Der neue Eiserne Vorhang

Die Ukraine-Krise wird zur Feuerprobe für Europa … und Europa versagt

von Patrick Lawrence

Seit die USA den Putsch vom Februar 2014 in der Ukraine angezettelt haben und das Land auf tragische Weise gegen sich selbst gespalten wurde, ist viel über einen neuen Kalten Krieg zu lesen. Einige von uns haben in dieser Publikation und anderswo über diese sich abzeichnende Realität nachgedacht.
  Mit der Ankündigung, dass Finnland und Schweden die Mitgliedschaft in der Nordatlantikpakt-Organisation beantragen wollen, ist der «Zweite Kalte Krieg» nicht mehr nur eine griffige Redewendung für Kolumnisten und diejenigen, die auf Barhockern darüber dozieren.
  Der Beitritt dieser nordischen Nationen zu Washingtons wichtigstem Instrument der Machtprojektion ist gesichert und wird in kürzester Zeit abgeschlossen sein. Dies wird die Mauer festigen, die Washington und seine europäischen Klienten errichten wollen, um die Welt noch perverser und zerstörerischer aufzuteilen, als es in den vier Jahrzehnten des «Ersten Kalten Krieges» der Fall war.

Die Bedeutung dieser Entwicklung kann kaum überschätzt werden – für die Finnen, Schweden und Russen sicherlich, aber auch für alle Europäer und am Ende für jeden Menschen auf diesem Planeten, der lebt oder noch geboren wird.
  Erinnern Sie sich an die berühmten Zeilen Kiplings?
  «Oh, der Osten ist der Osten und der Westen ist der Westen, und niemals werden sich die beiden begegnen, bis Himmel und Erde vor Gottes grossem Richterstuhl stehen …»
  Kipling hat «The Ballad of East and West» im Jahr 1889 veröffentlicht, auf dem Höhepunkt des britischen Empire, und darin die grosse Kluft zwischen den imperialen Mächten und ihren Untertanen beklagt. Sein tiefstes Bedauern galt all der verlorenen Menschlichkeit, die der dauerhaften, aber künstlichen Trennlinie geopfert wurde, die vor langer Zeit in die Erde geritzt worden war, um die Herrschaft des Westens über den Rest der Welt abzusichern.
  Da der Tag des Jüngsten Gerichts nicht unmittelbar bevorzustehen scheint, werden wir noch viele Jahre des Bedauerns erleben, während Washington die Infrastruktur aufbaut, die den «Zweiten Kalten Krieg» bestimmen wird. Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato deutet auf ein Bauwerk hin, das dauerhafter sein wird, als es der Eiserne Vorhang und – auf der anderen Seite der Welt nach 1949 – dessen Bambusvariante waren. Es wird nur wenige Türen und Fenster in dieser undurchlässigen Konstruktion geben, und das ist auch Washingtons Absicht. Es wird schwer sein, auch nur einen unverstellten Blick auf die jeweils andere Seite zu werfen.

Der «Zweite Kalte Krieg»

Und das ist der springende Punkt bei diesem zutiefst fehlgeleiteten Projekt. Die Bevölkerungen der westlichen Postdemokratien werden einen weitaus höheren Preis dafür zahlen, dass sie ihre führenden Politiker die dicke Steinmauer des «Zweiten Kalten Krieges» errichten liessen, als diejenigen, die damit in die Wildnis verbannt werden sollen. Die Menschen im Westen werden diesen Preis mit Blindheit, Ignoranz und Isolation von der Mehrheit der Weltbevölkerung bezahlen müssen.
  Wenn Ihr Vorschlag darin besteht, andere zu isolieren – und die grosse Mehrheit der Menschheit will nichts damit zu tun haben, andere zu isolieren und eine Welt voller Mauern zu bauen –, dann haben Sie es wahrscheinlich falsch verstanden: Wer andere ausgrenzen will, wird sich selbst ausgegrenzt finden.
  Es hat sich gezeigt, dass es ein Katzensprung war von: «Herr Gorbatschow, reissen Sie die Mauer ein!» bis zur Errichtung einer neuen Mauer, so schnell, wie Steine gesetzt werden können. Jetzt wissen wir, was Präsident Joe Biden mit «Build Back Better» («besser wiederaufbauen»)* meint.
  Seit der russischen Intervention in der Ukraine am 24. Februar haben wir mit ansehen müssen, wie viele völlig unschuldige Menschen – Musikdirigenten, Sportler, Professoren, Künstler, Schriftsteller – ihre Arbeit verloren haben oder anderweitig zensiert wurden, weil sie sich weigerten, den russischen Einmarsch öffentlich anzuprangern, oder in einigen Fällen einfach, weil sie Russen sind. Das erinnert mich an eine Stelle im Neuen Testament, Matthäus 15:11, grob umschrieben: Wer einen anderen beschmutzen will, beschmutzt nur sich selbst.

Sanktionen

Inzwischen haben die USA und ihre «Verbündeten und Partner» mehr als 6000 unterschiedliche Sanktionen gegen Russland und einzelne Russen verhängt. Die bisherigen «Ergebnisse» weisen aber deutlich darauf hin, dass sie völlig unwirksam sind, was auch die politisch dafür Verantwortlichen langsam zu merken scheinen.
  Letzte Woche gab Grossbritannien bekannt, dass es Sanktionen gegen die Ex-Frau des russischen Präsidenten Wladimir Putin und eine ehemalige Sportlerin, die seine Freundin sein soll, sowie drei seiner Cousins verhängt hat. Andere westliche Behörden jagen Jachten reicher Russen im Mittelmeer hinterher. Das ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten.
  Was wir bisher gesehen haben, so erbärmlich es auch gewesen sein mag, wird mit der Zeit verschwinden. In den westlichen Konzertsälen werden wieder Rachmaninow und Schostakowitsch gespielt werden, und auch über Tolstois «Krieg und Frieden» wird es wieder Vorlesungen und Seminare an westlichen Universitäten geben.
  Die Entscheidung Finnlands und Schwedens, der Nato beizutreten, ist allerdings von anderer Art. Die beiden Staaten sind gekommen, aber sie werden nicht wieder gehen. Ähnliches gilt für die drastischen Bemühungen, die globalen Energiemärkte neu zu ordnen und Russland aus ihnen zu verdrängen. Die daraus resultierenden Massnahmen lassen sich nicht ohne weiteres rückgängig machen.
  Kurzum, wir sind Zeuge einer historisch bedeutsamen, dauerhaften Umstrukturierung der Weltordnung, die in Echtzeit stattfindet.
  Auf jeder politischen Landkarte (mit Ländergrenzen) wird das Ausmass der gegenwärtigen Veränderungen sichtbar. Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben alle US-Regierungen versucht, die Nato bis an die Grenzen Russlands auszuweiten, konnten im Norden bisher aber nur die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu Frontstaaten machen.
  Die USA haben es 2008 nicht geschafft, Georgien umzudrehen, und es ist ihnen auch nicht gelungen, 2021 eine weitere «farbige Revolution» in Weissrussland in Gang zu setzen. Wie es derzeit aussieht, scheint auch die erhoffte schnelle Aufnahme der Ukraine in die Nato zu misslingen.
  Ein Blick auf die Landkarte klärt auch, warum Russland vor drei Monaten beschlossen hat, in der Ukraine zu intervenieren, und warum der Autor dies auch heute noch für ein bedauerliches, aber notwendiges Unternehmen hält. Aus der Karte geht nämlich hervor, dass mit dem Beitritt Finnlands die Nato auch im hohen Norden bis an die Westgrenze Russlands vorgerückt ist. Und mit dem Beitritt Schwedens wird die Ostsee zum Nato-Meer.
  Das ist das strategische Bild, aber das strategische Bild ist nur der Rahmen für die Welt, in der wir – aller Voraussicht nach – noch Jahrzehnte, ja, Generationen leben werden. Jeder, der den «Ersten Kalten Krieg» erlebt hat, wird mit mir eine tiefe Beunruhigung, eine Traurigkeit teilen, die nicht weit von einer Depression entfernt ist.
  Zu den schlimmsten Folgen des «Ersten Kalten Krieges» gehört die Verengung des Bewusstseins der US-Bürger, so dass die meisten nicht mehr in der Lage waren, irgendeine Art von Komplexität zu bewältigen. Alles war binär, manichäisch, «die Guten und die Bösen», wie es so mancher Kommentator – nicht nur Tom Friedman – immer noch für richtig hält, wenn es um ein bestimmtes Thema geht.
  Die US-Amerikaner haben es nicht geschafft, über den Zustand der Ignoranz hinauszuwachsen, den der «Erste Kalte Krieg» forderte, bevor sie wieder in ihn zurückgestossen werden. Die Ukraine: die Guten. Russland: die Bösen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Europäer dieser simplen Weltsicht anschliessen, und zwar genau in dem Moment, in dem sie die grobschlächtigen Vereinfachungen der US-Regierung mit der nötigen Nuancierung und Differenzierung hätten abmildern können.
  Eben in diesem Augenblick stirbt eine bestimmte Art von Nation, und das ist für mich einer der grössten Verluste, die wir derzeit erleben. Finnland war bis jetzt nicht nur vertraglich neutral. Es war eines der wenigen Länder, die auf Grund ihrer Geographie, ihrer Kultur, ihrer gesellschaftlichen Traditionen und dergleichen zwischen Ost und West vermitteln. Das zeigt sich zum Beispiel in der Architektur, im Respekt, den die finnische Kultur der Natur entgegenbringt, im Wert, den sie der Gemeinschaft beimisst – ein Hauch von Asiatik.
  Helsinki stand für die Wirksamkeit der Diplomatie. Dort konnten sich West und Ost treffen – wie 1975 bei der Vereinbarung der Schlussakte von Helsinki und 15 Jahre später bei dem Konsultationstreffen zwischen George H. W. Bush und Michail Gorbatschow.
  Auch die Ukraine hätte zu einem Brückenstaat zwischen dem Westen und dem Osten werden können – mit ihrem galizischen Westen, der Europa zugeneigt ist, und ihrem russischsprachigen Osten, der sich Russland wegen der gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur sowie wegen bestehender familiärer Bindungen näher fühlt. Deshalb war das im wesentlichen föderale System, das in den beiden Minsker Abkommen vom September 2014 und Februar 2015 skizziert wurde, weise und human und ein Plan, der die Ukraine zu etwas mehr als einem gescheiterten Staat gemacht und ihr das absolute Chaos erspart hätte, das jetzt dort herrscht.
  Schweden konnten wir auch bisher schon nicht als neutral betrachten, obwohl die «New York Times» diese falsche Einordnung täglich wiederholt. Es war allenfalls «Nato-agnostisch». Stockholm sagte der Welt: Wir gehören zum Westen, aber wir beteiligen uns nicht an den imperialen Abenteuern Washingtons. Wir lehnen es ab, uns der Militarisierung der transatlantischen Beziehungen zu unterwerfen. Und das zählte. Das ist jetzt alles vorbei. Die Finnen haben mich enttäuscht. Ich dachte, sie verstünden ihren einzigartigen Platz zwischen Ost und West besser, als sie es offenbar tun. Die Schweden sind seit Jahren von ihren sozialdemokratischen Grundsätzen nach rechts abgedriftet, aber der Nato-Beitritt wird dennoch die Aufgabe ihrer selbstbewussten Position bedeuten.
  Was das übrige Europa anbelangt, so hat die Ukraine-Krise dazu geführt, dass unsere Hoffnungen enttäuscht wurden. Wir können den Kontinent als unabhängigen Machtfaktor vergessen, eine Erwartung, die ich und andere über viele Jahre hinweg gehegt hatten. Die derzeitige europäische Führungsgeneration wagt es offensichtlich nicht, anders als unter dem Schutz des amerikanischen «Sicherheitsschirms» zu handeln.
  Hier muss ich zugeben, dass ich Emmanuel Macron völlig falsch eingeschätzt habe. Vor drei Jahren hat er auf dem Gipfeltreffen der G7 in Biarritz noch verkündet, Europas Schicksal sei eng mit dem Russlands verknüpft. Etwas später hat der französische Präsident die Nato sogar für «hirntot» erklärt und dafür plädiert, die Russische Föderation in eine Art Gross-Europa im Westen der eurasischen Landmasse zu integrieren.
  Für mich ist Macron jetzt der lauteste «Marktschreier» Europas: viel Getue, schrille Bekenntnisse zu prinzipiellen Positionen, bei Macron sein wiederholtes Beharren darauf, dass Europa seine «strategische Autonomie» kultivieren müsse, aber keine Ernsthaftigkeit. Was für ein Winkeladvokat, was für ein opportunistischer Wichtigtuer.
  Und wie dumm war ich.

Die Feuerprobe für Europa

Die Ukraine-Krise erweist sich als die Feuerprobe für Europa, und Europa versagt auf ganzer Linie. Alle, nicht nur die Europäer, hätten gewonnen, wenn die Staats- und Regierungschefs des Kontinents den Mumm gehabt hätten, für sich selbst und die Interessen ihrer Bürger einzustehen und entsprechend zu handeln.
  Die politischen Cliquen in Washington und in den anderen westlichen Hauptstädten scheinen sich aber darauf verständigt zu haben, die Zügel jetzt straffer anzuziehen. Dies ist der breitere Kontext, in dem wir die Annäherung Finnlands und Schwedens an die Nato sehen sollten. Es ist kein Platz mehr für Neutralität, keine Zeit mehr für einen Spagat zwischen Ost und West.
  Meines Erachtens ist dies im Grunde eine verzweifelte Reaktion auf die nicht mehr zu leugnende wichtigste Realität unseres Jahrhunderts: auf das Entstehen einer Parität zwischen dem Westen und dem Osten, der zutreffender als Nicht-Westen bezeichnet werden sollte (weil er nicht nur aus Russland und China besteht). Wir hören täglich, wie dringend es sei, der Ukraine so schnell wie möglich noch mehr Waffen zu liefern. Und aus Sicht der USA und der Nato ist das tatsächlich dringend. Denn es ist der verzweifelte Versuch, die lange bestehende Überlegenheit des Westens zu verteidigen, obwohl sie überhaupt nicht verteidigt werden kann, weil es diese Überlegenheit nicht mehr gibt.
  Ein grosser Unterschied zwischen dem «Ersten und dem Zweiten Kalten Krieg» besteht darin, dass der Nicht-Westen heute stärker ist als damals. Die Staaten, aus denen er sich zusammensetzt, sind technologisch hoch entwickelt, sie haben ihre eigenen Märkte, ihr eigenes Investitionskapital; ein dichtes Netz gegenseitiger Bindungen entsteht, und zwar in diesem Augenblick.
  Diese Staaten werden sich, wie die sehr kurze Liste der Unterzeichner des von Wa-shington verhängten Sanktionsregimes zeigt, nicht in den «Zweiten Kalten Krieg» hineinziehen lassen, so wie es eine lange Liste von Entwicklungsländern während des «Ersten Kalten Krieges» getan hat – vor allem Kuba, der Iran und Guatemala, und von dort aus weiter nach Vietnam, Angola, die anderen mittel-amerikanischen Staaten, die amerikanischen Satelliten in Ostasien – Japan, Südkorea, die Philippinen, Indonesien.
  Mit der Parität kommt die Autonomie, um es anders auszudrücken.
  Der Westen will die Welt wieder einmal spalten und baut dafür hohe, dicke Mauern. Wenn wir sie schon nicht weiter unterwerfen können, so die Überlegung der politischen Cliquen, dann sollten wir sie wenigstens isolieren. Es wird interessant – sogar bitter amüsant – sein, zu sehen, wer zuletzt isoliert wird, wenn der Westen wieder einmal darauf besteht, dass sich Ost und West nicht begegnen dürfen.  •



* Ein von US-Präsident Joe Biden für die Jahre 2020 bis 2021 vorgeschlagenes Billionenpaket zur Finanzierung von Sozial-, Infrastruktur- und Umweltprogrammen, um die in den USA grassierende Inflation zu bekämpfen (Anm. d. Red.).

Quelle: https://consortiumnews.com/2022/05/16/patrick-lawrence-the-new-iron-curtain/ vom 16.5.2022

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein jüngstes Buch ist «Time No Longer: Amerikaner nach dem amerikanischen Jahrhundert». Auf Twitter findet man ihn bei @thefloutist. Seine Webseite lautet Patrick Lawrence.

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