Russland hat den Bruch mit dem Westen vollzogen und ist zur Mitgestaltung einer neuen Weltordnung bereit

von Dmitri Trenin

Kurz bevor sich die Staats- und Regierungschefs der G7 vom 26. bis zum 28. Juni 2022 auf Schloss Elmau in Bayern trafen, hielten ihre Amtskollegen aus den fünf BRICS-Staaten unter chinesischem Vorsitz einen Online-Gipfel ab. Auf dem G-7-Treffen war Russland als Bedrohung diskutiert worden, war aber ein zentraler Teilnehmer des BRICS-Gipfels.
  Die Zeiten, in denen Moskau die Kluft zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen überbrücken konnte, sind lange vorbei. Nach Beginn der Ukraine-Krise 2014 kehrte die G8 zu ihrem früheren G-7-Format zurück; im Zuge der russischen Militäraktion in der Ukraine im vergangenen Februar ist die russisch-westliche Konfrontation zu einem ausgewachsenen «hybriden Krieg» mit einer tatsächlichen Konfrontation – wenn auch bisher einer Stellvertreterkonfrontation – degeneriert.

Ausbau der Beziehungen zum Nicht-Westen –
eine schwierige, aber notwendige Aufgabe

Nachdem Russland nach dem Ende des Kalten Krieges versucht hat, Teil des neuen Westens zu werden, und bei diesem Vorhaben gescheitert ist, konzentriert es sich nun auf den Ausbau seiner Beziehungen zu Asien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika.
  Dies ist aus mehreren Gründen sowohl eine schwierige als auch eine notwendige Aufgabe. Erstens gibt es ein starkes Beharrungsvermögen aus der Vergangenheit. Mindestens seit den Tagen Peters des Grossen haben die russischen Eliten nach Westen geschaut, westliche Erscheinungsformen und Verhaltensweisen angenommen (während sie unter der Kleidung und den Manieren eindeutig russisch blieben), westliche Institutionen übernommen (wenn auch oft nur oberflächlich), westliche Denkmuster übernommen (und sie gleichzeitig kreativ weiterentwickelt, wie beim Marxismus), und versucht, eine europäische Grossmacht zu werden, dann, zu Zeiten der Sowjetunion, eine globale Supermacht, und in jüngster Zeit ein wichtiger Bestandteil eines grösseren Europas von Lissabon bis Wladiwostok.
  Dies ist ein Weg, den man nur schwer verlassen kann. Doch jetzt steht Russland – zum ersten Mal überhaupt – einem geeinten Westen gegenüber, von Nordamerika, der Europäischen Union und Grossbritannien bis hin zu Japan und Australien. Hinzu kommt, dass es im Westen keine Verbündeten gibt, an die sich Moskau wenden könnte – selbst vermeintlich neutrale Staaten wie Finnland, Schweden, Österreich und die Schweiz haben alle ihre Neutralität aufgegeben. Russlands politischer Bruch mit dem Westen ist somit vollzogen, und eine neue Norm für die Beziehungen zwischen ihnen kann nur als Ergebnis des «hybriden Krieges» entstehen, dessen Austragung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird.

Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen – ein Auslaufmodell

Zweitens sind Moskaus Wirtschaftsbeziehungen weitgehend mit dem Westen aufgebaut worden. Historisch gesehen war Russland eine Ressource für die westeuropäische Industrie, eine Kornkammer des Kontinents und ein wichtiger Importeur von Industrieprodukten und Technologie. Bis vor kurzem machte der Handel Russlands mit der Europäischen Union allein mehr als die Hälfte des russischen Aussenhandels aus, und Deutschland war der führende Exporteur von Maschinen und Technologie nach Russland. Seit Anfang der 1970er Jahre bilden die Öl- und Gaspipelines von Russland nach Westeuropa das Rückgrat der Wirtschaftsbeziehungen und sorgten für allgemeine Stabilität auf dem Kontinent, selbst in den gefährlichen Jahrzehnten des Kalten Krieges und selbst in den turbulenten Zeiten des Zerfalls der Sowjetunion. Allerdings ist auch das ein Auslaufmodell.
  Die harten Sanktionen, die von den USA, der EU und dem Vereinigten Königreich gegen Russland verhängt wurden, werden auch dann nicht aufgehoben werden, wenn die eigentlichen Kämpfe in der Ukraine aufhören, und die schmerzhaften Erfahrungen mit der Beschlagnahme von Devisen und Vermögenswerten werden jede künftige russische Annäherung an Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen stark prägen.

Traditionelle Grundlagen der
russischen Kultur bleiben europäisch

Drittens haben sich die Russen in kultureller Hinsicht traditionell mit dem übrigen Europa identifiziert. Das Christentum, das Erbe des antiken Griechenlands und Roms, die Ideen der französischen Aufklärung und der deutschen Philosophie, die europäische Literatur und Kunst, Musik und Tanz – all dies trug dazu bei, auch Russlands eigene Kultur zu formen und zu gestalten, und gab ihr einen starken Anreiz zu eigenen Entwicklungen. Trotz des jüngsten politischen Bruchs und der geoökonomischen Verschiebungen bleiben die Grundlagen der russischen Kultur eindeutig europäisch.
  Einige Elemente der heutigen westlichen Kulturszene, insbesondere der vorherrschende Kult der individuellen Selbstdarstellung, der ausufernde Liberalismus, der zunehmend repressiv wird, die Aushöhlung der Familienwerte und das Ausufern der Geschlechtervielfalt kollidieren jedoch mit dem eher traditionellen kulturellen Kodex der Mehrheit der russischen Bevölkerung.

Die historische Trägheit überwinden

Die offensichtliche Notwendigkeit für Russland, jetzt über den Westen hinauszublicken, bedeutet jedoch, dass es wahrscheinlich die historische Trägheit, das Erbe früherer geoökonomischer Prioritäten und kulturelle Affinitäten überwinden kann. Angesichts der Tatsache, dass der Westen Russland meidet und versucht, es zu isolieren und zuweilen zu «canceln», hat Moskau keine andere Wahl, als seine alten Gewohnheiten abzulegen und der weiteren Welt jenseits von Westeuropa und Nordamerika die Hand zu reichen. In der Tat ist das etwas, was sich russische Staatschefs wiederholt geschworen haben, auch als die Beziehungen zum Westen noch nicht so feindselig waren, aber die auf Europa ausgerichtete Denkweise, die scheinbare Leichtigkeit, Ressourcen gegen westliche Waren und Technologien einzutauschen, und der Ehrgeiz, in die westlichen Elitenkreise aufgenommen zu werden, haben verhindert, dass diese Absicht in die Tat umgesetzt wurde.
  Allerdings ist bekannt, dass Menschen erst dann beginnen, das Richtige zu tun, wenn es keine anderen Möglichkeiten mehr gibt. Und natürlich ist eine Kapitulation vor dem Westen für Russland derzeit keine Option. Die Dinge sind zu weit fortgeschritten.

Neuordnung der russischen Aussenbeziehungen …

Abgesehen von der Notwendigkeit einer Neuordnung der russischen Aussenbeziehungen gibt es echte Chancen, die es zu verfolgen gilt. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die führenden Länder Asiens, des Nahen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas in jeder Hinsicht einen spektakulären Aufstieg erlebt, sowohl in wirtschaftlicher und politischer als auch in technologischer und militärischer Hinsicht.
  Schon vor dem Ausbruch des «hybriden Krieges» wurde Deutschland von China nicht nur als wichtigster Handelspartner Russlands, sondern auch als führender Exporteur von Maschinen und Ausrüstung nach Russland überholt. Indien, ein traditioneller Importeur sowjetischer und heute russischer Waffen, entwickelt sich nun zu einem wichtigen Technologiepartner für Moskau. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind Russlands wichtigste Partner bei der Regulierung der Ölförderung im Rahmen des Formates OPEC+. Die Türkei und der Iran sind wichtige unabhängige Akteure in einer strategischen Schlüsselregion. Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der nicht-westlichen Länder sich geweigert hat, Russland für sein Vorgehen in der Ukraine zu verurteilen – viele von ihnen trotz starken Drucks der USA – ist für Moskau sehr ermutigend. In dem Sinne, dass diejenigen, die nicht gegen uns sind, als auf unserer Seite stehend angesehen werden könnten.
  Von Indonesien bis Brasilien und von Argentinien bis Südafrika gibt es viele dynamische und ehrgeizige Länder, die Moskau ansprechen möchte.

… mit geeigneter Strategie

Um dies tun zu können, muss die russische Aussenpolitik eine geeignete Strategie entwickeln. Vor allem muss es den Beziehungen zu nicht-westlichen Ländern Vorrang vor den de facto fest eingefrorenen Beziehungen zum Westen geben. Botschafter in Indonesien zu sein sollte prestigeträchtiger als ein Botschafterposten in Rom sein, und ein Posten in Taschkent sollte als wichtiger angesehen werden als einer in Wien.
  Es muss eine Prüfung potentieller wirtschaftlicher und anderer Möglichkeiten für Russland in den BRICS-Ländern geben sowie einen Plan, um sie weiterzuentwickeln. Abgesehen von der Wirtschaft sollten Studentenaustauschprogramme ausgeweitet und der russische Tourismus in Richtung Osten und Süden gefördert werden. Die russischen Medien täten gut daran, verstärkt über die Entwicklungen in den wichtigsten nicht-westlichen Ländern zu berichten und die russische Elite und die breite Öffentlichkeit über die wirtschaftlichen Realitäten, die Politik und die Kultur dieser Länder zu unterrichten.  •

Quelle: Russian International Affairs Council (RIAC) vom 6.7.2022

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Dmitri Trenin ist Mitglied des Rates für Aussen- und Verteidigungspolitik Russlands und war Direktor des Carnegie-Instituts in Moskau. Er ist Vorsitzender des Forschungsrats und des Programms für Aussen- und Sicherheitspolitik. Von 1972 bis 1993 diente er in den sowjetischen und russischen Streitkräften, wo er unter anderem als Verbindungsoffizier in der Abteilung für Aussenbeziehungen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte (stationiert in Potsdam) und von 1985 bis 1991 als Mitarbeiter der Delegation bei den amerikanisch-sowjetischen Atomwaffengesprächen in Genf tätig war. Ausserdem unterrichtete er von 1986 bis 1993 an der Abteilung für Kriegsstudien des Militärinstituts. Von 1993 bis 1997 war Trenin als Senior Research Fellow am Institute of Europe in Moskau tätig. Im Jahr 1993 war er Senior Research Fellow am Nato Defense College in Rom.

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