«Wenn man durch die Hintertür einem Kriegsbündnis beitritt, ist das eine Abschaffung der Neutralität durch die Hintertür»1

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Seit Ende Februar unterzieht sich der Bundesrat dem Kommando aus Washington und Brüssel und übernimmt ein Sanktionspaket gegen Russland nach dem anderen. Vielen Menschen im Land schwirren die Köpfe ob der Flut von «news» und «fake news» in den Medien und ob der wackligen bis neutralitätswidrigen Statements aus Bern. Wer deren Tragweite erkennt, dem wird es wind und weh, wenn er mitansehen muss, wie die über Jahrhunderte aufgebaute Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutrale Vermittlerin in den Wind geschlagen wird.
  Es ist höchste Zeit innezuhalten. Die Debatte über Inhalt und Sinn der Schweizer Neutralität ist eröffnet: Die Neutralität schweizerischer Prägung mit einer Volksinitiative zurückholen oder die Schweizer Armee nach den Vorstellungen des EDA-Vorstehers Ignazio Cassis an «Art. 5-Übungen der Nato-Truppen» teilnehmen lassen?

In Bern kursiert derzeit ein «verwaltungsinternes Papier», der Entwurf des neuen Neutralitätsberichts, den das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA innerhalb der Bundesverwaltung in Vernehmlassung gegeben hat. Ziel des Berichts sei es, «die Grundlage für eine strukturierte politische Debatte zur Neutralität zu schaffen». Er soll unter anderem eine Auslegeordnung verschiedener Neutralitätsvarianten enthalten, darunter an erster Stelle Ignazio Cassis’ Neuerfindung und Favorit, die «Kooperative Neutralität». Bis Ende August will der Bundesrat den Bericht behandeln und darüber entscheiden, welches Konzept er bevorzugt.
  Einigen Zeitungs- und Fernsehredaktionen «liegt der [sogenannt interne] Bericht aus dem EDA vor», während alle anderen die Einzelheiten aus den mehr oder weniger informativen Medienberichten herauspicken müssen. Also tun wir das!

Wie das EDA die Schweizer Neutralität in den Graben fahren will

Drei Müsterli aus der Homepage des EDA2:

  • Der Bundesrat will sich selbst einen (noch) grösseren Spielraum für seine gewünschte weitere Annäherung an die Nato verschaffen: «Würde die Schweiz in Zukunft enger mit der Nato zusammenarbeiten oder Waffen in bestimmte Länder liefern wollen, muss sie prüfen, welchen Spielraum die Neutralität zulässt, ohne dabei das Neutralitätsrecht zu verletzen und die Glaubwürdigkeit zu verlieren, als neutraler Staat wahrgenommen zu werden.» Tatsächlich liegt es weder im Interesse der Schweiz noch der Völkergemeinschaft, wenn der Bundesrat freie Hand bekommt – und nicht einmal merkt, dass die Schweiz das Neutralitätsrecht bereits verletzt und ihre Glaubwürdigkeit bei vielen Staaten der Weltgemeinschaft verloren hat.
  • «Hat der Bundesrat mit seinem Entscheid vom 28. Februar 2022, die Sanktionen der EU gegen Russland zu übernehmen, die Neutralität der Schweiz aufgegeben?»
      «Nein, keineswegs: An der Neutralität der Schweiz ändert sich auch mit der Übernahme der EU-Sanktionen nichts.» Die Fakten sehen anders aus. So sprach sich der russische Sondergesandte für Syrien, Alexander Lawrentjew, wegen der scharfen Schweizer Sanktionen gegen Russland kürzlich dafür aus, «Genf als Standort für die Gespräche über eine syrische Verfassung aufzugeben. Denn Genf sei nicht mehr neutral».3
  • «Neutralität ist keine starre Grösse, sondern ein aussen-, sicherheits- und auch wirtschaftspolitisches Instrument, das der jeweils herrschenden politischen Grosswetterlage angepasst werden muss.» So ein Unsinn! Erstens ist die Neutralität kein «Instrument», sondern eine Haltung. Zweitens stünde deren Anpassung an die jeweils herrschende Grosswetterlage per se im Widerspruch zum Grundsatz der immerwährenden (dauernden) Neutralität. Vielmehr muss sich die neutrale Schweiz gerade in schwierigsten Lagen so widerstandsfähig wie irgend möglich gegen äusseren (und inneren) Druck zeigen.

«Kooperative Neutralität»: Waffen-lieferungen und Beteiligung der
Schweizer Armee an Nato-Kriegsübungen

Der Entwurf des Neutralitätsberichts nennt laut SonntagsZeitung4 die Eckpunkte der sogenannten «Kooperativen Neutralität». Grundsätzlich soll die «Zusammenarbeit» mit anderen Staaten, «die Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit teilen», intensiviert werden. Gemeint sind die EU- und Nato-Mitgliedsstaaten.
  Erster Eckpunkt: Die Regeln für Waffenlieferungen sollen gelockert werden. Will heissen: «Waffenlieferungen in Kriegsgebiete wären zwar weiterhin verboten. Wenn Partnerstaaten in der Schweiz produzierte Rüstungsgüter an Kriegsparteien weiterleiten möchten, würde das aber nicht mehr untersagt.» Und weiter: «Auch militärische Flüge über die Schweiz für Nicht-Konfliktparteien würden erleichtert.»
  Haben die Leute im EDA vergessen, dass die Schweiz neben dem Neutralitätsrecht auch ein strenges Kriegsmaterialgesetz (KMG) hat (das im September 2021 vom Parlament nochmals verschärft wurde)? Das KMG verbietet nicht nur die direkte Ausfuhr von Rüstungsgütern in kriegsführende Länder, sondern die Schweiz verlangt bei der Ausfuhr von Kriegsmaterial eine Erklärung der betreffenden Regierung, dass dieses nicht wieder ausgeführt wird (KMG Art. 18 Abs. 1).
  Zweiter Eckpunkt: Die automatische Übernahme ausländischer Sanktionen gegen andere Staaten soll festgeschrieben werden: «Sanktionen, auch solche der EU, würden wie schon jetzt im Ukraine-Krieg übernommen.» (SonntagsZeitung vom 17. Juli 2022) Eigentlich will die grosse Mehrheit der Schweizer keine automatische Übernahme von EU-Regeln …
  Dritter Eckpunkt: Die Schweiz soll «enger mit der EU und der Nato kooperieren und etwa gemeinsame Militärübungen durchführen – selbst auf Schweizer Boden». SRF News zeigt den Original-Wortlaut aus Cassis’ Entwurf im Bild: «Die Kooperation kann in wichtigen Bereichen verstärkt werden, wie z. B. mit einer Beteiligung der Schweizer Armee an Art. 5-Übungen der Nato, oder der Ausrichtung von Übungen auf Schweizer Boden […]».5
  Hoppla, das ist heiss! Was «Art. 5-Übungen der Nato» sind, erklärt die Deutsche Welle DW (Auslandsrundfunk der Bundesrepublik Deutschland): «Der Nato-Bündnisfall wird in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags von 1949 definiert.» Dort «vereinbaren die Vertragsparteien, ‹dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird›». Jede Vertragspartei soll den Angegriffenen Beistand leisten, indem sie unverzüglich «die Massnahmen, einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wieder herzustellen und zu erhalten».6
  Was die Mannschaft im Aussendepartement sich da leistet, ist ungeheuerlich! Für SP-Nationalrat Fabian Molina zum Beispiel ist es klar, dass das vom EDA geplante Modell einem Nato-Beitritt gleichkommt: «Wenn man durch die Hintertür einem Kriegsbündnis beitritt, bevor man dem Friedenswerk Europa sich angenähert hat, ja, dann ist das eine Abschaffung der Neutralität durch die Hintertür.» (SRF-Tagesschau vom 22. Juli 2022). (Dem «Friedenswerk Europa» sollte sich die Schweiz allerdings nur so weit annähern, wie es im Rahmen unseres Staatssystems möglich ist.)

«Ein bisschen» Neutralität oder gar keine?

Neben der von Ignazio Cassis priorisierten «Kooperativen Neutralität» nennt der Entwurf des Neutralitätsberichts zwei weitere Optionen: «So weiterfahren wie bisher» oder «zu einer sogenannten Ad-hoc-Neutralität wechseln, bei der die Schweiz von Fall zu Fall entscheiden würde, wie sie sich verhält. Die dauernde Neutralität würde bei dieser Variante teilweise aufgegeben.» (SonntagsZeitung vom 17. Juli 2022) Tatsächlich ist der Bundesrat im Umgang mit der Ukraine und Russland bereits bei einer solchen Ad-hoc-Neutralität gelandet. Die Neutralität «teilweise aufzugeben» ist ein Widerspruch in sich: Entweder besteht sie dauernd, oder sie besteht nicht.
  Auf der Homepage des EDA wird sogar die Option «gar keine Neutralität» angedacht: «Es stünde der Schweiz theoretisch auch frei, auf die Neutralität zu verzichten. Sie hat diese selbstgewählt und ist völkerrechtlich nicht dazu verpflichtet.» So weit kommt’s noch!

Gute Dienste der Schweiz sind
untrennbar mit der Neutralität verwoben

Laut Homepage des EDA sind die Guten Dienste «nicht die Raison d’Être [Existenzgrund, Sinn] der Schweizer Aussenpolitik und sie dürfen nie ein Feigenblatt sein».
  Braucht die Entscheidung der Schweiz, sich nicht an Kriegen und Kriegsbündnissen zu beteiligen, ein Feigenblatt, Herr Cassis?
  Für alt Botschafter Paul Widmer ist die Neutralität dagegen untrennbarer Bestandteil der Schweizer Aussenpolitik und – besonders wichtig – ein Friedensfaktor: «Die Neutralität ist mit Abstand der wichtigste Grundsatz der eidgenössischen Aussenpolitik. Sie ist die Richtschnur in den grossen aussenpolitischen Fragen. […] Wenn jeder Staat sich verpflichtete, keinen Krieg zu beginnen und sich auch nicht in einen von anderen angezettelten Krieg hineinziehen zu lassen, dann existierte, würden diese Prinzipien denn eingehalten, Weltfrieden. Doch selbst wenn die immerwährende und bewaffnete Neutralität nur von einem einzigen Staat praktiziert wird, ist sie ein Friedensfaktor.»7

Volksinitiative zur Verankerung der Neutralität
in der schweizerischen Bundesverfassung

Mit Paul Widmers wohltuenden Worten im Ohr schlagen wir den Bogen zur Volksinitiative «Schweizerische Neutralität», die eine beachtliche Zahl von Schweizerinnen und Schweizern aus verschiedenen Parteien oder ohne Parteizugehörigkeit lancieren wollen.
  Der Initiativtext wurde kürzlich bei der Bundeskanzlei zur (formellen) Vorprüfung eingereicht. Sein Inhalt ist allgemeinverständlich und braucht nicht im Detail erklärt zu werden. Nur so viel dazu: Wenn dieser Artikel 54a in der Bundesverfassung stehen wird, gilt wieder das, was eigentlich für jeden Schweizer selbstverständlich sein sollte – bewaffnete Neutralität (das heisst eine Armee, die fähig ist, das Land zu verteidigen), militärische Zusammenarbeit nur im Falle eines (drohenden) militärischen Angriffs auf die Schweiz, keine Beteiligung an Kriegen anderer Staaten (auch nicht mit Waffenlieferungen), keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten (Ausnahmen siehe Absatz 3), Nutzung der immerwährenden Neutralität für die Leistung Guter Dienste.

BV Art. 54a Schweizerische Neutralität

  1. Die Schweiz ist immerwährend bewaffnet neutral.

  2. Sie tritt keinem militärischen oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit für den Fall eines militärischen Angriffs auf die Schweiz oder dessen Vorbereitungshandlungen.

  3. Sie beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Uno sowie Massnahmen zwecks Verhinderung der Umgehung von Massnahmen anderer Staaten.

  4. Sie nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Beseitigung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.

Warum ist die Einfügung dieses Artikels in die Bundesverfassung überhaupt nötig? Weil die inhaltliche Ausformung der Neutralität bisher nicht in der Verfassung steht. Als Aufgabe der Bundesversammlung heisst es in Art. 173 Abs. 1a: «Sie trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.» Dieselbe Aufgabe ist dem Bundesrat gemäss Art. 185 Abs. 1 zugewiesen. Bis vor rund 25 Jahren war es nicht nötig, die schweizerische Neutralität genauer zu fassen. Aber seit dem Beitritt der Schweiz zur Nato-Partnerschaft für den Frieden (PfP) – ohne Volksentscheid! – steht die inhaltliche Verankerung der Neutralität in der Verfassung an, und nach den neutralitätswidrigen Bundesratsentscheiden zur Ukraine-Krise ist sie noch dringender geworden.  •



1 Nationalrat Fabian Molina (SP ZH) in der SRF-Tagesschau vom 22.7.2022
2 Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA. «Fragen und Antworten zur Neutralität der Schweiz» vom 18.5.2022; https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2022/03/neutralitaet.html
3 Bausch, Saya und Ramirez, Manuel. «Angezweifelte Neutralität. Wird Genf als internationaler Konferenzstandort geschwächt?» Tagesschau SRF vom 20.6.2022
4 Schmid, Adrian. «Cassis will Schweizer Neutralität neu ausrichten». In: SonntagsZeitung vom 17.7.2022
5 Rhyn, Laryssa. «Schweiz: Was ist ‹Kooperative Neutralität›?» SRF-News vom 22.7.2022
6 https://www.dw.com/de/deutschland-und-artikel-5-des-nato-vertrages/a-273717
7 Widmer, Paul. Schweizer Aussenpolitik. Von Charles Pictet de Rochemont bis Edouard Brunner. Zürich 2014, S. 24f.

Getreidehandel mit Russland: His Master's Fact Sheet

mw. Gemäss Tagespresse vom 25. Juli hat der EU-Ministerrat «schriftlich und explizit festgehalten», dass «Agrarrohstoffe von den Sanktionen gegen Russland ausgenommen seien». Dies gelte für Getreide, aber auch für Sonnenblumenöl und Dünger. Bisher «wollte kein Rohstoffhändler und kein in den Handel involviertes Finanzinstitut das Risiko eingehen, mit Getreide aus Russland zu handeln. Zu gross schien die Gefahr, auf Grund der vagen Formulierung in den entsprechenden Bestimmungen als Sanktionsbrecher gebrandmarkt und gebüsst zu werden.»
  Warum liessen es die EU-Spitzen fünf Monate lang zu, dass kein Getreidehändler es wagte, mit russischem Getreide zu handeln, zum Schaden der Ärmsten der Welt? Den schwarzen Peter schob man entgegen den Fakten dem russischen Präsidenten zu: Dieser habe die EU-Sanktionen nur als Vorwand benutzt, um den eigenen Weizen zu horten und damit den Preis in die Höhe zu treiben. «Wir haben es hier mit einer eiskalten, gnadenlosen und vorsätzlichen Erpressung der schwächsten Länder und Menschen der Welt durch Putin zu tun», so Kommissionspräsidentin von der Leyen in verleumderischer und zugleich heuchlerischer Manier – als ob ihr und den anderen EU-Oberen das Wohl der Ärmsten vorrangig wäre!
  Warum Brüssel so plötzlich grünes Licht gibt für Weizenimporte aus Russland? Die Erklärung liefert ein «Merkblatt» aus Washington, das einige Tage vor dem EU-Beschluss herauskam und bekanntgab, dass «der internationale Handel mit russischen Agrarrohstoffen – und auch mit russischen Düngemitteln – erlaubt sei».
  Der Hegemon dirigiert also seine Vasallen und die Hungernden dieser Welt mit einem blossen Merkblatt! Hochmut kommt vor dem Fall.

Quellen:

Gyr, Marcel. «Schweizer Rohstoffhändler wollen auch russisches Getreide verkaufen». In: Neue Zürcher Zeitung vom 24.7.2022

US-Finanzministerium. Amt für die Kontrolle ausländischer Vermögenswerte. «Merkblatt Ernährungssicherheit: Russland-Sanktionen und Handel mit Agrargütern» vom 14. Juli 2022 (The Department of the Treasury. «OFAC [Office of Foreign Assets Control] Food Security Fact Sheet: Russia Sanctions and Agricultural Trade». July 14, 2022)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK