Gelebte Verbindung der Generationen

Kooperation zwischen einem Seniorenheim und einer Hauptschule

von Heike Hupe, Köln

Sehr gerne erinnere ich mich im Rückblick an ein Projekt mit meinen Schülern der Hauptschule in einem Seniorenheim. Fast vier Jahre lang habe ich einmal im Monat mit einigen meiner Schüler in einer festen Arbeitsgruppe nachmittags nach der Schule ein Seniorenheim besucht. Wir haben den Nachmittag mit Erzählen, Basteln, Singen, Feiern und mit Gesprächen, unter anderem über die Erlebnisse der alten Menschen im Krieg, gestaltet.
  Ich denke, dass ich mein Ziel erreicht habe, die Schüler für ein soziales Engagement zu begeistern. Weit über meine Vorstellung hinaus aber hat das Projekt uns allen beglückende Erfahrungen ermöglicht, unseren Horizont erweitert, Kräfte und Ideen in uns entfacht und unsere Beziehungen zueinander vertieft. Mir hat es die ureigentliche Aufgabe meines schönen Berufs noch einmal bewusster werden lassen. Zum Beispiel die Aufgabe des Lehrers, die Kinder und Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen einzuführen, ihnen die Bedeutung der älteren Generation und den natürlichen Respekt vor ihr näherzubringen.
  Beide Seiten, die alten und die jungen Menschen, waren derart überrascht, bewegt und froh bei jedem Treffen, wie ich es nicht vermutet hatte. Auch meine Erschöpfung vom Vormittag verflog, und ich ging danach immer beschwingt und gestärkt nach Hause.
  Viele Senioren leben in unserer Gesellschaft in Altenheimen und haben keinen nahestehenden Menschen mehr, der sie besucht, sich für ihre Lebenserfahrungen interessiert, ihnen zuhört und sie in ihrem oft schweren letzten Lebensabschnitt begleitet. Auf Grund des Pflegenotstands können die Pfleger den Bedürfnissen der alten Menschen kaum gerecht werden. So vereinsamen viele Senioren, wodurch Depressionen und Schmerzen zunehmen. Sie leben isoliert von den nachfolgenden Generationen, erleben nicht mehr die Lebendigkeit der jungen Menschen und wissen wenig von ihren Problemen. So haben sie auch keine Gelegenheit, ihre Erfahrung, ihren Rat und die Gelassenheit des Alters weiterzugeben.
  Den Jugendlichen, so zum Beispiel meinen Schülern der Hauptschule, mangelt es oft ebenso an Selbstwertgefühl, guten Beziehungen und Unterstützung. Viele kommen aus Migrantenfamilien oder aus Familien in schwierigen Verhältnissen und bringen damit einhergehende Probleme mit. Das schulische Lernen trauen sie sich wenig zu. Hinzu kommen der Einfluss der Medien und unter Umständen Drogenmissbrauch, die ihnen sinnvolle Tätigkeiten und menschlich positive Verbindungen erschweren.
  Bei den wöchentlichen Treffen konnte ich beobachten, wie sich die alten Menschen von den jungen angesprochen fühlten und sich freuten. Auch die Begeisterung der Schüler, ihr zunehmendes Selbstwertgefühl durch die Freude der Senioren und das helfende Tun im Umgang mit den oft schwachen Menschen waren offensichtlich.
  In den Erfahrungsberichten der Jugendlichen zu ihrem Projekt wird deutlich, wie sie daran wachsen konnten und wie wohl sie sich gefühlt haben.

Gefühlsmässige Bedeutung des Projekts für die Schüler

Wenige Wochen vor dem Ende ihrer Schulzeit berichteten die Jugendlichen in einem Interview für den Bürgerfunk des lokalen Radiosenders über ihr jahrelanges Engagement im Seniorenheim.
  Sie erzählten von unseren Aktivitäten, ihren Beobachtungen und Empfindungen und reflektierten die Bedeutung des Projekts für sie persönlich. Dabei unterstrichen sie besonders die schöne und gemütliche Atmosphäre in der Wohngruppe und die Wertschätzung der Bewohner-Assistentin, die die Schüler sehr ins Herz geschlossen hatte. Ihre Beweggründe, so lange dabeizubleiben, bewegten mich sehr und erstaunten mich, als sie ihre Empfindungen so deutlich und klar zum Ausdruck brachten. Ich nenne einige Beispiele:

  • «Wir hatten viele schöne Erlebnisse. Mir hat es Freude bereitet, dass ich mit den Senioren lachen konnte und lustige Momente hatte.»
  • «Bei den Begegnungen habe ich Freude und Aufregung gespürt. Denn, wenn ich mir die Senioren näher anschaute, merkte ich, wie aufgeregt sie waren, wenn sie uns sahen. Bei vielen kam ein kleines Lächeln zum Vorschein.»
  • «Anfangs waren wir unsicher und wussten nicht genau, wie wir uns verhalten sollten. Aber wir wurden älter und bekamen immer mehr Erfahrung und Sicherheit.»
  • «Ich habe das Gefühl von Vertrauen empfunden. Die Senioren und Mitarbeiter im Seniorenheim vertrauten uns bei den Dingen, die wir mit den älteren Menschen gemacht haben.»
  • «Die Mitarbeiter dort, besonders unsere Ansprechpartnerin, haben uns respektiert. Sie haben uns so angenommen, wie wir sind, egal, welche Hautfarbe oder welche Nationalität man hat. Es hat sich gut angefühlt.»
  • «Wir hatten Spass und haben uns gefreut, die Senioren glücklich zu sehen und zu machen.»
  • «Dort war ich von etwas Positivem und Ruhigem umgeben, was mich selber ruhiger und gelassener gemacht hat.»
  • «Unsere Erlebnisse werden wir mit ins Leben nehmen und weiterleiten an Freunde, Verwandte, unsere Kinder.»

Unsere Aktivitäten

Im folgenden möchte ich einige unserer Aktivitäten etwas näher erläutern. Jedes Treffen begann mit einem gemeinsamen Kaffeetrinken. Die Schüler sassen zwischen den Senioren und erzählten von schulischen und privaten Erlebnissen. Manche Senioren konnten dann den Gesprächsfaden aufnehmen, andere hörten zu und verfolgten die Unterhaltung. Die Bewohner-Assistentin und ich waren immer dabei und halfen, die Unterhaltung zu führen.
  Ein Schwerpunkt war das jahreszeitliche Basteln. Ich besorgte das Material, und die Schüler bastelten unter meiner Anleitung mit jeweils einem Senior. Je nach Fähigkeit konnten die Senioren mitarbeiten oder aber auch nur Material nach Farbe oder Anordnung auswählen und ansonsten zuschauen. Aber auch dieses Zuschauen und die kleinen Gespräche nebenbei erfüllten sie mit Freude. Die fertigen Produkte fanden immer Anklang und schmückten dann den Gemeinschaftsraum.
  Sehr beliebt waren auch die Spiele-Nachmittage, an denen wir «Mensch-ärgere-dich-nicht», Bingo, Seniorenkegeln oder Ratespiele spielten. Die Stimmung sowohl bei den Bewohnern als auch bei den Jugendlichen war fröhlich und sehr lebendig.
  Das Programm für Feste und Feiern in der Wohngruppe gestalteten wir federführend. Die Schülerinnen trugen Gedichte vor, lasen heitere kurze Geschichten vor, ein Schüler spielte Keyboard und machte so das schöne Erlebnis, vor der Gemeinschaft sein Können präsentieren zu können. Oder mein Ex-Kollege begleitete uns mit seiner Gitarre, so dass wir gemeinsam Lieder singen konnten.
  Unsere Gruppe wurde zu besonderen Ereignissen eingeladen. So zum Beispiel zur Karnevalssitzung oder zum Sommerfest am Samstagnachmittag. Jedes Mal kamen Schüler aus unserer Gruppe, auch an einem Samstag, und wir feierten gemeinsam mit den Senioren und trugen zu einer heiteren Stimmung bei.

Ein besonderes Gespräch

Im 9. Schuljahr behandelten wir im Geschichtsunterricht das Thema Nationalsozialismus, und ich nutzte die Gelegenheit, den Jugendlichen diese Zeit mit ihrem menschlichen Leid durch persönliche Gespräche mit Zeitzeugen näherzubringen. Drei Seniorinnen waren bereit, mit uns zu sprechen. Mit grossem Einfühlungsvermögen und mit Bedacht überlegten die Jugendlichen Fragen, und wir diskutierten und besprachen den Ablauf dieses Nachmittags.
  Die Schüler waren anfangs unsicher und tasteten sich vorsichtig an das Thema heran. Die Seniorinnen erzählten von ihrer Kindheit während des Krieges, von vielen Entbehrungen und Ängsten und auch Verlusten. Eine der Seniorinnen war sehr bewegt, aber mit meiner Hilfe konnten wir sie immer wieder in das Gespräch einbeziehen. Für die Jugendlichen war es ein herausfordernder und bewegender Nachmittag, aus dem sie nachdenklich und mit sehr viel Wertschätzung für die alten Damen nach Hause gingen.

Ein Beitrag zu wichtigen Lebensentscheidungen

Während der insgesamt achtjährigen Kooperation mit dem Seniorenheim entschlossen sich immer wieder Schüler, dort ein Freiwilliges Soziales Jahr und oder eine Ausbildung zu absolvieren.
  Ein Junge zum Beispiel lernte das Seniorenheim im 9. Schuljahr kennen und ging regelmässig einmal pro Woche in eine Senioren-Wohngruppe. In seinem letzten 10.  Schulbesuchsjahr setzte er alles daran, dieses auch weiterhin tun zu können. Er sah in diesem Berufsfeld seine Berufung, machte in einem anderen Seniorenheim eine Ausbildung zum Altenpflegehelfer, kehrte dann zurück in unser Kooperationshaus, um noch die Ausbildung zum Altenpfleger zu machen. Da er sich durch die Tätigkeit und die mitmenschlichen Erfahrungen sehr gestärkt fühlte, hielt er am Ende seiner Schulzeit eine Dankesrede, wozu er vermutlich vorher nicht in der Lage gewesen wäre. So konnte unser Projekt bei einigen jungen Menschen dazu beitragen, eine sinnvolle Lebensentscheidung zu treffen und dadurch einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.
  Auch eine Schülerin meiner Fünfergruppe entschloss sich, dort eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu machen.
  Bei meiner jetzigen ehrenamtlichen Tätigkeit begegne ich manchmal den ehemaligen Schülern unserer Schule, die dort mit Erfolg in ihren Ausbildungen oder bereits im Beruf tätig sind. Jedes Mal ist es eine herzliche Begegnung.

Rückblick

Rückblickend kann ich sagen, dass die Kooperationsarbeit mit dem Seniorenheim eine sehr erfüllende und beflügelnde Tätigkeit war. Zum einen, weil ich einigen Schülern konkrete Berufsperspektiven ermöglichen konnte. Zum anderen, weil ich so viel Engagement, Begeisterung, Verantwortung, Ausdauer und Freude bei den Schülern erleben konnte.
  Insbesondere durch die Kontinuität mit der festen Arbeitsgruppe über vier Jahre konnte ich die Schüler so ansprechen, dass meine Freude, Begeisterung und Wertschätzung für unsere gemeinsamen Aktivitäten als Funke übersprang. Die Jugendlichen zeigten so Offenheit für mitmenschliche Erlebnisse und Engagement. Berührungsängste konnten sie überwinden und einen respektvollen, einfühlsamen Kontakt pflegen. Sie konnten ihre Bedeutung spüren, reiften in ihrer Persönlichkeit und erlebten verlässliche Beziehungen. Werthaltungen konnten sich verankern. Die Jugendlichen entwickelten grosse Achtung und Respekt vor der Lebensleistung der älteren Generation, und der «Dialog der Generationen» wurde so gefördert und gelebt.  •

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