Was Putin in der Ukraine wirklich will

Russland will die Nato-Erweiterung stoppen, nicht Territorium annektieren

von Dmitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center*

Gegen Ende des Jahres 2021 legte Russland den Vereinigten Staaten eine Liste von Forderungen vor, die es als notwendig erachtet, um die Gefahr eines weitreichenden militärischen Konflikts in der Ukraine abzuwenden. In einem Vertragsentwurf, der einem US-Diplomaten in Moskau übergeben wurde, forderte die russische Regierung einen formellen Stopp der Nato-Osterweiterung, ein dauerhaftes Einfrieren des weiteren Ausbaus der militärischen Infrastruktur des Bündnisses (zum Beispiel Stützpunkte und Waffensysteme) auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, ein Ende der westlichen Militärhilfe für die Ukraine und ein Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa. Die Botschaft war unmissverständlich: Wenn diesen Bedrohungen nicht auf diplomatischem Wege begegnet werden kann, wird der Kreml zu militärischen Mitteln greifen müssen.

Diese Belange waren den westlichen Entscheidungsträgern bekannt, die jahrelang mit dem Argument reagierten, Moskau habe kein Vetorecht gegen die Entscheidungen der Nato und keinen Grund, vom Westen zu verlangen, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Bis vor kurzem hat sich Moskau diesen Bedingungen widerstrebend unterworfen. Jetzt scheint es jedoch entschlossen zu sein, im Falle des Scheiterns seiner Forderungen Gegenmassnahmen zu ergreifen. Diese Entschlossenheit spiegelte sich in der Art und Weise wider, wie Moskau den vorgeschlagenen Vertrag mit den Vereinigten Staaten und eine separate Vereinbarung mit der Nato präsentierte. Der Tonfall in beiden Schreiben war scharf. Dem Westen wurde nur ein Monat Zeit gegeben, um zu antworten, wodurch die Möglichkeit langwieriger und ergebnisloser Gespräche vermieden wurde. Und beide Entwürfe wurden fast unmittelbar nach ihrer Übermittlung veröffentlicht, um zu verhindern, dass Washington den Vorschlag an die Öffentlichkeit bringt und ins Gegenteil verdreht.
  Wenn der russische Präsident Wladimir Putin so auftritt, als hätte er in dieser Patt-situation die Oberhand, dann deshalb, weil er sie hat. Nach Angaben der US-Geheimdienste hat Russland an der ukrainischen Grenze fast 100 000 Soldaten und eine Vielzahl von schweren Waffen stationiert. Die Vereinigten Staaten und andere Nato-Länder haben das Vorgehen Russlands verurteilt, gleichzeitig aber angedeutet, dass sie die Ukraine, die kein Nato-Mitglied ist, nicht verteidigen werden, und sie haben ihre Drohungen mit Vergeltungsmassnahmen auf die Verhängung von Sanktionen beschränkt.
  Aber die Forderungen Moskaus sind wahrscheinlich ein Eröffnungsangebot und kein Ultimatum. So sehr die russische Regierung auch auf einem formellen Vertrag mit den Vereinigten Staaten besteht, so ist sie sich doch zweifellos darüber im Klaren, dass eine Ratifizierung eines Vertrags im US-Senat auf Grund der Polarisierung und der Blockade nahezu unmöglich ist. Ein Regierungsabkommen – im Wesentlichen eine Vereinbarung zwischen zwei Regierungen, die nicht ratifiziert werden muss und daher nicht den Status eines Gesetzes hat – könnte daher eine realistischere Alternative darstellen. Es ist auch wahrscheinlich, dass Russland im Rahmen eines solchen Abkommens wechselseitige Verpflichtungen eingehen würde, die auf einige US-Bedenken eingehen, um ein «Interessengleichgewicht» zu schaffen, wie es heisst.
  Insbesondere könnte der Kreml zufrieden sein, wenn die US-Regierung einem formellen langfristigen Moratorium für die Erweiterung der Nato zustimmt und sich verpflichtet, keine Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Der Kreml könnte auch durch ein separates Abkommen zwischen Russland und der Nato besänftigt werden, das die militärischen Streitkräfte und Aktivitäten dort einschränken würde, wo sich ihre Territorien treffen, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
  Natürlich bleibt die Frage offen, ob die Regierung Biden bereit ist, ernsthaft mit Russland zusammenzuarbeiten. In den Vereinigten Staaten wird der Widerstand gegen jede Vereinbarung gross sein, wegen der innenpolitischen Polarisierung und der Tatsache, dass ein Abkommen mit Putin die Regierung Biden der Kritik aussetzt, sie würde einem Autokraten nachgeben. Auch in Europa wird der Widerstand gross sein, da die führenden Politiker das Gefühl haben werden, dass sie bei einer Verhandlungslösung zwischen Washington und Moskau im Abseits stehen.
  All dies sind ernste Problempunkte. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass Putin seit vier Erweiterungswellen der Nato im Amt ist und Washingtons Ausstieg aus den Verträgen über das Verbot von Abfangraketen, nukleare Mittelstreckenwaffen und unbewaffnete Beobachtungsflugzeuge akzeptieren musste. Für ihn ist die Ukraine das letzte Gefecht. Der russische Oberbefehlshaber wird von seinen für die Sicherheit zuständigen Institutionen und seinem Militär unterstützt und hat trotz der Angst der russischen Öffentlichkeit vor einem Krieg keine innenpolitische Opposition gegen seine Aussenpolitik. Vor allem aber kann er es sich nicht leisten, als Bluffer dazustehen. Biden hat Recht, wenn er Russlands Forderungen nicht von vornherein ablehnt und stattdessen auf ein gemeinsames Engagement setzt.

Putins «rote Linien»

Es besteht eine erhebliche Asymmetrie in der Bedeutung, die der Westen und Russland der Ukraine beimessen. Zwar hat der Westen dem Land 2008 eine Nato-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, jedoch ohne einen formellen Zeitplan für die Aufnahme. Nach 2014 – als Russland die Krim von der Ukraine übernahm und begann, prorussische Kämpfer in der Donbas-Region des Landes zu unterstützen – wurde es für die amerikanische Regierung schwierig zu entscheiden, ob die Ukraine der Nato beitreten sollte. Denn in den Vereinigten Staaten würde die Entsendung von Truppen, die für die Ukraine kämpfen, in der Öffentlichkeit wenig Unterstützung finden. Washington hat Kiew gegenüber ein Versprechen abgegeben, von dem beide Seiten wissen, dass es nicht eingehalten werden kann. Russland hingegen betrachtet die Ukraine als lebenswichtiges nationales Sicherheitsinteresse und hat sich bereit erklärt, militärische Gewalt anzuwenden, wenn dieses Interesse bedroht ist. Diese Bereitwilligkeit zur Entsendung von Truppen und die geographische Nähe zur Ukraine verschaffen Moskau einen Vorteil gegenüber den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten.
  Das bedeutet nicht, dass eine russische Invasion in der Ukraine unmittelbar bevorsteht. Trotz der Vorliebe westlicher Medien, Putin als rücksichtslos darzustellen, ist er in Wirklichkeit vorsichtig und kalkuliert genau, insbesondere wenn es um den Einsatz von Gewalt geht. Putin scheut keine Risiken – die Operationen in Tschetschenien, auf der Krim und in Syrien beweisen das –, aber in seinen Augen muss der Nutzen die Kosten überwiegen. Er wird nicht einfach in die Ukraine einmarschieren, nur weil die dortige Führung westlich orientiert ist.
  Dennoch gibt es einige Szenarien, die den Kreml dazu veranlassen könnten, Truppen in die Ukraine zu entsenden. Im Jahr 2018 erklärte Putin öffentlich, dass ein ukrainischer Versuch, Territorium in der Donbas-Region gewaltsam zurückzuerobern, eine militärische Antwort nach sich ziehen würde. Hierfür gibt es einen historischen Präzedenzfall: 2008 reagierte Russland militärisch auf einen georgischen Angriff auf die abgespaltene Republik Südossetien. Eine weitere rote Linie für Russland ist der Beitritt der Ukraine zur Nato oder die Stationierung westlicher Militärstützpunkte und Langstreckenwaffensysteme auf dem ukrainischen Staatsgebiet. In diesem Punkt wird Putin niemals nachgeben. Im Augenblick gibt es jedoch so gut wie keine Unterstützung seitens der Vereinigten Staaten und anderer Nato-Mitglieder für einen Beitritt der Ukraine zum Bündnis. Anfang Dezember 2021 teilten Beamte des US-Aussenministeriums der Ukraine mit, dass die Nato-Mitgliedschaft des Landes in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich nicht genehmigt wird.
  Sollte die Nato ihre Streitkräfte in den östlichen Mitgliedsstaaten aufstocken, könnte dies zu einer weiteren Militarisierung der neuen Trennungslinie in Europa führen, die entlang der westlichen Grenzen von Russland und Belarus verläuft. Russland könnte dazu provoziert werden, mehr Kurzstreckenraketen in Kaliningrad zu stationieren – dem nicht zusammenhängenden, westlichsten Teil Russlands, der zwischen Polen und Litauen eingeschlossen ist. Ein engeres Militärbündnis mit Belarus könnte noch mehr Druck auf die Ukraine ausüben. Moskau könnte auch die selbsternannten «Volksrepubliken» von Donezk und Lugansk anerkennen und sie in eine neue geopolitische Einheit mit Russland und Belarus integrieren.
  Die geopolitischen Implikationen dieser Entwicklungen könnten über Europa hinaus zu spüren sein. Um drastischere westliche Wirtschafts- und Finanzsanktionen abzuwehren – sei es in Erwartung eines russischen Einmarsches in der Ukraine oder als Folge davon – müsste sich Moskau möglicherweise auf Peking stützen, das sich ebenfalls unter zunehmendem Druck der USA befindet. Die Präsidenten Putin und Xi Jinping diskutieren bereits über finanzielle Mechanismen zum Schutz ihrer Länder vor US-Sanktionen. In diesem Fall könnte sich Putins geplanter Besuch in China anlässlich der Olympischen Winterspiele im Februar 2022 als mehr als ein Höflichkeitsbesuch herausstellen. Die Vereinigten Staaten könnten dann erleben, wie sich das derzeitige chinesisch-russische Bündnis in eine engere Allianz verwandelt. Die wirtschaftliche, technologische, finanzielle und militärische Zusammenarbeit zwischen den beiden Mächten würde ein neues Niveau erreichen.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Putins Drohung, auf Gewalt zurückzugreifen, rührt aus seiner Enttäuschung über einen ins Stocken geratenen diplomatischen Prozess. Die Bemühungen des Kremls, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einer Einigung im Donbas zu bewegen – die noch Ende 2019 vielversprechend schienen – sind gescheitert. Selenskyj, der als Friedenskandidat in einem Erdrutschsieg die Präsidentschaft errungen hat, ist ein ausserordentlich unberechenbarer Staatschef. Seine Entscheidung, im Jahr 2021 bewaffnete Drohnen im Donbas einzusetzen, verschärfte die Spannungen mit Moskau zu einem Zeitpunkt, an dem es sich die Ukraine nicht leisten konnte, ihren Nachbarn zu provozieren.
  Nicht nur die ukrainische Führung wird von Moskau als problematisch angesehen. Frankreich und Deutschland haben die Bemühungen um eine diplomatische Lösung des russisch-ukrainischen Stillstands zunichte gemacht. Die Europäer, die für die Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 bürgten, die der Region Frieden bringen sollten, waren wenig erfolgreich dabei, die Ukrainer zu einer Einigung zu bewegen. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, damals Aussenminister, konnte Kiew nicht einmal dazu bewegen, einen Kompromiss zu akzeptieren, der Wahlen in der Donbas-Region ermöglicht hätte. Im November letzten Jahres gingen die Russen sogar so weit, private diplomatische Korrespondenz zwischen ihrem Aussenminister Sergej Lawrow und seinem französischen und deutschen Amtskollegen zu veröffentlichen, um zu belegen, dass die westlichen Mächte voll und ganz hinter der Haltung der ukrainischen Regierung stehen.
  Und obwohl sich der Westen auf die russische Truppenverstärkung in der Nähe der ukrainischen Grenze konzentrierte, kam es zu einer Ausweitung der militärischen Aktivitäten der Nato-Länder in der Schwarzmeerregion und in der Ukraine. Im Juni fuhr ein britischer Zerstörer durch die Hoheitsgewässer der Krim, die London nicht als zu Russland gehörig anerkennt, und provozierte die Russen, in seine Richtung zu feuern. Im November flog ein strategischer US-Bomber bis auf 13 Meilen [21 km] an die russische Grenze in der Schwarzmeerregion heran und verärgerte Putin. Als die Spannungen zunahmen, strömten westliche Militärberater, Ausbilder, Waffen und Munition in die Ukraine. Die Russen vermuten auch, dass es sich bei einem Ausbildungszentrum, das Grossbritannien in der Ukraine errichtet, in Wirklichkeit um eine ausländische Militärbasis handelt. Putin ist besonders entschieden, dass die Stationierung von US-Raketen in der Ukraine, die Moskau in fünf bis sieben Minuten erreichen können, nicht toleriert werden kann und wird.
  Für Russland waren die zunehmenden militärischen Drohungen unüberhörbar. In seinen Artikeln und Reden mag Putin die Einheit des russischen und des ukrainischen Volkes betonen, doch sein wichtigstes Anliegen ist es, die Nato-Ausweitung in der Ukraine zu verhindern. Man bedenke, was er im März 2014 sagte, nachdem er als Reaktion auf den Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch Truppen auf die Krim geschickt hatte. «Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir nach Sewastopol reisen würden, um Nato-Matrosen zu besuchen», sagte er über den berühmten russischen Marinestützpunkt auf der Krim. «Natürlich sind die meisten von ihnen wunderbare Jungs, aber es wäre besser, wenn sie uns besuchen und unsere Gäste wären, und nicht umgekehrt.»
  Putins Vorgehen deutet darauf hin, dass sein eigentliches Ziel nicht die Eroberung der Ukraine und ihre Eingliederung in Russland ist, sondern die Veränderung der Situation im Osten Europas nach dem Ende des Kalten Krieges. In dieser Konstellation war Russland ein Regent ohne grösseren Einfluss auf die europäische Sicherheit, die von der Nato bestimmt wurde. Wenn es ihm gelingt, die Nato aus der Ukraine, Georgien und Moldawien und US-Mittelstreckenraketen aus Europa herauszuhalten, so denkt er, dass er einen Teil des Schadens beheben kann, der Russlands Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges zugefügt wurde. Nicht zufällig könnte dies eine nützliche Grundlage für eine Kandidatur im Jahr 2024 sein, wenn Putin sich zur Wiederwahl stellt.  •



Quelle: https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2021-12-28/what-putin-really-wants-ukraine vom 28.12.2021;
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(Übersetzung Zeit-Fragen)

Dmitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center, ist seit der Gründung des Zentrums dort tätig. Er ist auch Vorsitzender des Forschungsrats und des Programms für Aussen- und Sicherheitspolitik. Von 1972 bis 1993 diente er in den sowjetischen und russischen Streitkräften, wo er unter anderem als Verbindungsoffizier in der Abteilung für Aussenbeziehungen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte (stationiert in Potsdam) und von 1985 bis 1991 als Mitarbeiter der Delegation bei den amerikanisch-sowjetischen Atomwaffengesprächen in Genf tätig war. Ausserdem unterrichtete er von 1986 bis 1993 an der Abteilung für Kriegsstudien des Militärinstituts. Von 1993 bis 1997 war Trenin als Senior Research Fellow am Institute of Europe in Moskau tätig. Im Jahr 1993 war er Senior Research Fellow am Nato Defense College in Rom.

Die Ausweitung des Nato-Gebietes von 1990 bis 2020. (Graphik Zeit-Fragen)

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