Syrien – ein Jahrzehnt Krieg

von Karin Leukefeld, Bonn und Damaskus

Mit Protesten in einigen Städten begann im März 2011 in Syrien ein Aufstand, der im gleichen Monat gewaltsam eskalierte. Vergeblich rief die innersyrische Opposition auf, nicht zu den Waffen zu greifen, sondern den Dialog mit der Regierung zu suchen. Im Juli 2011 trafen sich 150 syrische Oppositionelle in Damaskus und formulierten gegenüber der Regierung drei Forderungen: kein Militär in Wohngebieten, Freilassung der Gefangenen, Dialog. Zeitgleich wurde in der Türkei die «Freie Syrische Armee» gegründet, die, vom Ausland bewaffnet, nach Syrien in den Krieg zog.

Die Ereignisse und das folgende Kriegsgeschehen wurden von «Sozialen Medien» der syrischen Auslandsopposition, den Sendern al-Jazira und al-Arabiya befeuert und von grossen westlichen Agenturen und Medienhäusern in alle Welt verbreitet. Den Medien folgten die Kämpfer gegen die Regierung, dann rückten internationale Truppen ein. Russland und Iran unterstützten die syrische Regierung. Die Türkei und die von den USA geführte internationale Anti-IS-Allianz unterstützten die Regierungsgegner, die sie bewaffneten und ausbildeten.
  Zehn Jahre später rückt das kriegszerstörte Land erneut in den Blickpunkt. Politiker zeigen sich mit internationalen und privaten Hilfsorganisationen, sprechen über das Leid der Menschen, über die Notwendigkeit zu helfen und mahnen Spenden an. Die syrische, zumeist im Ausland lebende Opposition zeigt weiter mit dem Finger auf die Regierung in Damaskus und wird dafür vom westlichen Ausland unterstützt.
  Politische Lösungsansätze und Angebote für Dialog stagnieren. Teile Syriens im Norden werden von der Türkei und Truppen der US-geführten «Anti-IS-Allianz» besetzt gehalten. Dort jeweils operierende lokale Regierungsgegner – Dschihadisten im Nordwesten und Kurden im Nordosten – etablieren mit ausländischer Hilfe und Geld neue -politische und wirtschaftliche Strukturen. Syrien wird der Zugang zu den nationalen Ressourcen Öl, Gas, Weizen, Baumwolle, Wasser verwehrt.
  Etwa 6,5 Millionen Menschen haben Syrien verlassen. Die meisten von ihnen leben seit Jahren als Flüchtlinge in Lagern in den Nachbarländern. Rund eine Million Menschen, darunter grosse Teile der technischen und medizinischen Bildungselite, konnten nach Europa, vor allem nach Deutschland gelangen. Diejenigen, die bis heute in ihrer Heimat oder in Flüchtlingslagern in den Nachbarländern leben, werden täglich daran erinnert, was sie verloren haben.

Hilfsorganisationen: politisch hilflos …

Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), wies auf die schwierige humanitäre Lage in Syrien hin, die durch eine schwere Wirtschaftskrise verschärft werde. Hinzu komme die Corona-Pandemie, die das Land weiter isoliere. Die Bevölkerung zahle den Preis für einen fehlenden politischen Durchbruch. «Wir brauchen eine politische Lösung für den Konflikt», sagte Maurer vor seinem geplanten Syrienbesuch. «Die Syrer können sich kein weiteres Jahr wie dieses leisten, geschweige denn weitere zehn Jahre.»
  Die regierungsnahe deutsche Welthungerhilfe, die im Dezember 1962 vom damaligen Präsidenten Heinrich Lübke gegründet wurde, veröffentlichte unter dem Stichwort «Syrien 10 Jahre Krieg» einen Videoclip über die Lage der Kinder: «Eine ganze Generation wächst in Trümmern auf», so der Titel der Zeitlupenaufnahmen auf der Webseite der Organisation. Nicht zu übersehen ist der Button «Ihre Spende zählt», mit der die Öffentlichkeit gemahnt wird: 43 Euro für ein Hygienepaket, 100 Euro versorgen 1000 Menschen mit dem täglichen Brot, 200 Euro helfen dabei, einen «schützenden Raum» für 500 Frauen und Kinder zu betreiben.

… politisch instrumentalisiert

Ein Mitarbeiter der Welthungerhilfe hatte kürzlich ein Flüchtlingslager in Azaz besucht und berichtete darüber in zahlreichen Medien. Azaz ist ein syrischer Ort und liegt nördlich von Aleppo, etwa 10 km von der syrisch-türkischen Grenze entfernt. Azaz wird von der Türkei und von Kampfverbänden der ehemaligen «Freien Syrischen Armee» kontrolliert, die sich heute «Nationale Syrische Armee» nennt. Ursprüngliche Bewohner des Ortes berichteten der Autorin (im Januar 2020 in Aleppo), dass Familienangehörige in Azaz geblieben seien, um Haus und Felder zu behalten. Sie würden gezwungen, ihre Produkte auf den Märkten in der Türkei zu verkaufen und nicht in Aleppo, wie sie es immer getan hatten.
  Azaz gilt als Basis der auch von Deutschland unterstützten selbst ernannten Syrischen Exilregierung, und die deutsche Welthungerhilfe kooperiert dort u. a. mit IHSAN Relief & Development. Die der syrischen Opposition nahestehende Organisation versteht sich als «Service-Organisation» für fremd finanzierte Hilfe und Entwicklung und ist nach eigenen Angaben in Gebieten im Nordwesten Syriens und in Deraa aktiv, die von bewaffneten Regierungsgegnern kontrolliert werden.
  Um die Lage für die Bevölkerung zu verbessern, verwies der Syrien-Koordinator der Welthungerhilfe auf die Fünfte EU-Geberkonferenz «Unterstützung für die Zukunft von Syrien und der Region», bei der Ende März Geld eingeworben werden soll, um die Arbeit von Hilfsorganisationen in und um Syrien herum weiter zu finanzieren. Wichtig sei darüber hinaus, dass die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe nach Syrien fortgesetzt und möglichst ausgebaut werde. Darüber entscheidet der UN-Sicherheitsrat im Juni.

Auswirkungen der Sanktionen sind kein Thema

Syrien lehnt das ab und will alle Hilfe innerhalb von Syrien in alle Regionen verteilen. Zudem fordert das Land Unterstützung oder wenigstens ein Ende der Behinderungen beim Wiederaufbau. Doch die EU und die USA lehnen das ab, weil sie damit an Einfluss in Syrien verlieren würden. Das Geschäft mit der Hilfe drängt notwendige langfristige politische Lösungen in den Hintergrund. Die Auswirkungen der einseitigen EU- und US-Sanktionen gegen Syrien sind kein Thema, obwohl UN-Offizielle immer wieder die verheerenden Folgen anprangern.
  Für Tausende Mitarbeiter nationaler und internationaler Hilfsorganisationen in und rund um das kriegszerstörte Syrien ist wichtig, dass ihre Projekte finanziert werden und ihre Gehälter dazu. Viele scheinen vergessen zu haben, dass das Ziel ihrer Arbeit nicht die behelfsmässige Versorgung von Menschen in unerträglichen Unterkünften ist, sondern die Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimat. Humanitäre Hilfe kann nur vorübergehend sein, erläuterte die Mitarbeiterin einer grossen UN-Organisation, die namentlich nicht genannt werden wollte. Im Gespräch mit der Autorin in Damaskus (September 2020) sagte sie, Ziel müsse sein, dass die Menschen in ihrer Heimat wieder Arbeit, Wohnung, gesundheitliche Versorgung, Schule und Ausbildung, Sicherheit und Glück finden könnten. Niemand wolle und solle sein Leben lang von Hilfspaketen abhängig sein und in Zelten leben.

Keine Entspannungspolitik für Syrien

Während sich die wirtschaftliche Lage in Syrien 2020 weiter verschlechtert hat, verlängerte die EU ihre einseitigen Wirtschaftssanktionen gegen das Land erneut und signalisierte keinerlei Gesprächsbereitschaft. Nicht mit Russland oder Iran, geschweige denn mit Syrien. Nur zwei Monate nach dem Tod von Aussenminister Walid Mou’allem im November 2020 wurde dessen Nachfolger, Aussenminister Feisal Mekdad, auf die EU-Sanktionsliste gesetzt. 289 Personen und 70 Unternehmen und Organisationen umfasst die EU-Sanktionsliste gegen Syrien. Entspannungspolitik sieht anders aus.
  Die USA, im Bündnis mit der kurdisch dominierten Selbstverwaltung im Nordosten des Landes, sichern nicht nur die Plünderung von Öl-, Weizen-, Baumwoll- und Wasserressourcen Syriens, Washington weitete die Drohung von Sanktionen mit dem «Caesar-Gesetz» weit über Syrien auf alle diejenigen aus, die mit Syrien als Staat, Unternehmen oder Einzelperson Geschäfte machen. Nicht betroffen davon sind Staaten, die wie Deutschland sogenannte «Stabilisierungs-Projekte» in den von der Türkei kontrollierten Gebieten um Azaz oder in Idlib finanzieren oder die wie Japan kürzlich Millionen US-Dollar an einen Oppositionsfonds «zur Stabilisierung» im Nordosten Syriens überwiesen.

Kalter Krieg und geostrategische Interessen

Mit dem Ausbau illegaler Militärbasen auf syrischem Territorium signalisiert Washington, dass es nicht vorhat, Syrien und die Region bald zu verlassen. Unterstrichen wurde das kürzlich durch die Luftangriffe von US-Kampfjets auf irakische Sicherheitskräfte auf der syrischen Seite des Grenzübergangs Al Bukamal, der Syrien und Irak verbindet. Es handelt sich um den einzigen Grenzübergang, über den syrische Händler derzeit ihre Waren in den Irak und von dort auch weiter in die Golf-Staaten transportieren können: Textilien aus Aleppo, Zitrusfrüchte aus der Küstenregion oder Gemüse aus Deraa. Der direktere Grenzübergang zwischen Syrien und Irak Al Tanf/Al Walid wird von einer illegalen US-Militärbasis versperrt.
  Die USA und die EU mit ihren Verbündeten bauen eine Front gegen Iran. Die Nato-Verteidigungsminister und -ministerinnen beschlossen Ende Februar, die Nato-Mission im Irak von 500 auf 4000 Soldaten fast zu verzehnfachen. Massive Aufrüstung der arabischen Golf-Staaten, Jordaniens und Israels spricht eine eigene Sprache. Nach zehn Jahren Krieg in Syrien sind die geopolitischen Ziele klar. Die noch unter der Trump-Administration getroffene Entscheidung, Israel in den Bereich des US-Zentralkommandos einzubeziehen, ist für Israel ein Ritterschlag. Schon lange war darüber nachgedacht worden, unter israelischer Führung eine neue Nato mit den arabischen Golf-Monarchien aufzubauen.

EU markiert die Region als Interessenssphäre

Die EU und Deutschland machen aus ihrem geostrategischen Anspruch in der «südlichen Nachbarschaft» keinen Hehl, und so werden politische und finanzielle Ressourcen nicht in Entschuldung und Stärkung der schwer angeschlagenen Ökonomien im Irak, in Syrien, in Libanon und in Jordanien gesteckt, sondern in den militärischen Ausbau eigener und verbündeter Kräfte in der Region. Für die Bevölkerung bleiben bestenfalls (Hilfs-)Projekte der zivilmilitärischen Zusammenarbeit – ein Zelt, ein Hygienepaket –, um die geostrategischen Ziele abzusichern.
  Ein Konzept für Dialog und Versöhnung, wie es seit 2017 die Astana-Initiative von Russland, Iran und der Türkei versucht, gibt es weder in der EU noch in den USA. Bei der Astana-Initiative sind zwei der verfeindeten Seiten in Syrien – die syrische Regierung und ein Bündnis der islamischen Regierungsgegner – im Gespräch und werden vom UN-Sonderbeauftragten für Syrien Geir O. Pedersen und vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz unterstützt. Die USA und die EU boykottieren den Astana-Prozess, weil sie mit der Region andere Pläne haben. Die Menschen, die dort leben, werden nicht gefragt.  •

Erstveröffentlichug in Zeitung vum Létzebuerger Vollek vom 6.3.2021

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