Was brauchen wir im letzten Lebensabschnitt?

Bericht einer Altenpflegerin

von Maria Froitzheim, Heike Hupe, Marilies Kupsch, Sylke Reeckmann, Köln

Obwohl Deutschland zu den Ländern mit dem höchsten Lebensstandard Europas und der Welt gehört, schneidet es bei der Anzahl von Pflegekräften im Vergleich zu anderen europäischen Ländern schlecht ab. In Deutschlands Krankenhäusern und Pflegeheimen herrscht seit langer Zeit ein Pflegenotstand, der sich durch die Corona-Krise verschärft hat. Viele kleinere Krankenhäuser und Intensivstationen wurden bereits vor der Pandemie geschlossen, Stellen für das Pflegepersonal und Ärzte wurden weggespart, der Pflegeschlüssel wurde geändert. Sogar an Hygieneartikeln wurde gespart, so dass in Pflegeheimen zum Beispiel immer wieder weder genügend Handschuhe noch Masken vorhanden waren. Der Präsident des deutschen Pflegerats Franz Wagner sieht mittelfristig einen Bedarf von zusätzlich 50 000 Stellen.

Der Pflegenotstand in Deutschland

Obwohl dieser Notstand zu Beginn der Corona-Krise deutlicher wurde, die Pflegekräfte für ihren hohen Einsatz beklatscht wurden und den Forderungen nach Verbesserung Versprechungen und auch einige Änderungen folgten, hat sich die Situation bis heute nicht grundlegend verbessert, sondern verschlechtert, da Tausende von Pflegekräften kündigen.
  Die Corona-Krise hat die ganze Misere wie in einem Brennglas verdeutlicht. Die Ursache für den Missstand liegt in der etwa dreissigjährigen Wirtschaftsform des Neoliberalismus, durch die der Profit an die erste Stelle getreten und das Gemeinwohl als oberstes Prinzip sowie Sinn und Zweck der Wirtschaft aufgegeben worden ist. Wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind auch im Gesundheitssystem nicht mehr der Mensch und seine Bedürfnisse die Massgabe, sondern der grösstmögliche materielle Gewinn. Hieraus erklären sich die viel zu schlechte Bezahlung und eine geringe Wertschätzung der Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger. Es gibt zu wenig qualifizierte Kräfte, Zeitarbeitsfirmen zahlen teilweise höhere Löhne und sorgen für hohe Fluktuation und ein schlechtes Klima unter den Beschäftigten. Durch den Personalmangel leisten die Pflegekräfte viele Überstunden. Sie sind gezwungen, unter unwürdigen Bedingungen gegen ihr eigenes Ethos zu arbeiten, und deshalb völlig überlastet.

Persönlicher Bericht einer Altenpflegerin

Der Bericht einer Altenpflegerin, die aus diesen Gründen kürzlich schweren Herzens ihre Arbeit in einem privaten Altenpflegeheim kündigte, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen dem, was eigentlich die Arbeit der Pflege eines alten und kranken Menschen ausmacht, und dem, was heute durch den Neoliberalismus trauriger Alltag in der Pflege geworden ist.
  Frau R., eine sechzigjährige, ausgebildete Pflegefachkraft, entschied sich nach langjähriger ambulanter Pflegetätigkeit zu Beginn der Krise, in einem Altenheim die pflegerische Leitung einer Quarantänestation zu übernehmen. Auf Grund ihrer qualifizierten Ausbildung, ihrer Erfahrung und ihres hohen Engagements brachte sie die nötige Sicherheit und Ruhe für diese verantwortungsvolle Aufgabe mit. Sie begann ihre Arbeit mit grosser Freude, führte die Station erfolgreich und genoss bald sowohl bei den alten Menschen als auch bei ihren Kollegen ein hohes Ansehen. Nachdem die Aufrechterhaltung der Quarantänestation nicht mehr nötig war, entschied sich Frau R., sich weiter zu engagieren und auf einer anderen Station zu arbeiten. Leider verschlechterten sich mit der Zeit die Bedingungen. Dies zeigte sich in einem immer grösser werdenden Mangel an Pflegekräften, zudem in einer schlechten Führung, durch die sich die Pflegekräfte ungerecht behandelt und nicht geschätzt fühlten. Hinzu kam die Anordnung, fachfremde Aufgaben erfüllen zu müssen (zum Beispiel als Hauswirtschafterin Pflegearbeiten zu übernehmen). Frau R. versuchte, im Namen ihrer Kolleginnen mit dem Leiter des Heims zu sprechen und sich für bessere Bedingungen einzusetzen, stiess hierbei aber auf Unverständnis und Ignoranz. Nach langer Zeit der Arbeit unter diesen unwürdigen Bedingungen kündigte sie trotz der Sorge um die alten Menschen und ihre Kolleginnen, um nicht selbst krank zu werden.

Die Lebenssituation des alternden Menschen

Frau R. hat uns sehr eindrucksvoll berichtet, wie sie mit den alten Menschen gearbeitet hat und wie es ihr gelungen ist, ihnen näherzukommen und Hoffnung zu geben. Wir haben versucht, ihre Worte im wesentlichen zusammenzufassen:
  Die Lebenssituation des alternden Menschen ähnelt der Phase zu Beginn des Lebens. Durch den Verlust der körperlichen oder auch geistigen Fähigkeiten wird der alte Mensch zunehmend abhängig von seinen Mitmenschen und gerät – ähnlich wie ein Kleinkind – in eine emotional hochempfindliche Lage. Der Tod rückt näher, die Angst vor Schmerzen, Einsamkeit und dem Sterben wird grösser. Immer mehr stellt sich die Frage, ob man ein guter Mensch gewesen ist.
  Beim Einzug in ein Altenheim kommt zu dieser schon schwierigen Situation ein gravierender Einschnitt hinzu, wodurch die Sorgen und Ängste oft zunehmen. Auch die dementen Menschen empfinden dies so. Oftmals werden sie ganz plötzlich für immer aus ihrer gewohnten Umgebung, ihrem Zuhause, das ihnen noch einen gewissen Grad an Sicherheit gegeben hat, herausgerissen. Der eigene, freie Lebens- und Gestaltungsraum fällt zunehmend weg. Die Angst, allein gelassen zu werden, die Schwierigkeit, sich auf ein ganz neues, fremdes Umfeld einzustellen und sich in die Abhängigkeit von unbekannten Menschen zu begeben, führen oftmals zu Orientierungslosigkeit, Depressionen oder manchmal sogar Suizidgedanken.
  Die Aufgabe einer Pflegekraft ist es nun, die Menschen in dieser hochsensiblen Situation aufzufangen und sie in ihrem letzten Lebensabschnitt zu begleiten, ihnen pflegerisch und menschlich behilflich zu sein, für die anstehenden Probleme Lösungen zu finden und den Weg gemeinsam mit ihnen zu gestalten. Dieser Weg kann lang oder auch sehr kurz sein. Manchmal geht es den alten Menschen beim Einzug noch nicht so schlecht, manche bauen danach rapide ab, manche leben noch einige Jahre im Heim. Viele verlieren mit der Zeit den Bezug zur Aussenwelt. Die Pflegekräfte bringen ihnen ein Stück weit die Welt in ihre Abgeschlossenheit zurück. Ihre Aufgabe ist es, die Sorgen und Ängste zu verstehen und gemeinsam mit den alten Menschen ihre spezielle Situation gut zu gestalten. Frau R. berichtet, dass manchmal ein Gespräch hilft, manchmal eine spontane Geste oder eine Gefälligkeit, die über die normale Arbeit hinausgeht, damit der alte Mensch sich gesehen fühlt.
  Für ganz wesentlich hält sie aus ihrer Erfahrung, dass Einfühlung und Zuwendung von dem Gefühl der Hoffnung und der Zuversicht geprägt sind: Man wird sich mit der Zeit kennenlernen, befreunden, die Last gemeinsam tragen, kooperieren und langsam Schritt für Schritt in dem Tempo voranschreiten, das der alte Mensch vorgibt. Die Pflegekraft kann behilflich sein, sich mit dem Leben und der neuen Situation zu versöhnen. Ausschlaggebend ist die Art der Zuwendung, nicht die Zeit dafür.
  Für eine solche Art der Unterstützung bedarf es einer grossen Selbstsicherheit und Offenheit des Pflegenden. In der Interaktion muss er frei von eigenen Gedanken, Sorgen und Unsicherheiten sein und Optimismus ausstrahlen. Er darf die Eigenarten oder auch Unarten der alten Menschen nicht auf sich beziehen und ihnen gegenüber keine Angst haben. Nur so kann es gelingen, ihnen Vertrauen, Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln.
  Einige alte Menschen haben Frau R. zum Ausdruck gebracht, dass sie für sie wie eine Mutter war. Ein hohes Verantwortungsbewusstsein sowie Anstrengungsbereitschaft, Unabhängigkeit und Verbindlichkeit konnte bzw. musste Frau R. schon als Kind in ihrer eigenen Lebenssituation entwickeln und trainieren. Ihre Lebenserfahrungen, eine lange, ernsthafte Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und psychologische Kenntnisse helfen ihr, den alten Menschen zu verstehen und mit ihm eine Einheit zu bilden, die Hoffnung und Kraft gibt, das Leiden zu lindern.
  Frau R. weist aber auch auf die Notwendigkeit der Kooperation aller Personen hin (Team), die den alten, insbesondere den schwerstkranken oder sterbenden Menschen umgeben. Hier ist es besonders wichtig, die Beobachtungen und Handlungen aller Beteiligten zusammenzutragen und anzuleiten, sei es die der Angehörigen, des Arztes, des Pfarrers, der Hauswirtschafts- oder Reinigungskraft. Diese hohe Verantwortung liegt auch in der Hand der Pflegekraft, da sie die Situation des alten Menschen am besten kennt. Sie begleitet, tröstet und unterstützt die Angehörigen. Die Erfahrung der Pflegekraft im Umgang mit Schwerkranken und Kenntnisse in der Palliativpflege sind in hohem Mass von Bedeutung für die Linderung von Schmerzen und die Beruhigung des Kranken. Sie erkennt die ersten Anzeichen des Todes und leitet die notwendigen Schritte der Begleitung ein. Sie sorgt dafür, dass der Sterbende nicht allein gelassen wird, sondern wie am Anfang seines Lebens wie von der Mutter umsorgt und behütet wird.

Resumée

Dies alles zeigt, welch hohe Anforderungen, Fähigkeiten und Kenntnisse, persönliche Stabilität und Belastbarkeit von Altenpflegern in ihrem Beruf erforderlich sind, um ihn mit Freude und Genugtuung ausüben zu können. Es zeigt auch, dass ihre Aufgabe eine zutiefst menschliche und beglückende Arbeit sein kann, wenn die Voraussetzungen in der eigenen Person und den Arbeitsbedingungen gegeben sind.
  Frau R. hat uns mit ihrem bewegenden Bericht einen Einblick in die Situation der alten Menschen generell und in ihre Situation in einem Altenheim gegeben. Angesichts dessen, was diese Generation aus grosser Not mit ihrer Tüchtigkeit für uns geschaffen hat – den Wohlstand, in dem wir leben – sind wir ihr zu grossem Dank und zur Sorge für ein würdiges Lebensende verpflichtet. Dies wird in beschämender Weise heute vielfach vergessen und zeigt sich z. B. im Pflegenotstand.
  Unsere alten Menschen sind zudem Zeitzeugen der Vergangenheit, ihre Weisheit und ihre Erfahrung sind ein hohes Gut, von dem die jüngere Generation aus vielen Gründen sehr profitieren kann. Den Altenpflegern, die engagiert trotz unwürdiger Bedingungen jeden Tag im verborgenen die hoch anspruchsvolle Begleitung unserer alten Menschen auf dem letzten Stück ihres Lebensweges übernehmen, sind wir selbstverständlich auch zu grossem Dank verpflichtet.
  Dank an Frau R. für ihr Engagement und für ihren Bericht!  •

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