Eiszeit mit Russland?

Gabriele Krone-Schmalz plädiert für eine neue Entspannungspolitik

von Christian Fischer, Köln

Am 27. Oktober 2021 fand nach mehrfachen pandemiebedingten Verschiebungen in Köln endlich die Veranstaltung unter dem Titel «Eiszeit mit Russland?» statt, bei der Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz über die Herausforderungen der deutsch-russischen Beziehungen referierte und mit dem Publikum diskutierte, sowohl persönlich im Saal als auch durch digitale Zuschaltungen. Veranstalter waren der Städtepartnerschaftsverein Köln-Wolgograd, die Volkshochschule, das Kölner Friedensforum, das Friedensbildungswerk Köln, die Lutherkirche und die Gewerkschaft ver.di.

Gabriele Krone-Schmalz ist als studierte Slawistin seit vielen Jahrzehnten eine exzellente Osteuropa-Kennerin. Sie war ARD-Korrespondentin in Moskau, anfangs als Mitarbeiterin des kürzlich verstorbenen Gerd Ruge, und sie ist Autorin mehrerer Bücher über Russland. Der immer wieder betonte Grundgedanke ihres äusserst klaren und kenntnisreichen Vortrags war, dass wir aufhören sollten, Russland zu dämonisieren, und anfangen, es zu verstehen. Russland und Westeuropa könnten ein Dream-Team sein, wenn nicht westlich des Atlantiks seit über 100 Jahren die Strategie verfolgt werden würde, gerade das nicht Realität werden zu lassen. Dabei übersieht Frau Krone-Schmalz keineswegs, dass es in Russland ausreichend Anlässe zu kritischer Betrachtung gibt. Aber es gibt auch das hohe Gut der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und vor allem die Aufgabe, sich in die Sichtweise des anderen, in seine Geschichte und Kultur hineinzuversetzen.
  Genau das war das Ziel ihres Vortrages: Kenntnis des anderen, ihn verstehen wollen. Eingangs machte sie auf einen Widerspruch aufmerksam: Politiker und Leitmedien in der Europäischen Union halten es für selbstverständlich, die russische Regierung in Sachen Demokratie zu belehren. Dabei leisten sie sich selbst eine EU, die das demokratische Prinzip der Subsidiarität massiv verletzt und deren Institutionen keineswegs demokratisch organisiert und legitimiert sind; als ein Beispiel nannte sie das Europaparlament mit krass unterschiedlichem Vertretungsgewicht der einzelnen Staaten.

Aussenpolitisches

Die Entspannungspolitik, wie sie der Westen zu Zeiten der Sowjetunion praktiziert hat, ist heute leider vorbei. Vor allem deshalb, weil die EU ihre Aussenpolitik seit 20 Jahren den neuen Mitgliedern Polen und den baltischen Staaten überlassen habe, die aus historisch verständlichen Gründen sehr Russland-kritisch seien. Aber ist damit das heutige Interesse Westeuropas angemessen vertreten? Sogar Ex-Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und George Kennan (US-Historiker und Diplomat) haben später die Nato-Osterweiterung als grössten Fehler seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Warum wurden die Kooperationsangebote der russischen Seite nun schon jahrzehntelang ignoriert? Gäbe es eine deutsche Einheit ohne Gorbatschow? Hat nicht Putin vor 20 Jahren sehr ernstzunehmende Angebote zum Bau des europäischen Hauses von Lissabon bis Wladiwostok erneuert? Hat er nicht im Syrien-Krieg und in Kaukasus-Kriegen schlimmere Eskalationen verhindert und die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen massgeblich mitbewirkt? Oder das Atomabkommen mit Iran entscheidend mitgeprägt? Es fehlen, so Frau Krone-Schmalz, «informierte Debatten» über die jüngere Geschichte, statt dessen findet eine desinformierende Dämonisierung statt.
  Russland hat kein Interesse daran, sich die baltischen oder andere Staaten einzuverleiben. Die «Annexion» der Krim, die gerne als Beweis für russische Aggressivität angeführt wird, war erstens keine Annexion, sondern ein klarer Mehrheitsentscheid der dortigen Bevölkerung, und zweitens eine Reaktion auf die aggressive Nato-Osterweiterung. Frau Krone-Schmalz erinnerte an den Aufbau von Raketenstützpunkten in Rumänien und an die massive finanzielle Unterstützung des Westens für einen Putsch in Kiew gegen eine demokratisch gewählte Regierung. Die Ukraine war seit den 1990er Jahren erklärtes strategisches Ziel der USA. Nach 2014 kamen dann ausschliesslich Nato-orientierte Politiker in Kiew an die Macht. Russland musste sich gegen den Verlust seines vertraglich verbrieften Schwarzmeerflotten-Stützpunktes wehren. Das war eine strategische Defensive im staatspolitischen Interesse, für die jeder westliche Staat Verständnis hätte, wenn er ehrlich wäre.
  Im Westen wird kaum oder gar nicht darüber berichtet, dass in der Ukraine heute die russische Sprache aus dem öffentlichen Raum verbannt worden ist und brutale nationalistische Umerziehungen stattfinden. Daran hat die mehrheitlich russische Bevölkerung der Krim verständlicherweise kein Interesse. Zum Verständnis der anderen Seite muss man sich auch Folgendes vor Augen führen: Nach dem Ende der Sowjetunion zerfiel nicht nur deren Territorium in viele Teile, und Russland ist nicht einfach Nachfolger der Sowjetunion; sondern etwa 25 Millionen Russen sind jetzt Minderheiten in anderen Nachfolgestaaten und werden als solche oft schlecht behandelt, gerade auch in der Ukraine. Grosse Teile der sowjetischen Infrastruktur, Industrie und Landwirtschaft, die Mehrzahl der Hafenstädte, befinden sich nicht in Russland. Natürlich entstehen wirtschaftliche Probleme, wenn ein vormals einheitlicher Wirtschaftsraum zersplittert wird und in Teilen davon sogar feindselige Führer dank fremder Hilfe an die Macht kommen. Sich dagegen zu schützen, ist eine selbstverständliche Aufgabe russischer Politik.

Innenpolitisches

Interessant waren die Ausführungen von Frau Krone-Schmalz zum inneren Verständnis des riesigen Landes Russland. Dort lebe in manchen Teilen noch das Mittelalter, in anderen die Moderne, oft dicht nebeneinander. Russ-land sei keine Demokratie, aber auch keine Despotie. Es gibt oppositionelle Medien, auch wenn sie nur eine geringe Reichweite haben. Aber der Sender Echo Moskwy, über den Nawalny längere Zeit an die Öffentlichkeit treten konnte, gehört dem Staatskonzern Gazprom! Zu Nawalny sagte die Referentin auf Nachfrage aus dem Publikum, dass er grosse Verdienste habe bei der Aufdeckung von Korruption im Land und dass der juristische Umgang mit ihm klar den Menschenrechten widerspreche. Sie erinnerte aber auch vorsichtig daran, dass Nawalny selbst extrem nationalistische und rassistische Ansichten verbreite und mit gefälschten «Nachrichten» operiert habe.
  Kritik sei in Russland erlaubt, solange man nicht die Systemfrage stelle und patriotische Absichten habe. Damit ist nicht Nationalismus gemeint oder unterwürfiges Bestätigen des Regierungshandelns, sondern aktives Mitdenken und Mitarbeiten an Massnahmen für das Volkswohl, natürlich auch das Artikulieren von konstruktiver Kritik – im Rahmen des gegebenen politischen Systems. Meinungsfreiheit im Sinne der westlichen Propaganda ist für einen grossen Teil der russischen Bevölkerung gemäss glaubwürdigen Umfragen und persönlichen Eindrücken der Referentin allerdings nur ein nachrangiger Wert. Wichtiger ist es für die meisten Bürger, dass sie in Frieden und mit ausreichender Versorgung und mit Möglichkeiten zur Bildung ihr Leben gestalten können. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, statt unsere Prioritäten zum Massstab für andere zu machen.

Ausblick

Frau Krone-Schmalz plädiert für eine andere Aussenpolitik der EU und von Deutschland, die nicht von den historischen Erfahrungen Polens und der baltischen Staaten angetrieben wird. Diese Erfahrungen entsprechen nicht der heutigen Realität. Der Westen muss seine Absicht streichen, die Ukraine und Georgien in die Nato aufnehmen zu wollen. Bereits die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die Nato um die Jahrtausendwende war ein Fehler, wenn man Friedenspolitik zum Massstab nimmt. Westliche Friedenspolitik hätte mit Russland kooperieren können und müssen, statt militärisch nach Osten vorzurücken.
  Dialoge auf höchster Ebene, persönliche Treffen, zum Beispiel in einem Aussenministerrat, zwischen EU und Russland müssten wiederbelebt werden; warum nicht eine grosse Sicherheitskonferenz, wie es sie sogar während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion gegeben hat? Kooperation mit Russland wäre für die EU ein Gewinn, was die EU auch als ihr eigenes Interesse verstehen sollte. Statt propagandistischer Dämonisierung wären Information und Verständnis angesagt, was berechtigte Kritik im Rahmen des Dialoges keineswegs ausschliesst. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist auch heute sehr aufgeschlossen für Völkerverständigung. In der Zivilgesellschaft ist die Pflege persönlicher Beziehungen wertvoll, zum Beispiel auf der Ebene von Schüleraustausch oder durch Städtepartnerschaften. Eine Möglichkeit könnte auch das Thema Klimawandel sein, das ja vor allem die Jugend beschäftigt.
  Auf einen Hinweis aus dem Publikum, dass unsere Medienlandschaft andere Stimmen kaum zu Wort kommen lasse, antwortet die Referentin, dass die durchaus vorhandenen, aber zu leisen Stimmen eben lauter werden müssen. Wer sich richtig informiert – und das kann man, wenn man will –, muss auch den Mut haben, seinen Mund aufzumachen. Allein diese Veranstaltung und die Möglichkeit, sie im Netz nachzuhören,1 zeigt ja, dass Informationsmöglichkeiten bestehen.
  Frau Krone-Schmalz hat auch jedermann zugängliche Bücher geschrieben,2 die zum Teil bis in die Spiegel-Beststellerliste kamen und die sie bei der Veranstaltung gern signiert hat. Die Veranstalter konnten in Köln auch schon andere Vorträge zum Thema Beziehungen zu Russland anbieten, zum Beispiel mit Matthias Platzeck oder mit Fritz Pleitgen. Ja, die Leitmedien mögen einflussreicher sein, aber um so mehr sind alle, die sich besser informieren, aufgefordert, die Debatte weiterzutragen, «den Mund aufzumachen». Frau Krone-Schmalz hat mit ihren klaren Worten ein vorbildliches Beispiel dafür gegeben.  •



1 https://youtu.be/GaYkW6sVL4Q
2 zum Beispiel: Krone-Schmalz, Gabriele. Eiszeit, München 2017

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