So wird Deutschland mehr und mehr gespalten

Eine Nachlese zur Berliner Demonstration und Kundgebung gegen staatliche Corona-Massnahmen

von Karl Jürgen Müller

Am 1. August 2020 demonstrierten in Berlin sehr viele Menschen gegen die staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Im Anschluss an die Demonstration war eine Kundgebung auf der «Strasse des 17. Juni» im Bereich zwischen der Siegessäule und dem Brandenburger Tor geplant. Die Parole der Kundgebung lautete: «Das Ende der Pandemie – Der Beginn der Freiheit». Veranstalter von Demonstration und Kundgebung war die Stuttgarter Organisation «Querdenker 711»1– 0711 ist die Telefonvorwahl von Stuttgart. 

Die Polizei versuchte schon kurz nach Beginn der Kundgebung, diese aufzulösen. In einer Pressemitteilung der Berliner Polizei vom 2. August 2020 heisst es dazu: «In deutlich überwiegender Anzahl missachteten die Teilnehmenden [der Kundgebung] auch hier das geltende Hygienekonzept und die Auflage zum Tragen des Mund-Nase-Schutzes, so dass erneut polizeiliches Einschreiten erforderlich wurde. Nachdem polizeiliche Hinweise und Lautsprecherdurchsagen weiterhin missachtet wurden, die Versammlungsleitung die Kundgebung nicht in eigener Verantwortung beenden wollte, wurde die Versammlung letztlich polizeilich aufgelöst.»2

Die Angaben über die Teilnehmerzahl an der Kundgebung schwanken sehr stark: von 20 000 – so die Pressemitteilung der Berliner Polizei vom 2. August3– bis zu 1,3 Millionen – so immer wieder die Veranstalter, nahestehende Gruppierungen und Alternativmedien, darunter ein fast sechsstündiger Internet-Livestream.4Wer die Bilder zur Kundgebung in Augenschein nimmt, der erkennt leicht, dass die Zahl 20 000 stark untertrieben ist, die Zahl 1,3 Millionen aber auch stark übertrieben. Schätzungen, die von der Strecke von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor, der Breite der Strasse und der erkennbaren Nutzungsdichte durch die Kundgebungsteilnehmer ausgehen, kommen auf mehr als hunderttausend Menschen. 

Nahezu keine sachlich 
richtige Berichterstattung

Sachlich richtige Medienbeiträge über die Kundgebung und die Kundgebungsteilnehmer gibt es bislang fast keine. Die gängigen deutschsprachigen Massenmedien haben einen Gleichklang, geben die sehr niedrigen Teilnehmerzahlen der Polizei wieder und beurteilen die Kundgebung und deren Teilnehmer durchweg negativ – die Tatsache, dass auch Menschen aus dem rechten politischen Spektrum an der Kundgebung teilnahmen, wird fast überall besonders betont. Ganz anders die Alternativmedien, die die Veranstaltung unterstützt haben. Sie stellen die Kundgebung – nicht weniger unsachlich – als geschichtsträchtiges Ereignis dar. So hiess es in einem Alternativmedium, das weit verbreitet ist: «Der heutige Tag ist ein historisches Ereignis, über die Grenzen unseres Landes hinaus. Das Volk erhebt sich. Die Zahlen sind umwerfend. Keiner hätte das bis heute für möglich gehalten. Es ist die grösste Niederlage des Merkel-Regimes – und der Lügenpresse. […] Die 500 000+ von heute sind umwerfend. Das hält kein Regime auf Dauer aus. Jetzt heisst es: Dranbleiben!»

Solchen Kommentaren merkt man aber auch an, dass es um viel mehr geht als um Protest gegen die staatlichen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Offensichtlich suchen interessierte Kreise nach Vehikeln für weitgehende politische Ziele. Dabei bedient man sich einer bunten Schar «Unzufriedener». Das merkte man nicht nur an den Kundgebungsteilnehmern, sondern auch an den für die Bühne vorgesehenen Akteuren. Zu ihnen gehörten weltanschaulich höchst unterschiedliche Personen wie Oliver Janich, Thorsten Schulteoder Clemens Kuby – ein Alternativmedium sprach am 4. August in seinem Newsletter davon, nun werde endlich die schon lange geforderte «Querfront» verwirklicht. 

Man sprach von 
Frieden, Freiheit und Liebe …

Zu Wort gekommene Redner in Berlin sprachen von Frieden und Freiheit, Lieder zur «Liebe» wurden gesungen und mit den Händen Herzen gezeigt. Ein grosses Plakat von Gandhiwar nahe der Veranstaltungsbühne zu sehen. Die Veranstalter gaben sich der Polizei gegenüber verbal gemässigt. Eine gewalttätige Auseinandersetzung nach der frühen polizeilichen Auflösungsankündigung sollte vermieden werden, und die Polizei wurde von den Kundgebungsteilnehmern – soweit bekannt – auch nicht handgreiflich attackiert. Alles wirkte auf den ersten Blick eher wie ein Volksfest – und ein ausführlicher Veranstaltungsbericht verglich die Veranstaltung sogar mit der «Loveparade».5Substantielle Beiträge, die konkrete politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Probleme lösen helfen, waren nicht zu hören.

… gleichzeitig wurden 
rechtliche Regelungen gezielt missachtet

Gleichzeitig wurden die Polizisten, auch einzelne, immer wieder und auch aus nächster Nähe gefilmt und, wo möglich, zur Schau gestellt oder verbal attackiert. Ein Rapper, der den musikalischen Auftakt machte, gab sich radikal gesellschaftskritisch. Veranstalter und Teilnehmer waren fest zum Regelverstoss entschlossen. Sie ignorierten die gesetzlichen Schutzvorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie – die mehr als hunderttausend Teilnehmer hielten in der Tat keinerlei Abstand ein und trugen auch keine Schutzmasken. Im Gegenteil: Unter dem Motto, den «Mächtigen» die «Masken herabziehen» zu wollen, wurde ein höchst unverantwortlicher Umgang mit einer tatsächlichen Gefahr für alle Kundgebungsteilnehmer und viele weitere Menschen in einen Akt politischen «Widerstands» umgemünzt.

Parolen des Kampfes gegen den Staat

Auf die mehrmalige Aufforderung der -Polizei, die Kundgebung zu beenden, reagierten die Kundgebungsteilnehmer mit lautem Rufen wie «Wir bleiben hier» oder «Widerstand». Typisch für das Niveau des öffentlich Geäusserten waren Sprüche wie «Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut!» Die Veranstalter forderten die Kundgebungsteilnehmer auf, sich auf den Boden zu setzen, um eine Räumung durch die -Polizei zu verhindern. Mit dem offenen Aufruf zum Rechtsbruch sind die Veranstalter ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Wissen sie, wem sie damit dienen? Und wie ist es zu deuten, wenn der Herausgeber eines anderen, ebenfalls weit verbreiteten Alternativmediums am 3. August schreibt: «Die Versammlung am Samstag war die vielleicht grösste regierungskritische Demonstration in Deutschland seit dem 4. November 1989.6Die Entscheidung der Regierung, sie auflösen zu lassen, und die anschliessende Ohnmacht der staatlichen Organe, diese Auflösung auch vollziehen zu können, weisen den Weg in 
politisches Neuland.» An welches «politische Neuland» denkt der Verfasser solcher Sätze?

Warum berichteten die 
Massenmedien so wenig sachgemäss?

Nicht minder stellt sich die Frage, warum von den gängigen Massenmedien nicht sachgerecht berichtet wurde und warum die -Politik kaum angemessen reagierte. Die SPD-Vorsitzende Saskia Eskenbezeichnete die Kundgebungsteilnehmer erneut als «Covidioten». So wird man den mehr als hunderttausend Kundgebungsteilnehmern nicht gerecht. Die Ton- und Bildaufnahmen zeigen ganz verschiedene Menschen, die meisten der zu Wort Gekommenen wirkten nicht «radikal» – aber alle, die etwas sagten, sind «unzufrieden». Die Gründe hierfür werden vielfältig sein. «Corona» ist ein Katalysator. Welche vielleicht auch ernsthaften Anliegen gibt es? Das wurde auch in Berlin nicht deutlich. Zu sehr war alles auf einen «Event» eingestellt. Dass dabei die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer Menschen gefährdet wurden, war wenig verantwortungsbewusst – und kann einen bitteren Preis fordern. Leider ist damit zu rechnen, dass es weitere Akte der Unvernunft geben wird. Die gleichzeitig stattfindende Gegendemonstration hatte auch nicht mehr zu bieten. So zeichnet sich ab, dass die Spaltung der deutschen Gesellschaft voranschreiten wird und ein ehrlicher Dialog immer schwieriger wird. Der beginnt bekanntlich damit, dass der andere ernstgenommen wird – in alle Richtungen.

Fragwürdige geschichtliche Vergleiche

Dass viele der Kundgebungsteilnehmer wie 1989 in der DDR «Wir sind das Volk» skandierten, dass die Veranstaltungsleitung mit Blick auf den Strassennamen Parallelen zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 herzustellen versuchte, mag dem Empfinden von Kundgebungsteilnehmern entsprochen haben. Aber wie realistisch ist ein Vergleich der heutigen Bundesrepublik mit der DDR – und vor allem: mit der Situation und den tatsächlichen Gefahren für die in einer wirklichen Diktatur aufbegehrenden Bürger? Es ist leider verbreitet, in der politischen Auseinandersetzung mit geschichtlichen Vergleichen zu arbeiten. Aber wie aussagekräftig sind solche Vergleiche? Helfen sie wirklich, tatsächliche Probleme zu lösen?

Der Bruch mit rechtsstaatlichen Grundsätzen – wie beim bewussten Verstoss gegen das geltende Hygienekonzept und die Auflage zum Tragen des Mund-Nase-Schutzes – und die Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols, konkret: die Missachtung polizeilicher Aufforderungen, sind eine schiefe Ebene, die gefährlich ist. So wird – mag es auch nicht gezielt sein – der Boden für Gewaltakte wie in Stuttgart und Frankfurt bereitet.

Aber auch die Politik 
steht in der Verantwortung

Aber auch die Politik steht in der Verantwortung, die Staatsbürger immer wieder für die Grundlagen des Verfassungsstaates und für demokratische Wege zu gewinnen – nicht mit Worten, sondern mit vielen konkreten Taten. Auch hier liegt heute sehr vieles im argen. Mehr wirkliche direkte Demokratie wäre eine Alternative. So könnten die Souveränität der Bürger gestärkt und die Suche nach sachlich angemessenen Lösungen auf eine breitere Basis gestellt werden. Das wäre auch ein Mittel gegen sich vertiefende Schützengräben und die Spaltung der Gesellschaft.   •


https://querdenken-711.de
2  https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.968142.php vom 2.8.2020
3  ebd.
4 https://www.youtube.com/watch?v=e-11-Bec4rs vom1.8.2020
5  https://de.sputniknews.com/kommentare/20200802327611934-anti-corona-demo-loveparade-berlin/ vom 2.8.2020
6   Die Alexanderplatz-Demonstration war die gröss-te nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR. Die Demonstration fand am 4. November 1989 in Ost-Berlin statt und war die erste offiziell genehmigte Demonstration in der DDR, die nicht vom Machtapparat ausgerichtet wurde. Die Demonstration und die Abschluss-kundgebung auf dem Alexanderplatz, die von Mitarbeitern mehrerer Ost-Berliner Theater organisiert wurde, richtete sich gegen Gewalt und plädierte für verfassungsmässige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. An der Alexanderplatz-Demonstration nahmen nach Angaben der Veranstalter eine Million Menschen teil. Diese Angabe ist in der Forschung jedoch umstritten. Sie gilt als Meilenstein der friedlichen Revolution in der DDR.

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