Der kommende Herbst und Winter in Deutschland

Wie umgehen mit dem hausgemachten Energiedebakel

von Karl-Jürgen Müller

Die deutschen Machteliten erinnern derzeit in zwei wichtigen Charakteristika an das Ancien Régime vor der Französischen und die Zarenherrschaft vor der Russischen Revolution: Hochmut und Realitätsverweigerung. Das kann nicht im Sinne der Bürger des Landes sein. Für den Herbst des Jahres werden Proteste erwartet.

Deutschland steht nicht vor einer «Revolution». Aber schon jetzt warnen verschiedene deutsche Politiker1, Verfassungsschutzämter der Bundesländer2 und «Wissenschaftler» aus regierungsnahen Stiftungen3 davor, die anhaltende Inflation bei vielen Produkten des täglichen Lebens, die enormen Preissteigerungen bei Gas und Strom und die zu erwartenden weitergehenden Folgen des Energiemangels würden sehr wahrscheinlich zu einem heissen Herbst mit massiven Protesten führen. Umfragen (siehe Kasten) sprechen in der Tat von einer grossen Protestbereitschaft. Die deutschen Machteliten steuern schon jetzt öffentlich dagegen. Sie behaupten: Die kommenden Proteste würden von «rechtspopulistischen» und «rechtsextremen» Kräften für staatsfeindliche Ziele missbraucht. Das sollte die Schublade sein, um reagieren zu können: sehr wahrscheinlich nicht auf die feine und dialogbereite Art.
  Nachdem nun aber auch ein prominenter ostdeutscher Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke zu Protesten aufgerufen hat, verliert die Zuordnung in Richtung «rechts» an Argumentationskraft. Die nun aktuelle Parole scheint zu lauten: die Möglichkeit bedeutender Proteste klein- und am besten gar nicht darüber reden (siehe Kasten). «Sicherheitsexperten» werden zitiert – so im Spiegel vom 20. August 2022 – , die genau dies empfehlen.

Der Unmut der Bürger ist berechtigt

Was kann man in dieser Situation tun?
  Sollte es im kommenden Herbst und Winter in Deutschland tatsächlich zu politisch bedeutsamen Protesten kommen, so wäre der Unmut, der solchen Protesten zugrunde liegt, sehr berechtigt. Denn anders als die deutsche Regierung, die alles tut, um die enormen Inflations-, Energiepreis- und Energiemengen-Probleme auf Russland abzuwälzen – erneut wieder in einer Pressemitteilung vom 4. August zur für den 1. Oktober 2022 beschlossenen sogenannten Gasumlage für alle Gaskunden4 –, erkennen viele Bürgerinnen und Bürger, dass die genannten Probleme weitgehend hausgemacht bzw. dem Kniefall vor dem «Bündnispartner» USA geschuldet sind.
  Der zu erwartende Gasmangel5 sowie die schon jetzt exorbitant gestiegenen und weiter steigenden Gas- und Strompreise sind unter anderem das Resultat deutscher und EU-europäischer Energie- und Energiepreispolitik der vergangenen Jahre. Hinzu kommt die deutsche und EU-europäische Sanktionspolitik gegen Russland. Einen lesenswerten Artikel hierzu hat Jens Berger von den deutschen Nachdenkseiten verfasst.6 Aber auch auf der Internetseite des in Russland lebenden Deutschen Thomas Röper (Anti-Spiegel) finden sich einige Artikel, die wichtige Tatsachen und gut nachvollziehbare Argumente auflisten.7 Auch offizielle russische Stellungnahmen zum Thema wie die der russischen Botschaft in Berlin sollten nicht gleich als Propaganda abgetan werden.8 Nicht zuletzt erkennen auch einige Verantwortliche in EU-Staaten, nicht nur in Ungarn9, sondern auch Politiker aus Ostdeutschland wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer10, dass die jetzige Sanktionspolitik eine Sackgasse ist, mit der sich vor allem die EU-Staaten selbst schweren Schaden zufügen. Selbst deutsche Fernsehmagazine wie das Wirtschaftsmagazin Plusminus haben Sendungen ausgestrahlt, welche die Behauptung, an der ganzen Misere bei Strom und Gas sei einzig und allein Russland schuld, in Frage stellen: Deutschland beliefert zum Beispiel trotz zu wenig gefüllter Gasspeicher einige EU-Staaten mit sehr viel Strom, der in deutschen Gaskraftwerken produziert wird.11
  Deshalb wäre es nur verständlich, sogar wünschenswert, wenn Millionen von Deutschen im kommenden Herbst ihre Meinung öffentlich äussern. Nicht nur gegen die massiven finanziellen Belastungen protestieren, sondern auch zum Ausdruck bringen, was viele von ihnen wollen: eine Beendigung des Krieges in der Ukraine so schnell wie möglich; ein sofortiges Ende aller Kriegsverbrechen dort; ein Ende deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine; deutschen Druck auf die Regierung der Ukraine, ernsthafte Verhandlungen mit Russland wieder aufzunehmen; eine Friedenslösung, die die Sicherheitsinteressen aller europäischen Länder, auch diejenigen Russlands, beachtet; ein Ende der deutschen Sanktionen gegen Russland; eine Öffnung von Nord Stream 2, damit so schnell wie möglich ausreichend viel Gas nach Deutschland und Europa fliessen kann.12

Politischer Realismus und politische Ethik

Denjenigen, die protestieren werden, ist politischer Realismus zu wünschen. Ist zu erwarten, dass die deutschen Machteliten auf die Forderungen der Bürger eingehen werden? Kurzfristig wohl kaum! Ist der Protest deshalb sinnlos? Das ist er nicht! Wenn der Protest mehr ist als ein «Event», ein «Happening», eine Versammlung von «Wutbürgern»; wenn ihm intensives Nachdenken und gründliche Diskussionen vorausgehen, wenn die Proteste selbst vom aufrechten Gang und von ernsthafter Auseinandersetzung zeugen, von einer Orientierung am Gemeinwohl, dann können sie auch auf die Bürger ausstrahlen, die bislang noch abseits stehen.
  Selbstverständlich ist damit zu rechnen, dass Proteste missbraucht werden: von politischen Hasardeuren, aber auch von den Macht-eliten und ihren Diensten. Dies wird jedoch um so weniger greifen, je mehr sich jeder, der mit einem ehrlichen Anliegen an solchen Protesten teilnimmt, seiner Verantwortung bewusst ist. Die Erfahrungen vieler Jahre haben gezeigt, dass es viele Formen gelungener Proteste gibt, dass sich Menschen gegen eine überbordende Machtpolitik erfolgreich wehren können. Mit dem Verantwortungsbewusstsein und dem Gemeinschaftsgefühl wächst auch die Kreativität.
  Deutschland hat eine andere Politik verdient – und es ist dem Land zu wünschen, dass die Bürger des Landes ihre Geschicke mehr in die eigenen Hände nehmen. Damit es dem Land in absehbarer Zeit wieder besser gehen kann.  •



1 zum Beispiel: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/faeser-warnt-vor-protesten-wegen-hoher-energiepreise-18179489.html#void vom 17.7.2022; in einem Beitrag vom 9.8.2022 hat die deutsche Innenministerin Faeser (SPD) ihre Aussagen vom Juli allerdings relativiert: https://www.nau.ch/news/europa/innenministerin-faeser-glaube-nicht-an-wutburger-66239615. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock hatte schon vorher vor einem deutschen «Volksaufstand» gewarnt, dies aber später ebenfalls wieder relativiert.
2 zum Beispiel:
https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/Politik__Inland_/article240330391/Extremisten-traeumen-von-deutschem-Wutwinter.html vom 6.8.2022
3 zum Beispiel: https://www.deutschlandfunk.de/interview-mit-dieter-rucht-protestforscher-zu-droht-ein-heisser-herbst-dlf-b56e1536-100.html vom 10.8.2022
4 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/gaspreisanpassung-umlage-2068832 vom 4.8.2022
5 vgl. hierzu https://www.nachdenkseiten.de/?p=86817 vom 11.8.2022
6 https://www.nachdenkseiten.de/?p=86619 vom 5.8.2022
7 zum Beispiel: https://www.anti-spiegel.ru/2022/der-medienhype-um-die-selbst-verursachte-gaskrise/ vom 26.7.2022 oder https://www.anti-spiegel.ru/2022/kosten-hintergruende-profiteure-was-bedeutet-die-gasumlage/ vom 9.8.2022
8 https://russische-botschaft.ru/de/2022/08/11/kommentar-der-botschaft-zu-gaslieferungen-aus-russland/ vom 11.8.2022
9 https://www.berliner-zeitung.de/news/viktor-orban-eu-hat-sich-mit-russland-sanktionen-in-die-eigene-lunge-geschossen-li.247156 vom 15.7.2022
10 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-07/michael-kretschmer-ukraine-sanktionen-inflation vom 27.7.2022
11 https://www.ardmediathek.de/video/plusminus/teurer-strom-wieso-kraftwerksbetreiber-gerade-kein-gas-sparen/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3BsdXNtaW51cy81ZWI1NGFlZi1mNTYwLTRhOTYtYTFhZC02ZmJjZjc3ZmY4MWE vom 20.7.2022
12 Aktuelle Umfragewerte des Forschungsinstituts Forsa besagen, dass ein grosser Teil der Befragten in Deutschland für eine Öffnung von Nord Stream 2 plädiert. Allerdings schwanken die verschiedenen vorliegenden Zahlen zwischen 39 und 63 Prozent für eine solche Öffnung. Wer allerdings wie der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki oder die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht öffentlich für eine Öffnung von Nord Stream 2 eintritt, wird an den Medienpranger gestellt.

Demonstrieren gegen hohe Energiepreise? – Was ist Dichtung? Was ist Wahrheit?

«Fast jeder zweite Bundesbürger will wegen der hohen Energiepreise auf die Strasse gehen, wenn es zu Demonstrationen kommt. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA sagten 44 Prozent aller Befragten, sie würden ‹sicher oder mit grosser Wahrscheinlichkeit an Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise teilnehmen›. […] Von allen Befragten insgesamt lehnen allerdings auch 50 Prozent eine Demo-Teilnahme ab. […]
  In anderen Ländern haben die Proteste gegen die steigenden Preise für Lebensmittel und Energie bereits begonnen. Zuletzt kam es in Frankreich zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten aus dem Umfeld der Gelbwesten. […]
  In den Niederlanden protestieren Bauern seit Wochen gegen die Regierung, immer wieder kommt es zu gewalttätigen Zusammenstössen mit der Polizei. Die Behörden greifen hart durch. […]
  Mittlerweile haben sich auch Landwirte in Spanien, Italien und Polen den Massenprotesten angeschlossen. […]
  In Italien blockierten Bauern kürzlich den Verkehr in Mailand mit einem Traktoren-Konvoi. Auch in weiteren italienischen Städten sowie der Hauptstadt Rom gingen die Menschen auf die Strasse. ‹Wir sind keine Sklaven, wir sind Landwirte›, skandierten die Demonstranten. Viele italienische Landwirte sind in Existenznöten.»

www. berliner-zeitung.de vom 20.7.2022


«Darum, dass Deutschland wirklich eine Eskalation infolge der Energiekrise und der damit verbundenen steigenden Preise bevorstehen könnten, sorge sich Scholz vorerst nicht: ‹Ich glaube nicht, dass es in diesem Land zu Unruhen […] kommen wird, und zwar deshalb, weil Deutschland ein Sozialstaat ist›, sagte der Kanzler. ‹Dieser Sozialstaat muss in dieser Situation wirksam sein, indem er klar sagt, dass wir niemanden alleine lassen werden.›»

www.fr.de vom 11.8.2022

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