Die Rolle der Kultur bei der Förderung von Dialog und Zusammenarbeit in Post-Konflikt-Situationen

Rede bei der internationalen Konferenz «Förderung einer humanitären Agenda für die Zeit nach Konflikten» in Schuscha, Aserbeidschan

von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Köchler

Kultur verkörpert die «Lebenswelt» einer Gemeinschaft, eines Volkes, einer Nation im wahrsten Sinne des Wortes. Sie umfasst nicht nur die Bereiche der Religion, der klassischen Künste, der Literatur und des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch Volkstraditionen und Sport. Kultur formt und drückt sowohl die gemeinsame als auch die individuelle Identität aus – insbesondere, aber nicht ausschliesslich, in Bezug auf die Sprache. In unserer globalen, vernetzten Welt ist Kultur zu einem Element der Vielfalt geworden, welches das doppelte Potential hat, je nach den Umständen zu trennen oder zu vereinen.
  In Zeiten von Kriegen und Konflikten neigen die Gegner dazu, Fragen der kulturellen Identität zur Schaffung von Feindbildern zu instrumentalisieren. In dieser Mentalität wird die Vielfalt als Bedrohung empfunden. Die eigene Kultur wird als überlegen angesehen; sie gilt als Inbegriff der nationalen Identität und wird so im äußersten Fall zum Mittelpunkt chauvinistischer Selbstbehauptung. So lässt sich Kultur im Krieg leicht politisieren; Künstler, Autoren, Musiker oder Sportler werden von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, nur weil sie zufällig von der «falschen» Seite (aus dem falschen Land) kommen. Der Missbrauch der Kultur zu Zwecken der Mobilisierung für den Krieg könnte jedoch nicht weiter von ihrer wahren Natur entfernt sein: In der Vielzahl der «Lebenswelten» mit einer schier unendlichen Vielfalt von Ansätzen ist «Kultur» der Ausdruck dafür, wie die Menschheit im Laufe der Geschichte die Wirklichkeit wahrgenommen, interpretiert oder ästhetisch umgestaltet hat.
  In Situationen nach Konflikten ist es dieser universelle Aspekt der Kultur, der die Menschen in einer gemeinsamen Bemühung zusammenbringen kann. Sei es die Begeisterung für Musik oder Kunst, das Streben nach Wissen oder Perfektion auf einem bestimmten Gebiet oder die «Freude am Spiel»: Kultur überwindet alle Grenzen – ob politische, geographische oder mentale – und ermöglicht es den Menschen, ihre Menschlichkeit zu entdecken. Geteilte kulturelle Interessen können zu einem gemeinsamen Nenner werden, der es den Menschen ermöglicht, Hindernisse zu überwinden, die zuvor als unüberwindbar galten. Ein sehr ermutigendes Beispiel für die «dialogische Kraft» der Kultur ist das «Orchester des West-östlichen Divans» (West-Eastern Divan Orchestra) (das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht), das von den Vereinten Nationen als «UN Global Advocate for Cultural Understanding» designiert wurde. Nach dem gestrigen brillanten Auftritt des Baku-Kammerorchesters möchte ich auch das grosse Potenzial des Pankaukasischen Jugendorchesters hervorheben. Ihm gehören talentierte junge Musiker aus Aserbaidschan, Armenien, der Türkei und Georgien an. Andere, eher alltägliche Beispiele für die dialogische Kraft der Kultur beziehen sich auf die Rolle des Sports, wie im Fall der sogenannten «Ping-Pong-Diplomatie» zwischen den Vereinigten Staaten und China im Jahr 1971, die der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern vorausging.
  Ein echtes Interesse an der Kultur – oder «Lebenswelt» – des anderen und die Achtung dieser Kultur sind unabdingbar, wenn es darum geht, das Vertrauen wiederherzustellen und politische Vorurteile zu überwinden, die sich über lange Zeiträume des Konflikts verfestigt haben können. Staat und Zivilgesellschaft sollten die zahlreichen Möglichkeiten nutzen, die sich auf dem Gebiet der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft oder der Volkskultur und des Sports bieten.
  Auch Begegnungen zwischen Philosophen können eine positive Wirkung haben. Aus diesem besonderen Anlass möchte ich hier in Schuscha an die frühere Initiative von Felsefe Dünyası («Welt der Philosophie») erinnern, einem Ost-West-Forschungszentrum, das in Aserbaidschan mit Unterstützung des damaligen Präsidenten Heydar Aliyev, selbst ein Freund der Philosophie, gegründet wurde. Die Philosophie, die die grossen Fragen nach dem Ursprung des Lebens und dem Wesen des Seins stellt, ist in der Tat universell; sie hat eine transkulturelle Dimension, wodurch sie die gesamte Menschheit über ethnische, kulturelle und politische Grenzen hinweg anzusprechen und zu einen vermag. Ich erinnere mich an die lebhaften Debatten zwischen Philosophen aus allen Weltgegenden, die von diesem Zentrum in Baku organisiert wurden, und ich hoffe, dass man an dieses Erbe anknüpfen kann – vor allem in einem Post-Konflikt-Szenario wie demjenigen, das wir hier in Schuscha diskutieren, wo muslimische und christliche Gemeinschaften seit Hunderten von Jahren zusammengelebt haben.
  In Situationen nach grösseren Konflikten können auch Projekte des interreligiösen Dialogs besondere Bedeutung erlangen. Mit den Worten des verstorbenen Heydar Aliyev – und im «Geist von Schuscha» – kann man zuversichtlich sagen: «Von allen moralischen Reichtümern der Menschheit zeichnet sich die Religion dadurch aus, dass sie die Menschen unabhängig von ihrer [religiösen] Zugehörigkeit immer zu Freundschaft, Solidarität und Einheit aufgerufen hat.»
  Zusammengefasst: Ein Gemeinwesen, das die kulturelle Vielfalt schätzt und die kulturelle Identität des «Anderen», selbst des ehemaligen Gegners, respektiert, wird nicht nur an internationalem Ansehen gewinnen, sondern auch in der Lage sein, seine Position in der Gemeinschaft der Nationen nachhaltig zu sichern. Angesichts einer zunehmend fragilen Weltordnung bleibt der Dialog der Kulturen und Zivilisationen einer der Eckpfeiler eines nachhaltigen Friedens – im eigenen Land, in der Region und auf weltweiter Ebene.  •

Quelle: Internationale Konferenz «Advancing a Post-conflict Humanitarian Agenda»
(Förderung einer humanitären Agenda für die Zeit nach Konflikten)
in Schuscha, Karabach-Gebirge, Aserbaidschan.
Abschrift der auf der 1. Plenarsitzung am 19. Mai 2022 gehaltenen Rede.

(Übersetzung aus dem Englischen Zeit-Fragen)

Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dr. h.c. Hans Köchler (*1948) war von 1990 bis 2008 Vorstand des Institutes für Philosophie an der Universität Innsbruck.
  Er ist Gründer und Präsident (seit 1972) der International Progress Organization (Wien). Seither setzt er sich mit zahlreichen Publikationen, Reisen, Vorträgen und durch sein Mitwirken in verschiedenen internationalen Organisationen für einen Dialog der Kulturen ein und arbeitet in verschiedenen Komitees und Expertengremien mit, die sich mit Fragen zur internationalen Demokratie, zu Menschenrechten und Entwicklung befassen. Hans Köchler ist Mitglied des Universitätsrates der University of Digital Science (Berlin). Seit 2018 lehrt er an& der Academy for Cultural Diplomacy in Berlin. Hans Köchler lebt in Wien.

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