Was wäre, wenn …

Deutschland und der Ukraine-Krieg

von Karl-Jürgen Müller

Angetrieben durch andere Nato-Staaten und die privaten und öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland, überbieten sich die meisten Politiker und Behördenvertreter des Landes seit dem 24. Februar 2022 mit russlandfeindlicher Rhetorik und Treueschwüren zum transatlantischen Bündnis, die es so selbst im ersten Kalten Krieg nicht gegeben hat. Und bislang gibt es noch keinerlei Anzeichen für eine Besserung. Jüngste Beispiele waren die Regierungserklärung des deutschen Bundeskanzlers und die sich daran anschliessenden Wortmeldungen im Deutschen Bundestag am 19. Mai, aber auch die Rede des Präsidenten des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz vom selben Tag.
  Warum ist eine Rede von Thomas Haldenwang überhaupt erwähnenswert? Dass Behördenleiter und Behördenvertreter in Deutschland mittlerweile derart der Politik nach dem Munde reden, hat nichts mehr mit dem zu tun, was sich die Deutschen nach 1945 von ihren Staatsdienern erhofft hatten: eigenständig denkende Persönlichkeiten, erfüllt vom Gemeinwohlgedanken, der Verfassung des Landes sowie Recht und Gesetz verpflichtet, nicht aber den gerade den Ton angebenden Medien und Politikern.
  Der russische Aussenminister Sergej Lawrow hat den aktuellen Zustand unserer Länder in einer Rede vom 14. Mai 2022 zu charakterisieren versucht und nicht nur gesagt, der Westen habe Russland «einen totalen hybriden Krieg erklärt». Sondern auch: «Das Erstaunliche ist, dass in fast allen ‹zivilisierten› Ländern eine wütende Russophobie um sich greift. Sie haben ihre politische Korrektheit, ihren Anstand, ihre Regeln und Rechtsnormen in den Wind geschlagen.»
  Man sollte diese Worte nicht als russische Propaganda abtun.

Unerträglich geworden

Das, was unsere Medien, unsere Politiker, unsere Behördenvertreter derzeit tagtäglich von sich geben, ist unerträglich geworden. Wenn man dabei nicht mitmachen, sich nicht unterziehen oder das eigene Denken und Fühlen nicht betäuben will, hält man es nur aus, wenn man die Ereignisse und das Verhalten der «Verantwortlichen» mit wachem Verstand und gesundem Abstand analysiert, sich emotional nicht zu sehr reinziehen lässt … und die Frage nicht vergisst, was eigentlich «normal» wäre, vernünftig und emotional angemessen in Anbetracht der Tragödie, die nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen hat, die auch nicht nur die Ukraine betrifft, sondern den Gesamtzustand unserer heutigen Welt.
  Ich stelle mir zum Beispiel vor, wie die Regierungserklärung eines deutschen Kanzlers am 19. Mai 2022 hätte lauten können, die ernstgenommen hätte, was der russische Aussenminister fünf Tage zuvor gesagt hatte, und die die Hand zum Frieden ausgestreckt hätte.

Kerngedanken einer erdachten Kanzlerrede

Hier soll selbstverständlich kein vollständiger Redetext formuliert werden; aber ein paar Kerngedanken einer solchen erdachten Rede. Der deutsche Bundeskanzler hätte seine Rede mit der Charta der Vereinten Nationen vom Juni 1945 beginnen können; mit dem Versuch vieler ernsthafter und durch Tod und Zerstörung aufgerüttelter Politiker aus der ganzen Welt, nach dem Ende des europäischen Krieges eine Grundlage für ein friedliches und gleichberechtigtes Miteinander souveräner Nationen und selbstbestimmter Völker zu schaffen. Und wie schwierig es schon damals war, den Worten Taten folgen zu lassen. Denn nur wenige Wochen nach der Verabschiedung der Charta und der Hoffnung auf eine bessere Welt warfen Bomberpiloten eines Gründungsmitglieds der Uno auf Japan die ersten beiden Atombomben ab und töteten damit Zigtausende unschuldige Menschen.
  Der deutsche Bundeskanzler hätte auf die mehr als 10 Millionen weiteren Kriegstoten zwischen 1945 und 1990 verweisen können, auf das Versagen der Weltgemeinschaft und insbesondere der grossen Mächte, ihre Macht- und Geldinteressen hinter ein weltweites Bonum commune zurückzustellen.
  Auf die Hoffnungen der Menschen überall auf der Welt, 1990, nach dem Ende eines Kalten mit vielen heissen Kriegen, nun doch noch eine friedlichere und gerechtere Welt aufbauen zu können.

Bittere Enttäuschung an vielen Orten der Welt

Und auf die bittere Enttäuschung an vielen Orten der Welt, als ein Land der Erde und dessen einflussreiche Kräfte nach der einzigen Weltmacht griffen und dabei erneut viele Staaten und Völker mit Kriegen und anderen Plagen überzogen. Und überhaupt nicht bereit waren, so etwas wie Gleichberechtigung unter den Völkern und Staaten der Welt gelten zu lassen. Im Gegenteil, andere Völker und Staaten galten als Vasallen oder Kolonien moderner Art! Der Kanzler hätte von Afrika, Asien und Lateinamerika sprechen können … aber auch von Europa und der ihm zugedachten Funktion als «Brückenkopf» auf dem eurasischen Kontinent vor dem «Schwarzen Loch» – so sprach manch einer im Westen in den 1990er Jahren über Russland. Vom angelsächsischen Glauben an die eigene Sonderstellung in der Welt. Von den «Five Eyes» und ihrem Anspruch, die ganze Welt unter Beobachtung stellen zu können.

Deutschland – immer noch nicht souverän, aber nicht mehr «Nie wieder Krieg»

Der deutsche Kanzler hätte auch darüber sprechen können, wie sein eigenes Land, Deutschland, bei dem Versuch gescheitert ist, ein wirklich souveränes Land mit einem selbstbestimmten Volk zu werden – obwohl dies 1990 offiziell verkündet worden war. Dass das wiedervereinigte Deutschland nach 1990 leider kaum zum Frieden in der Welt beigetragen hat, so wie es dessen Regierung und Parlament vertraglich zugesichert hatten. Sondern auf dem Balkan – und nicht nur dort – Macht- und Interessenspolitik betrieb und mitverantwortlich für die dortigen Kriege der neunziger Jahre war. Ja, dass sein Land Deutschland 1999 bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein anderes europäisches Land mitschuldig wurde – und mitverantwortlich war für Tod und Zerstörung dort. Und dass die Politiker seines Landes nach 1990 dieses «Nie wieder Krieg» vergessen lassen und statt dessen mit einer «Salamitaktik» Schritt für Schritt die deutsche Beteiligung an Kriegen «normalisieren» wollten.
  Der deutsche Kanzler hätte sagen können, dass er all dies zutiefst bedauert, dass er sich schämt für diese Politik des Unrechts und der Gewalt, dass ihn tiefes Mitgefühl für die Opfer dieser Politik erfüllt.

Russland ernstnehmen

Und dass auch der deutsche Umgang mit Russland nach 1990 nicht fair und nicht offen war, dass Deutschland den vielen Kooperationsangeboten Russlands nicht ehrlich begegnet ist und dass Deutschland mit vielen falschen Schritten mitverantwortlich für die Tragödie ist, die sich nun schon seit vielen Jahren in der Ukraine abspielt. Dass er aber nun endlich ernstnehmen wolle, was ein russischer Präsident schon seit zwei Jahrzehnten immer wieder gesagt hat und nun wieder neu am 9. Mai 2022: «Vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen die Vereinigten Staaten, von ihrer Ausnahmestellung zu sprechen, und demütigten damit nicht nur die Welt, sondern auch ihre Satelliten, die so tun müssen, als würden sie es nicht bemerken, und es mit Ehrerbietung schlucken. Aber wir sind ein anderes Land. Russland hat einen anderen Charakter. Wir werden niemals unsere Liebe zum Vaterland, unseren Glauben und unsere traditionellen Werte, unsere angestammten Bräuche und unseren Respekt vor allen Völkern und Kulturen aufgeben.»
  Ja, der deutsche Kanzler hätte auch sagen können, dass man Russland nicht zum Sündenbock für die wirtschaftlichen Verwerfungen in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt, besonders für die sowieso schon armen Länder, machen dürfe. Dass es wieder einmal Profiteure des Krieges auf Kosten der Allgemeinheit gibt und dass es sich sehr lohnen würde, genauer auf die wirtschafts- und finanzpolitischen Fehlentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte, auf die verheerenden Folgen der eigenen Sanktionspolitik, auf unsere Börsen und die grossen Vermögen in unseren Ländern zu schauen.
  Schliesslich auch, dass er es nicht mehr ertrage, mit wieviel Respektlosigkeit Politiker und weitere «Eliten» seines Landes auf andere Länder und Regierungen herabschauen und wie man sich zum Richter über Gut und Böse aufschwinge, wo doch Deutschland allen Grund zur Selbstkritik habe und nun endlich die schwerwiegenden eigenen, hausgemachten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme angehen müsse.

Eine wirkliche «Zeitenwende»

Deshalb hätte der deutsche Kanzler sagen können, dass es nun allerhöchste Zeit ist, einen anderen, ganz anderen Weg einzuschlagen, eine wirkliche «Zeitenwende», die erkennt, dass eine Welt voller Feindbilder, ein Europa gegen Russland kein Ausblick sein kann, sondern nur selbstzerstörerisch für ganz Europa … Und dass er deshalb den Kurs der deutschen Politik ändern, grundlegend ändern will. Und dass er auch in der EU, in ganz Europa und auch bei den Verbündeten in den USA dafür werben will. Dass er seinem Amtseid, seine «Kraft dem Wohle des deutschen Volkes [zu] widmen, seinen Nutzen [zu] mehren, Schaden von ihm [zu] wenden», nun vollumfänglich nachkommen will. Vor allem aber dem Gebot des Grundgesetzes, «dem Frieden der Welt zu dienen».
  Aus tiefster Überzeugung und mit all seiner Kraft. Denn der jetzige Weg sei eine Sackgasse: für die Politik, für die Wirtschaft, für die Kultur … für die grosse Mehrheit der Menschen. Und dass es sonst sehr wohl sein kann, dass die Menschheit nicht noch einmal das «Glück» hat …
  Das alles und noch viel mehr hätte der deutsche Kanzler am 19. Mai sagen können. Wir müssen damit leben, dass er es nicht getan hat … es wäre ganz unwahrscheinlich gewesen und wird es sehr wahrscheinlich auch in naher Zukunft sein. Indes – auch das stärkt das Denken und das Gefühl: Alternativen zum Falschen zu denken. Was wäre, wenn …  •

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