Auch im Krieg aktiv am Frieden arbeiten

Als Ende Juli, Anfang August 1914 die Züge an die Front rollten, waren viele Waggons beschriftet. Neben viel Kriegsgeschrei war auch zu lesen: «Weihnachten sind wir wieder zu Hause.»
  Am Ende waren es mehr als vier Jahre Krieg, mehr als 15 Millionen tote Soldaten und Zivilpersonen sowie ein radikal verändertes Europa und eine andere Welt. Und kaum 20 Jahre später ein zweiter Weltkrieg mit noch viel grösseren Zerstörungen, mehr als 60 Millionen Toten und einer neuen Epoche der Geschichte.
  «Wenn man erst einmal den Krieg entfesselt hat, dann kann buchstäblich alles passieren.» Diese Aussage des namhaften australischen Publizisten John Pilger (vgl. Artikel «Die Mainstream-Medien sind Teil eines Propagandakrieges») regt sehr zum Nachdenken an – und zum Fragen: Wer hat den Krieg in der Ukraine, von dem seit dem 24. Februar jeder spricht – der aber viel früher angefangen hat – entfesselt? Wann, wie und wozu wurde er entfesselt? Auf diese beiden Fragen gibt es schon jetzt einige gute Antworten. Auch diese Zeitung hat mit vielen Beiträgen versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Aber es gibt auch weitere Fragen. Fragen, die in die Zukunft weisen. Die wichtigste davon: Wie und wann wird dieser Krieg mit welchen Folgen enden? Und daran anknüpfend: Haben wir Bürger eine Möglichkeit, etwas zu diesem Ende beizutragen?
  Die Informations- und vor allem die Meinungs- und Propagandaflut zum Krieg ist riesengross. Als Bürger mit Herz und Verstand hofft man jeden Tag vor allem auf eines: auf Silberstreifen des Friedens am Horizont. Und in der Tat finden sich immer wieder Anhaltspunkte dafür, dass die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende berechtigt sein könnte. Um dann am nächsten Tag durch neue Meldungen wieder enttäuscht zu werden. So ist auch in unseren westlichen Medien einerseits zu hören, dass der Unmut über die katastrophalen Auswirkungen der eigenen Sanktionen auf die Weltwirtschaft und die eigenen Länder von Tag zu Tag wächst, und es kommen auch Stimmen zu Wort, die die Möglichkeit einer militärischen «Lösung» entschieden verneinen und für eine Verhandlungslösung – so schnell wie möglich – plädieren. Zugleich sind Durchhalteparolen bis zum «Endsieg» zu vernehmen und immer wieder die Propagandaformel von der Bösartigkeit Russlands und insbesondere des Präsidenten des Landes. Es sei hier offengelassen, ob dieses Wechselbad der Gefühle bewusst erzeugt wird – zum Beispiel, um die Menschen zu entmutigen und von einem eigenen Engagement für den Frieden abzuschrecken.
  Realistisch ist es, davon auszugehen, dass auf beiden Seiten der Front eine umfassende Kriegsmaschinerie – mit allem, was dazugehört – in Gang gesetzt worden ist und sich an dieser Front eben nicht nur Russland und die Ukraine, sondern viele Staaten der Welt gegenüberstehen. Die Rede von einem «Weltkrieg» ist nicht abwegig. Dass es dabei nicht um Gut gegen Böse, Freiheit und Demokratie gegen Diktatur und Gewaltherrschaft geht, ist offensichtlich. Sich als Bürger vorzunehmen, diesen Krieg mit grossen Schritten schon morgen beenden zu wollen, ist ebenso unrealistisch.
  Aber diese Erkenntnis bedeutet nicht Entmutigung. Der mutige Mensch stellt zwei Fragen: Was trägt – und was trägt nicht – zum Frieden bei? Und dann auch: Was kann ich tun? Was will ich tun?
  Nicht zum Frieden trägt bei, der Kriegspropaganda auf den Leim zu gehen. Auf Feindbilder hereinzufallen. Mitzumachen bei der scharfen Einteilung in Gut und Böse. Die Kriegstrommeln zu rühren. Hochmut und Realitätsverweigerung …
  Und was trägt zum Frieden bei? Zeitlos gültig sind die klassischen Kardinaltugenden: Mut, Klugheit, Gerechtigkeit und das rechte Mass. Bescheidenheit und keine grossen Worte. Brücken bauen zwischen den Menschen und zwischen den Völkern. Verstehen und verständlich machen. Nach der Wahrheit suchen. Sich aufklären lassen und selbst aufklären. Die künftige Generation friedensfähiger erziehen und bilden. Mitmensch sein im Hier und Jetzt. Anerkennung und Reflexion der eigenen Stärken und Schwächen … Und immer wieder erneut die Fragen wälzen: Was trägt nicht … und was trägt zum Frieden bei?

Karl-Jürgen Müller

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