Der Umgang Russlands mit der Covid-19-Pandemie

von Gerd Brenner

Ohne «harten Lockdown» und mit einem viel weniger teuren und luxuriösen Gesundheitssystem übersteht Russland die Covid19-Pandemie offenbar nicht schlechter als viele westliche Länder. Obendrein brachte Russland praktisch gleichzeitig mit Europa und Nordamerika einen vergleichbaren Impfstoff zur Einsatzreife. Wenn die aktuell grassierende Pandemie unter Kontrolle ist, wird man sich in Westeuropa wohl einige unangenehme Fragen stellen müssen.

Das russische Gesundheitswesen hat grundsätzlich keinen guten Ruf, auch nicht in Russland selbst. Hervorgegangen aus dem Gesundheitswesen der Sowjetunion, dem sogenannten Semaschko-System, wurde das russische Gesundheitssystem in den neunziger Jahren stark privatisiert und kommerzialisiert – wie vieles andere auch in jenen Jahren. Dadurch entstand eine Zweiklassenmedizin, in welcher sich gut betuchte Patienten in den grossen Städten in Privatkliniken gegen Bares europäische Spitzenmedizin leisten konnten. Beliebt waren auch Heil- und Kuraufenthalte in Europa. Parallel zur Landflucht der ländlichen Bevölkerung Russlands in die Städte wurde auch die Infrastruktur zur medizinischen Versorgung auf dem Land ausgedünnt. 
  Nach dem Jahr 2006 begann der russische Staat sich vermehrt auf seine Verantwortung im Gesundheitsbereich zu besinnen und initiierte Reformen im Gesundheitswesen selbst sowie bei der obligatorischen Krankenversicherung. Diese Reformen ergaben widersprüchliche Ergebnisse: Verbesserte Qualität der medizinischen Versorgung, erhöhte Qualifikation des Personals und erweitertes Leistungsspektrum in den Städten stehen auf der positiven Seite, erschwerte Arbeitsbedingungen und weitere Ausdünnung des Angebots in ländlichen Gegenden auf der negativen. Das seit Sowjetzeiten bestehende Problem der ausufernden Bürokratie konnte ebenfalls nicht beseitigt werden. 
  Die medizinische Behandlung in staatlichen Kliniken ist grundsätzlich kostenlos, aber niedrige Löhne haben die Praxis der Direktzahlungen an Ärzte nicht verschwinden lassen. Und auch die Zweiklassenmedizin bleibt in Form der Privatkrankenhäuser weiter bestehen.1 Der Anteil der Ausgaben für die Gesundheit in Russland stieg in den letzten Jahrzehnten moderat an und liegt derzeit bei gut 5,3 % des Bruttoinlandsprodukts, was weit weniger ist als in den meisten westeuropäischen Ländern.2
  Es ist wohl eher eine Folge der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation grosser Teile der russischen Bevölkerung und von sich ändernden Lebensgewohnheiten als von Reformen im Gesundheitswesen, dass sich wesentliche demographische Indikatoren der russischen Gesellschaft in den letzten Jahren an jene in Europa annäherten. So fiel die Kindersterblichkeit von 11,9 ‰ im Jahre 2005 auf 5,3 ‰ im Jahr 2017 – Tendenz weiter fallend. Zum Vergleich: Im Jahr 2017 betrug die Kindersterblichkeit in der Schweiz 3,3 ‰, in der Slowakei 5,8 ‰.3 Nach einem Tiefpunkt in den neunziger Jahren erhöhte sich die Lebenserwartung russischer Frauen auf 77 Jahre, jene von Männern auf 72. Dieser signifikante Unterschied zwischen der Lebenserwartung von Mann und Frau ist typisch für Russland und unterscheidet es von westlichen Ländern.4 Hier sind noch die Auswirkungen des teilweise ungesunden Lebenswandels russischer Männer spürbar, zu dem auch der Alkoholmissbrauch gehört. In den letzten Jahren wandelten sich allerdings Lebenswandel und Trinkgewohnheiten besonders einer urbanen Mittelschicht in den Ballungszentren und näherten sich an jene der Westeuropäer an.

Lockdown und die Massnahmen danach

Nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie in China schloss Russland die Grenze zu seinem ostasiatischen Nachbarn rasch und wurde so eher später als Westeuropa von der Pandemie getroffen, hatte somit auch etwas mehr Vorbereitungszeit. Nach einem kurzen, harten Lockdown lockerte die russische Regierung die Massnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus rasch wieder und führte auch angesichts der zweiten Welle keinen neuen Lockdown ein. Seit dem Frühsommer vergangenen Jahres sind Geschäfte, Kultureinrichtungen, Gastronomiebetriebe und öffentliche Transportmittel geöffnet und mit geringen Einschränkungen benutzbar. 
  Dass innenpolitische Erwägungen hier eine gewisse Rolle spielten, ist zwar nicht explizit erwiesen, aber plausibel. Westliche Kommentatoren hingegen, die behaupten, der russische Staat könnte sich einen «harten Lockdown» wirtschaftlich gar nicht leisten, seien daran erinnert, dass die russischen Staatsfinanzen derzeit viel solider sind als jene vieler europäischer Länder, trotz grosser Abhängigkeit von den Einnahmen aus Öl und Gas. Die russische Staatsverschuldung ist erheblich tiefer als diejenige vieler europäischer Länder, und die russischen Goldreserven sind umfangreicher.5 
  Insgesamt sind die Zahlen im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie in Russland durchaus vergleichbar mit anderen Ländern Europas und Nordamerikas: Die Anzahl der mit dem Corona-Virus infizierten Menschen in Relation zur Bevölkerungszahl und die Anzahl Todesopfer bewegen sich in ähnlichen Bereichen wie in europäischen Ländern, die Anzahl durchgeführter Tests ist sogar vergleichsweise hoch.6 Natürlich bezweifeln westliche Beobachter immer wieder gerne die Richtigkeit der russischen Zahlen. Ihnen sei aber gesagt, dass auch die europäischen Zahlen nicht immer über alle Zweifel erhaben sind.

Behandlung infizierter Personen und der Impfstoff «Sputnik V»

Menschen in den Städten Russlands, die bei sich Covid-Symptome festzustellen glauben, sind gehalten, nicht die ordentlichen Krankenhäuser aufzusuchen, sondern sich bei spezialisierten Zentren zu melden, wo sie getestet und bei Bestätigung des Verdachts mit Medikamenten versorgt werden. Je nach Schwere der Erkrankung werden sie danach nach Hause in Quarantäne geschickt oder hospitalisiert. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass medizinisches Fachpersonal die Menschen zu Hause aufsucht und testet. 
  Als Präsident Wladimir Putin im vergangenen August verkündete, Russland habe als erstes Land der Welt einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt, löste er bei vielen Beobachtern im Westen ein ungläubiges Kopfschütteln, bei anderen ein herablassendes Lächeln aus. In der Tat erfolgte die Ankündigung Putins noch vor dem Beginn der Massentests mit Zehntausenden von Impfwilligen, aber inzwischen scheinen sich die ersten vielversprechenden Testresultate zu bestätigen: Der russische Impfstoff des Gamaleja-Instituts für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau scheint in den Bereichen Wirksamkeit und Nebenwirkungen mit westlichen Impfstoffen vergleichbar zu sein.7 Das wird den unvoreingenommenen Beobachter nicht erstaunen angesichts der Tatsache, dass die Entwicklung des Impfstoffs unter der Leitung von Denis Logunov, eines erfahrenen Wissenschaftlers, erfolgte, der zuvor schon an der Entwicklung von Impfstoffen gegen das Middle East Respiratory Syndrome (MERS) und das brandgefährliche Ebola-Virus beteiligt gewesen war.8 Die Wirkungsweise des russischen Impfstoffs gleicht im übrigen derjenigen einiger westlicher Präparate. In diesem Sinne ist auch nicht weiter erstaunlich, dass die russischen Forscher in sehr ähnlichen Zeiträumen zu einem Resultat kamen wie ihre westlichen Kollegen.9 Die russische Regierung ist sich ihrer Sache offenbar so sicher, dass sie der Lieferung des Impfstoffs ins westliche Ausland zustimmte. Die Resultate in Ungarn, Brasilien, Argentinien, Indien, Mexiko, Kasachstan und anderen Ländern werden zeigen, was der russische Impfstoff und damit die russische medizinische Forschung wert sind. 
  Dass die russische Regierung den Erfolg propagandistisch auskostete, mag manchen Beobachter, der von der Überlegenheit westlicher Medizin überzeugt ist, geärgert haben. Ganz besonders eifrige davon werden zweifellos schwergewichtig über die Nachteile des Impfstoffs berichten, der mit seinem Namen «Sputnik V» zu allem Elend auch noch an den grossen Erfolg sowjetischer Weltraumforschung in den fünfziger Jahren erinnert. Bemerkenswert ist, dass die Forscher bei der Entwicklung des Impfstoffs offenbar von Beginn weg grossen Wert auf einfache Lagerung und Transport legten, damit er in dem riesigen Land auch in entlegene Gebiete einfach geliefert werden kann und damit die Schere zwischen der medizinischen Versorgung in den urbanen Ballungszentren und abgelegenen ländlichen Gebieten sich nicht noch weiter öffnet.

Fazit

Wenn mancher neue «kalte Krieger» im Westen sich vom Ausbruch der Covid-19-Pandemie weltweit eine Schwächung Russlands und seiner Regierung erhofft haben mag, so wird er mittlerweile enttäuscht worden sein. Nachdem inzwischen wohl auch Gerüchte über eine Entwicklung des Corona-Virus in B-Waffenlaboren und eine absichtliche Verbreitung im Rahmen biologischer Kriegführung weitgehend vom Tisch sind, kann man die Frage insgesamt nüchtern betrachten. Allenfalls ist die Zeit reif für eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland, denn die aktuell grassierende Covid-19-Pandemie wird wohl nicht die letzte ihrer Art bleiben. Peinlich ist aber, dass man sich angesichts der zweiten Erkrankungswelle die Frage stellen muss, weshalb die sündhaft teuren Gesundheitssysteme westeuropäischer Staaten nicht wesentlich bessere Resultate erbrachten als das russische.  •



1 https://m.bpb.de/internationales/europa/russ-land/analysen/301756/analyse-gesundheitsreformen-und-ihre-ergebnisse; https://www.dekoder.org/de/gnose/russland-gesundheitssystem-onkologie; https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/russland/covid-19-gesundheitswesen-in-russland-251238; https://de.m.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Gesundheitsausgaben
2 siehe die Gesundheitsausgaben pro Kopf bei https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37176/umfrage/gesundheitsausgaben-pro-kopf/ und in Prozent des BIP: https://data.worldbank.org/indicator/SH.XPD.CHEX.GD.ZS?most_recent_value_desc=true
3 vgl. die entsprechenden Zahlen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37212/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-der-niedrigsten-kindersterblichkeit/; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/937771/umfrage/rate-der-saeuglingssterblichkeit-in-der-schweiz-nach-geschlecht/; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/810933/umfrage/kindersterblichkeit-in-den-eu-laendern/; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/753074/umfrage/kindersterblichkeit-in-russland/
4 siehe https://ostexperte.de/lebenserwartung-russland/
5 Staatsverschuldung: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171417/umfrage/staatsverschuldung-von-russland-in-relation-zum-bruttoinlandsprodukt-bip/#:~:text=Im%20Jahr%202019%20betr%C3%A4gt%20die,9%20Prozent%20des%20Bruttoinlandsprodukts%20prognostiziert. Und der internationale Vergleich: https://www.laenderdaten.de/wirtschaft/staatsverschuldung.aspx. Goldreserven: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156673/umfrage/laender-mit-den-groessten-goldreserven/
6 vgl. die Zahlen weltweit: https://www.worldometers.info/coronavirus/
7https://www.vedomosti.ru/society/news/2020/08/01/835757-klinicheskie-ispitaniya-vaktsini-zaversheni; https://covid19.rosminzdrav.ru/minzdrav-rossii-zaregistriroval-pervuyu-v-mire-vakczinu-ot-covid-19/; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/115504/Russland-laesst-Impfstoff-gegen-SARS-CoV-2-zu; https://www.tagesschau.de/ausland/russland-impfstoff-101.html
8 zu D. Logunov: https://meduza.io/en/feature/2020/07/23/russia-s-way-out
9 siehe https://www.google.at/amp/s/amp2.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-von-biontech-bis-sputnik-v-so-unterschiedlich-wirken-die-anti-corona-impfstoffe/26683166.html; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/118731/Impfstoffe-Warum-Sputnik-V-eine-hoehere-Effektivitaet-gegen-SARS-CoV-2-erzielen-koennte-als-AZD1222; https://www.google.at/amp/s/amp.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-sputnik-russland-massenimpfung-100.html

 

Sputnik-Impfstoff in Lateinamerika

gl. Argentinien, das von der zweiten Welle von Covid-19 stark getroffen ist, hat Ende Dezember die ersten 300 000 Dosen des russischen Impfstoffs «Sputnik V» erhalten. Nach Mexiko, Costa Rica und Chile konnte es als viertes Land in Lateinamerika mit der Impfung beginnen, zunächst des medizinischen Personals. Präsident Alberto Fernández erhielt im Januar die Impfung, nachdem am Tag zuvor die Zulassung vom Gesundheitsministerium bewilligt worden war. Er dankte in einer Twitter-Meldung dem russischen Forschungsinstitut Gamaleja für seine Entwicklungsarbeit. Bis Ende Januar sollen weitere 5 Millionen Dosen eintreffen, im Februar dann nochmals 14,7 Millionen.
  Auch Mexiko hat neben anderen Impfstoffen 7,4 Millionen Dosen «Sputnik V» bestellt. In Mexiko sind 2580 Angehörige des medizinischen Personals an Covid-19 gestorben, darunter 47 % Ärzte. 

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