«Gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen»

von Erika Vögeli

«Gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen»

So lautet der letzte Abschnitt der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung. Und angesichts der laufenden Corona-Krise sollte man hinzufügen: Denn das Wohl der Schwachen ist das Wohl von uns allen. Wer nicht Augen, Ohren und Herz verschliesst, sieht: Das Virus ist fatal für Kranke und Ältere, es gefährdet Menschenleben, seine Folgen für das Gesundheitswesen sind dramatisch; ob es bei den Genesenen Spuren hinterlässt, wissen wir noch nicht. Aber es fordert uns alle. Der Bundesrat hat recht: Es muss ein Ruck durch das Land gehen, es braucht die entschlossene Solidarität von uns allen. Wenn Bundesrat Alain Berset an einer Medienkonferenz den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zum obersten Ziel in der aktuellen Situation erklärt, an die Solidarität appelliert und diese insbesondere für die ältere Bevölkerung einfordert, so erinnert er eigentlich an eine Grundvoraussetzung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Der Schutz des Lebens ist Grund und wichtigste Aufgabe menschlicher Gemeinschaftsbildung und auch des Staates. Wir alle leben in einem sozialen Zusammenhang – mit unseren Mitmenschen, in der Gesellschaft, in unserer Kultur, und wir können auf den Errungenschaften aufbauen, die frühere Generationen für uns geschaffen haben. Der Schutz der älteren Menschen ist daher Aufgabe und Verpflichtung für alle, denn wie Alain Berset erinnerte: «Sie haben dieses Land zu dem gemacht, was es heute ist. Ihnen gebührt unser Respekt.»1 In diesem Sinne richtete der Bundesrat seinen Aufruf an das Verantwortungsbewusstsein an alle Mitbürgerinnen und Mitbürger, denn, so Alain Berset am Freitag wörtlich:

«Was zählt, ist nicht die Verkündung, sondern die Einhaltung der Massnahmen durch die Bevölkerung über Wochen. Wir müssen gemeinsam unsere Verantwortung wahrnehmen. Wir sind alle betroffen. Jetzt stehen wir mit dem Rücken zur Wand, jetzt müssen wir zeigen, was wir können. Was uns schützt, ist unser Verhalten, das entscheidet, ob die Mass-nahmen erfolgreich sind.»

Die Schweizer Behörden appellieren an die Vernunft der Bevölkerung. Eingedenk der Geschichte unseres Landes sind sie sich bewusst, dass die Eigenverantwortung eine Grundlage ist, auf der ein grosser Teil des Erfolgs unseres Landes beruht. Freiheit ist aber auch Verpflichtung – Verpflichtung gegenüber dem Ganzen. Als Individuen sind wir immer Teil eines sozialen Ganzen, alleine nicht lebensfähig. Aus dem vertieften Bewusstsein um diesen sozialen Kern und Zusammenhalt menschlichen Lebens – das muss und darf keineswegs nur intellektuell sein – erwächst so etwas wie Dankbarkeit, mitzuhelfen, wenn das soziale Leben in Gefahr ist. Das entspricht eigentlich dem Wesen des Menschen, und es zeigt sich auch gerade in schweren Situationen, dass die gegenseitige Hilfe ein Grundprinzip unseres Soziallebens ist. Aus psychologischer Sicht könnte man ergänzen: Es ist schlicht eine menschliche Tatsache, dass seelische Gesundheit einhergeht mit der Fähigkeit des Mitempfindens und des Mitgefühls. Unter dem Lärm pseudo-ökonomischer Theorien ist dieser Fakt in den letzten Jahren zwar – vielleicht vor allem in westlichen Medien – in den Hintergrund gedrängt worden, seine Richtigkeit erschliesst sich nichtsdestoweniger jedem, der von der Gleichwertigkeit «alles dessen, was Menschenantlitz trägt»2, überzeugt ist.

In den letzten Tagen haben es die Behörden unermüdlich wiederholt: Es geht darum, jetzt zu handeln, damit, wenn immer möglich, der schlimmste Fall nicht eintritt: dass das Gesundheitswesen an sein Limit kommt, praktisch zusammenbricht, dass wir Ärzte in die Situation bringen, entscheiden zu müssen, wer behandelt werden kann und wer nicht. Das wäre für den Arzt eine Katastrophe, für alle Pflegenden, es wäre für den Patienten eine Katastrophe wie für seine Angehörigen, und es wäre für uns alle eine Katastrophe. Es wäre menschliches Versagen, das zu unnötigem Leid führt – und das fällt auf uns alle zurück, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.

Es ist jetzt auch nicht die Zeit, Debatten darüber zu führen, das Ganze sei eine wirtschaftliche oder politische Operation zur Gewinnmaximierung oder gar zur Einführung der Diktatur, zur Einführung medizinischer Zwangsmassnahmen oder politische Debatten über andere Hintergründe zu führen. Wenn wir unseren Ärzten und Pflegefachleuten nur ein wenig zuhören, wissen wir, dass das Problem real und äusserst ernst ist. Sie und wir alle stehen vor einer neuen Herausforderung. Fragen nach Herkunft und Zusammenhängen dieses neuen Virus, Fragen nach besserer Vorsorge und Prävention sind Aufgaben, die zweifellos anstehen. Es sind dies allerdings Fragen, welche die Lebenseinstellung von uns allen betreffen. Sie einfach an «die Politik», «die Behörden», «den Staat» zu delegieren, greift zu kurz. Es wird eine breitere, vertiefte Diskussion brauchen, wie wir unser Zusammenleben mit dieser Erfahrung inskünftig gestalten wollen. Aber angesichts einer Feuersbrunst gilt es zunächst, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, das Feuer zu löschen. Die Klärung der Brandursache, der Ursache seiner rasanten Verbreitung und der Konsequenzen für eine Verhinderung und besseren Vorbereitung auf solche Szenarien steht an, wenn wir die erste Aufgabe gelöst haben: Schutz des Lebens, Schutz des Gesundheitswesens. Hier sind wir alle gefragt.

Wer die Berichte aus Italien oder aus dem Kanton Tessin liest und sieht, weiss: Es ist mehr als ernst. Tun wir alle das, was jetzt vernünftigerweise ansteht. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe für uns alle, für jede und jeden, ob Alt, ob Jung, ob Klein oder Gross. Und wenn wir das Problem so sehen, geht es auch leichter. Wenn ich zuhause bleibe, tue ich das nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen, trage ich bei zur Aufgabe, die wir tatsächlich nur vereint lösen können. Dann bin ich nicht allein. Dann fühle ich mich verbunden mit dem Anliegen, das Leben zu schützen, mitzuhelfen, so viel Leid zu verhindern, wie möglich.

Werden wir kreativ! Tatsache ist, dass es bereits zahlreiche Beispiele solcher Kreativität gibt. Seien es die Anschläge, die Hilfe anbieten, seien es die Menschen, die auf den Balkon traten und allen im Gesundheitswesen Tätigen mit einem gemeinsamen Applaus dankten, seien es die Italiener, die mit dem Balkon-Singen – das gemeinsame Singen altbekannter Lieder auf dem Balkon – begonnen haben, seien es die Kinder, die von ihren Grosseltern den Einkaufszettel durchgegeben erhalten und ihnen den Einkauf vor die Tür stellen, die Nachbarn, die das für betagte Hausmitbewohner tun, und vieles andere mehr. Vielleicht kennen wir Menschen in Pflegeberufen, die am Anschlag sind, und dieselben Hilfeleistungen brauchen könnten: Einkäufe erledigen, schmutzige Wäsche im Wäschekorb abholen und gewaschen und gebügelt zurückbringen. Und für ältere und überlastete Menschen gilt: Lernen wir, Hilfe anzunehmen – es ist auch das ein Beitrag zur gegenseitigen Hilfe.

Niemand hat sich diese Situation gewünscht. Dass sie wirtschaftlichen Schaden in grobem Ausmass anrichten kann, ist keine Frage. Vielleicht lernen wir in den nächsten Wochen aber etwas, was uns bei den dann anstehenden Fragen zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme ebenfalls nützen kann. Die vor dem Hintergrund möglicher wirtschaftlicher Folgen geäusserten Überlegungen, nur die Risikogruppen zu isolieren, um die Wirtschaft ungehindert laufen lassen zu können, die Durchseuchung in der übrigen Bevölkerung möglichst schnell herbeizuführen, um dann zur Tagesordnung übergehen zu können, gehen an der sich immer deutlicher abzeichnenden Realität unseres Gesundheitswesens vorbei: Die jetzt schon infizierten Menschen bringen uns an den Rand des Machbaren. Schnell viel mehr wird es zusammenbrechen lassen. Und den jüngeren Schlaumeiern seien die Worte von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in Erinnerung gerufen: Auch für andere Notfälle – vom Herzinfarkt über den Schlaganfall, dem onkologischen Notfall usw. –, aber auch für Unfälle fehlen dann Ärzte oder Pflegende, die selber krank sind, und ist dann kein Platz mehr im Spital. Man kann glauben, man könne sich der Logik des menschlichen Zusammenlebens entziehen – sie bleibt.

Und weil sie bleibt, bleibt auch das: Vernünftiges Handeln, gegenseitige Hilfe, an den anderen denken sind menschliche Fähigkeiten, die uns selbst bereichern. Gemeinsinn und Gemeinwohl mögen in letzter Zeit seltener gebrauchte Wörter sein – ihre Bedeutung liegt wie gesagt im menschlichen Zusammenleben begründet, das ohne Kooperation und gegenseitige Hilfe überhaupt nicht möglich wäre. Wer den weltweiten Austausch der Forscher und Ärzte in den letzten Wochen nur ein wenig verfolgt hat, hat ein eindrückliches Beispiel vor Augen, was menschliche Zusammenarbeit vermag.     •

1  Zitiert nach «BaZ am Abend» vom 19.3.2020
Adler, Alfred. Menschenkenntnis, 1927/1988, S. 198

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