«Am schlimmsten sind die Lügen»

von Karl-Jürgen Müller

Sie ist gebürtige Russin und lebt schon lange in Deutschland. Der Krieg in der Ukraine ist für sie eine Tragödie. Aber auch für die Zukunft Deutschlands und Europas erwartet sie nichts Gutes. Niemand könne sich wirklich vorbereiten auf das, was kommen wird. Sicher sei, dass der bisherige Wohlstand massive Einbrüche erleiden wird. Wegen der Anfeindungen gegen alles Russische macht sie sich grosse Sorgen. «Aber am schlimmsten sind die Lügen», sagt sie, und sie meint damit vor allem die Art und Weise, wie bei uns im Westen über den Krieg in der Ukraine berichtet und wie dieser Krieg bei uns im Westen beurteilt wird.
  Die Sorgen, die diese Frau zum Ausdruck bringt, müssten uns alle zum Nachdenken bringen. Sie betreffen den Krieg in der Ukraine, unseren Umgang mit ihrem Heimatland Russland, aber auch die Zukunft des Landes, in dem sie heute lebt.

Wer die öffentliche Veranstaltung von Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck in Bayreuth vor rund zwei Wochen auf dem Fernsehbildschirm miterlebt hat, hat einen Vorgeschmack bekommen, was es heissen wird, wenn unsere Politiker den Bürgern immer mehr Einschnitte und Verzicht abverlangen, zugleich aber auch die Erkenntnis wächst, dass nicht Russland diesen Abstieg zu verantworten hat, sondern dass er weitgehend hausgemacht ist, Resultat einer Politik im Interesse weniger, aber nicht im deutschen und europäischen Interesse.

Das westliche Narrativ

Ja, was wird geschehen, wenn immer mehr Bürger erkennen, dass das monoton vorgetragene Narrativ, alle westlichen Staaten – auch die Schweiz1 – stünden in einer Entscheidungsschlacht für Recht, Freiheit und Demokratie, gegen autokratische Herrschaft, Rechtsbruch und Gewalt, als Lüge offenbar wird und wie eine Blase platzt? Dass in der Ukraine (und anderswo in der Welt) kein «heiliger» Krieg für die Werte des Abendlandes geführt wird, sondern die bisherige, zutiefst ungerechte und vom Westen dominierte Weltunordnung zur Debatte steht – auch wenn der Ausgang dieser Auseinandersetzung heute noch ungewiss ist und niemand sicher sagen kann, was in den kommenden Monaten und Jahren auf die Menschheit zukommt?
  Sehr wahrscheinlich werden die Bürger, die sich nur auf unsere westlichen Medien abstützen, noch geraume Zeit ihren eigenen Abstieg leidend hinnehmen und sich einzureden versuchen, dies alles diene einer guten Sache, eben der Sache des oben genannten Narrativs. Sehr wahrscheinlich anders wird es bei denjenigen aussehen, die sich breiter und vielfältiger informieren. Auch wenn die zunehmende Zensur in unseren Staaten versucht, genau dies zu verhindern. Eine Zensur, die darauf abzielt, Menschen so einzuschüchtern, dass sie ihr eigenes Denken zensieren und auch nicht mehr innerlich wagen, kritische Fragen zu stellen.
  Zu den «anderen» Medien gehören auch die Medien Russlands. Dabei geht es nicht darum, all das, was man dort sieht, hört und liest, per se für wahr zu halten – zumal sich das Land im Krieg befindet. Aber mit wachem Verstand hinzuschauen und zuzuhören lohnt sich. Nicht, weil man danach Bescheid weiss, wie die Dinge zu sehen sind. Sondern weil sich ganz neue Fragen stellen, Fragen, die in unseren Medien überhaupt kein Thema sind, die aber ausserordentlich wichtig sind, um wirklich zu verstehen, was im 20. und bisherigen 21. Jahrhundert in unserer Welt geschehen ist und warum wir heute dort stehen, wo wir stehen.

Russland verstehen

Wer offen für die Stimmen der anderen Seite ist, beginnt auch, genauer zu prüfen, zu forschen und wirklich tragfähige Antworten zu entwickeln. Last but not least: die andere Seite zu verstehen. Ja, Russland verstehen ist kein Vergehen, sondern vielleicht der einzig gangbare Weg, um doch noch den Kurs zu ändern und den Krieg nicht weiter eskalieren zu lassen.
  Russland verstehen heisst auch, von der Momentaufnahme wegzukommen und geschichtlich zu denken und zu forschen. Was alles ist geschehen, dass wir heute – anders noch als in den Jahren um 1990 herum – vorerst nicht mehr auf ein friedliches Miteinander und eine Epoche einer solidarischen Welt hoffen können, sondern eine Welt in einem radikalen Umbruch mit vielen Verwerfungen und voller brandgefährlicher Konflikte konstatieren müssen? Was ist geschehen, dass Russland im Dezember 2021 von den USA und der Nato fast ultimativ die Beachtung seiner Sicherheitsinteressen einforderte? Und, als dies vergeblich war, militärisch in der Ukraine intervenierte. Überzeugende Antworten auf diese und andere wichtige Fragen findet man in unseren Medien nicht. Ob mehr Antworten in russischen Medien zu finden sind?
  Ein Beispiel, das eine Reihe von Antworten anbietet, ist der vierteilige und bei uns im Westen weitgehend unbekannte Video-Beitrag der «Prawda» mit dem Titel «Der unbekannte Putin» (https://www.youtube.com/watch?v=ZcaiUZK7Sho, aufgerufen am 1. August 2022). In der Sowjetunion war die «Prawda» die bekannteste Zeitung der KPdSU, nach 1991 hatte sie eine wechselvolle Geschichte, heute ist sie ein russisches Medium unter anderen im Eigentum einer international gestreuten Aktiengesellschaft.
  Das Video hat eine Gesamtdauer von fast zweieinhalb Stunden. Es ist kurz nach 2010 entstanden, der russische Originalton wird von nur einem deutschsprachigen Sprecher übersetzt (was es nicht ganz leicht macht, die Fragen und Antworten in den zahlreichen Interviews sicher auseinanderzuhalten) und handelt von der Regierungszeit Wladimir Putins in den Jahren 2000 bis 2010, geht aber in seinen Analysen der russischen Probleme auch in die neunziger Jahre, in die Zeit der Präsidentschaft von Boris Jelzin zurück.

«Der unbekannte Putin»

Hier soll nicht der Inhalt des Videos wiedergegeben werden. Aber der Hinweis sei erlaubt, dass Vorgänge zur Sprache kommen, die bei uns im Westen fast gar nicht thematisiert werden, für die weitere Entwicklung nach 2010 aber von grosser Bedeutung sind: Der Informationskrieg des Westens, vor allem der USA, gegen Russland schon gleich wieder nach 1991, also schon in der Zeit der Präsidentschaft Jelzins, vor allem aber dann mit Beginn von Putins Präsidentschaft. US-amerikanische Beamte und Geheimdienstmitarbeiter, die in den neunziger Jahren in russischen Ministerien sassen und die Arbeit der russischen Regierung mitbestimmten und mit an den russischen Gesetzestexten dieser Jahre arbeiteten. Die Versuche des Westens und westlicher Ölkonzerne, mittels eines Gesetzes über «Production Sharing Agreements»2 die Energiereserven des Landes für Interessen ausserhalb des Landes auszubeuten und Russland für diese Ausbeutung auch noch zahlen zu lassen. Die Versuche russischer Oligarchen mit engen Bindungen in den Westen, Kernbereiche der ehemaligen sowjetischen Industrie in den Besitz zu bekommen – nur, um diese mittels vermeintlicher Reformer und Reformen zu ruinieren3, so dass Russland auf den Stand eines Zulieferers für Ressourcen – die der Westen braucht – reduziert werde. Die Versuche, das Land mittels nationalistischer Bewegungen und mittels Separatismus (zum Beispiel in Tschetschenien) von seinen Aussengrenzen her Schritt für Schritt in verschiedene Teile zu zerlegen und seine Abwehrfähigkeit zu zerstören. Der skandalisierende Missbrauch von Todesfällen und von Mordanschlägen, um Russland und die russische Regierung ohne irgendwelche soliden Beweise international an den Pranger zu stellen und so auch die Aufmerksamkeit von zentralen politischen Fragen abzulenken. Der Aufbau einer «Opposition» in Russland, die keine für das Land konstruktiven Vorschläge macht, aber viel unternimmt, um die Jugend des Landes mit «Events» auf ihre Seite zu ziehen und das Land mit Angriffen auf dessen Werteordnung zu schwächen. Alles in allem der Versuch, in Russland über die Jahre hinweg Zersetzungsarbeit zu betreiben.
  Thema sind aber auch die in vielen Bereichen weithin unbekannten Bemühungen der russischen Regierung und insbesondere des Präsidenten des Landes, gegenzusteuern – deshalb der Titel des Videos.
  All dies und noch vieles mehr kommt im Video zur Sprache, kam schon vor zehn Jahren zur Sprache. Und seitdem – das würden wohl die meisten in Russland sagen – haben diese Versuche der Zersetzung nicht nachgelassen.

Auf der Suche nach Wahrheit

Ist das alles nur russische Propaganda? Die im Video zur Sprache kommenden Dinge sind zu schwerwiegend, um mit solchen Abwehrreflexen darüber hinwegzugehen! Insbesondere in einer Zeit eines monströsen Feindbildes Russland gibt es die Pflicht, der russischen Sicht ernsthaft nachzugehen – will man denn die Wahrheit ermitteln. Die aber wird auf den Tisch kommen müssen, um die derzeitige Situation zu überwinden und mit einem ehrlichen Neuanfang in den internationalen Beziehungen zu beginnen. Auch wenn wir derzeit noch weit entfernt davon sind.
  Zeit-Fragen hat in ihrer Ausgabe vom 12. Juli 2022 die südafrikanische Aussenministerin Naledi Pandor an prominenter Stelle zu Wort kommen lassen. Hier gab es innerhalb eines Landes über Jahrhunderte unversöhnliche Positionen, grosses Unrecht – vor allem der weissen Eliten des Landes – und Verbrechen aller Art von allen Seiten. «Wahrheitskommissionen», vom damaligen Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela 1996 – Jahre nach dem Ende der Apartheid – eingesetzt, hatten nicht die Aufgabe, Menschen anzuklagen und vor Gericht zu bringen, sondern über eine öffentlich zugängliche Debatte, die der Wahrheitsfindung dienen sollte und Opfern von Unrecht und Gewalt Entschädigungen zukommen lassen wollte, mit zur Versöhnung beizutragen.
  Auch wenn es viel berechtigte Kritik an der praktischen Umsetzung der Idee der Wahrheitsfindung gegeben hat – 1998 wurde deren Arbeit in Südafrika beendet –, die Idee, dass Annäherung und Versöhnung voraussetzen, die Wahrheit zu suchen und diese auch publik zu machen, stellt sich auch heute wieder: dieses Mal nicht innerstaatlich, sondern mit Blick auf die gegenwärtige Weltunordnung und mit Blick auf die Suche nach einer neuen, wirklichen Weltordnung. Ja, noch sind wir weit davon entfernt und niemand kann derzeit sagen, wie das derzeitige Ringen weitergeht und enden wird. Aber auch jeder einzelne, jeder Bürger kann an sich den Anspruch stellen, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wahrheitsfindung beizutragen – und sei es auch nur für sich selbst und die Menschen, mit denen man es im Alltag zu tun hat.  •



1 Zahlreiche Schweizer Medienkommentare zum 1. August benutzten dieses Narrativ, um für einen Bruch mit mehr als 200 Jahren Schweizer Geschichte und nun auf diese Art und Weise für eine Annäherung an Nato und EU und damit ein Ende der Neutralität zu plädieren.
2 vgl. zur Einführung https://de.wikipedia.org/wiki/Production_Sharing_Agreement
3 Das Video verweist in diesem Zusammenhang auf das auch im Westen bekannte Buch von John Perkins, Bekenntnisse eines Economic Hitmann aus dem Jahr 2004, das auch in russischer Sprache vorliegt.

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