Mai «neue Normalität» (siehe Artikel "Der «Lockdown» und die «neue Normalität»").

Die heftigen Reaktionen auf das am 5. Mai 2020 ergangene Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigen aber auch, wie «nervös» die EU geworden ist. Das höchste deutsche Gericht hatte gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 11. Dezember 2018 entschieden und das Urteil des EuGH zum Teil als «schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar» und übergriffig («ultra vires») klassifiziert.

Besser: mehr direkte Demokratie

Werner Wüthrichs Analyse der Geschichte und Gegenwart der Schweiz – «Die direkte Demokratie als Instrument zur Krisenbewältigung» in Zeit-Fragen Nr. 11/12 vom 19. Mai 2020 – bestätigt sich ex negativo beim Blick über die Grenzen. Sich dafür einzusetzen, die Möglichkeiten direktdemokratischer politischer Kultur und politischer Entscheidungsfindung zu erweitern, ist deshalb auch kein schlechter Rat für die Bürger in den Nachbarländern der Eidgenossenschaft. Das würde die Bodenhaftung und die Orientierung an der Sache wahrscheinlicher machen.      •


Sotomo ist ein in Zürich ansässiges Meinungsforschungsinstitut. Weitere Informationen sind auf der Internetseite des Instituts, sotomo.ch/site/, zu finden.
Vertrag über den Offenen Himmel, OH-Vertrag oder Open Skies bezeichnet einen Vertrag aus dem Jahre 1992 zwischen Nato- und ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, der es den teilnehmenden Nationen gestattet, gegenseitig ihre Territorien auf festgelegten Routen zu überfliegen und Aufnahmen (Foto, Radar und seit 2006 auch Infrarot) zu machen. Durch diese vertrauensbildende Massnahme sollen der Frieden gesichert und Konflikte vermieden werden. Am 21. Mai 2020 kündigte Robert O’Brien, Nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten Donald Trump, an, dass die Vereinigten Staaten aus dem Vertrag austreten würden.
3  Roussel, Eric. Jean Monnet, Fayard 1996, S. 68
4  Der aktuelle Plan der EU-Kommission sieht vor, dass sogar 750 Milliarden Euro für die Konjunkturförderung ausgegeben werden sollen, 250 Milliarden davon als Darlehen an die Nehmerländer. Noch ist nicht sicher, ob der Plan auch umgesetzt werden kann. Auch innerhalb der Regierungen der EU-Staaten selbst gibt es Widerspruch.

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