Den dritten Weltkrieg beenden, bevor es zu spät ist

von Karl-Jürgen Müller

Viele verkennen, dass wir schon mitten in einem Weltkrieg sind. Die Opfer dieses Weltkrieges, der schon bald nach dem Ende des Kalten Krieges Anfang der neunziger Jahre begann,1 gehen schon jetzt in die Millionen. Nun sind auch in der Ukraine Zigtausende Menschenopfer zu beklagen. Noch verhindert die tägliche Kriegspropaganda die notwendige Sachlichkeit und Besonnenheit bei der Suche nach einem Ende dieses Weltkrieges. Sachlichkeit und Besonnenheit aber sind dringend geboten, um so schnell wie möglich weitere Opfer, mehr noch, um die grosse Katastrophe für die gesamte Menschheit – einen Atomkrieg – zu verhindern.

Vorweg: Es ist sehr verkürzt und verfälschend, wenn bei uns im Westen behauptet wird, der russische Präsident Wladimir Putin habe in seiner Rede vom 21. September 2022, mit der er die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte öffentlich bekanntmachte, mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Wörtlich sagte er hingegen:
  «Washington, London und Brüssel drängen Kiew direkt dazu, Militäraktionen auf unser Territorium zu verlegen. Sie sagen bereits offen, dass Russland mit allen Mitteln auf dem Schlachtfeld besiegt werden muss, gefolgt vom Entzug politischer, wirtschaftlicher, kultureller und überhaupt aller Art von Souveränität und der vollständigen Ausplünderung unseres Landes.
  Das geht bis zu nuklearer Erpressung. Ich spreche nicht nur von dem vom Westen unterstützten Beschuss des Kernkraftwerks Saporoschje, wodurch eine nukleare Katastrophe droht, sondern auch von den Äusserungen einiger hochrangiger Vertreter führender Nato-Länder über die Möglichkeit und Zulässigkeit des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen – Kernwaffen – gegen Russland.
  Diejenigen, die solche Erklärungen gegenüber Russland machen, möchte ich daran erinnern, dass auch unser Land über verschiedene Zerstörungsmittel verfügt, von denen einige Komponenten fortschrittlicher sind als die der Nato-Länder. Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Das ist kein Bluff.
  Die Bürger Russlands können sicher sein: Die territoriale Integrität unseres Heimatlandes, unsere Unabhängigkeit und unsere Freiheit werden – das möchte ich noch einmal betonen – mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gesichert. Und diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, müssen wissen, dass der Wind auch in ihre Richtung wehen kann.»2

Was ist von Lars Klingbeils Warnungen
vor einem dritten Weltkrieg zu halten?

Am 23. September titelte das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): «Dritten Weltkrieg verhindern: Lars Klingbeil warnt vor dramatischer Eskalation». Der Bundesvorsitzende der deutschen SPD hatte dem Zeitungsnetzwerk nach der Verkündung der russischen Teilmobilmachung ein Interview gegeben und gesagt: «Wir werden weiter konsequent die Ukraine unterstützen. Gleichzeitig ist klar, es gilt, einen dritten Weltkrieg zu verhindern.» Klingbeil sagte laut RND auch, die aktuellen Erfolge der Ukraine hätten massgeblich mit der Unterstützung aus dem westlichen Bündnis zu tun. Wörtlich wird er wie folgt zitiert: «Die von Deutschland gelieferte Panzerhaubitze 2000 ist eines der erfolgreichsten Waffensysteme, die in der Ukraine eingesetzt werden.»
  Um so mehr stellt sich die Frage nach der Logik solcher Äusserungen. Einerseits bestätigt der SPD-Bundesvorsitzende, dass Deutschland – wie die Nato insgesamt, ganz vorne die USA und Grossbritannien – in der Ukraine Kriegspartei gegen Russland ist. Gleichzeitig aber will er die Gefahr eines dritten Weltkrieges bannen. Herr Klingbeil, so kann das nicht funktionieren. Die Politik der Nato-Staaten der vergangenen 30 Jahre und nun auch die Lieferungen schwerer deutscher Waffen an die Regierung der Ukraine sind – bei Lichte betrachtet – Teile eines dritten Weltkrieges. Seit dem 24. Februar 2022 eskaliert dieser Krieg. Sie aber streuen Ihren Wählern und allen Deutschen Sand in die Augen und vertuschen die Realität.

Wen «unterstützt» der Westen im Ukraine-Krieg?

So, wie unsere Politiker und unsere Medien auch sonst die Realität vertuschen. Zum Beispiel, wen Deutschland (und die Nato und deren Mitkrieger) in der Ukraine tatsächlich unterstützt. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow hat am 22. September in einer Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen3 erneut darauf aufmerksam gemacht. Aber das will bei uns im Westen noch niemand hören, geschweige denn ernstnehmen. Entsprechend scharf fiel die westliche Polemik aus.
  Nicht zuletzt gehört es zur Realität, dass es keine grosse militärische Leistung ist, in einem Krieg eine Wüste verbrannter Erde zu hinterlassen. Die Deutschen wissen dies seit Hitlers «totalem Krieg» gegen die Sowjetunion, der ausgerufen wurde, obwohl die eigene Niederlage schon unübersehbar geworden war. Aber wer weiss denn noch, dass in den weiteren mehr als zwei Jahren Weltkrieg nach Stalingrad mehr Menschen starben als in den Kriegsjahren zuvor? Welch ein Wahnsinn!

Tiefpunkte der Kriegspropaganda

Die Goebbels-Rede im Sportpalast vom Februar 1943 – gehalten zweieinhalb Wochen nach der vernichtenden Niederlage in Stalingrad – war ein Tiefpunkt nationalsozialistischer Kriegspropaganda. Können wir daraus nicht auch lernen, dass Kriegspropaganda nicht nur Angst und Hass schüren, Verstand und Mitgefühl betäuben und Kriegsbereitschaft hervorrufen will? Verhält sich die Eskalation der Propaganda nicht auch indirekt proportional zur tatsächlichen politischen Grösse – was ja nichts anderes bedeuten sollte als eine am Gemeinwohl orientierte Politik? Dass die Propaganda in unseren westlichen Medien in den vergangenen Monaten in bislang unbekannte Tiefen eskaliert ist, ist eben kein gutes Zeichen für die Qualität der -Politik unserer Regierungen. Grosse «Erfolge» im Informationskrieg gegen Russland – dessen rühmt sich ja der Westen – sind wohl eher ein Pyrrhussieg. «Ein Pyrrhussieg ist ein zu teuer erkaufter Erfolg», heisst es bei Wikipedia.
  Anders formuliert: Den seit 30 Jahren vom Westen gegen Russland geführten Krieg werden weder gleichgeschaltete eskalierende Propaganda-Feldzüge (übrigens frage ich mich immer wieder, was in den Köpfen und Seelen von Menschen vorgeht, die solche Propaganda betreiben) noch Waffenlieferungen, noch Sanktionen, noch Umsturzversuche, noch die immer extensivere sonstige Kriegsbeteiligung erträglicher für die Menschheit machen. Nicht erträglicher für die Menschen in EU-Europa, in den USA und in Russland … auch nicht erträglicher für die Schweizer … und auch nicht erträglicher für die Menschen sonstwo auf der Welt – und schon gar nicht erträglicher für die Menschen in der Ukraine. Dagmar Henn, eine nach Russland ausgewanderte Deutsche, hat es am 22. September in einem Kommentar für RT DE sehr anschaulich formuliert: Seit dem Februar 2022 gelte aus russischer Sicht in Richtung Nato-Staaten: «Wenn ihr Eskalation wollt, könnt ihr sie haben.»

Eskalation darf nicht das letzte Wort sein

Eskalation darf aber nicht das letzte Wort sein. In einem Interview mit dem amerikanisch-deutschen Institute for Cultural Diplomacy4 vom 23. September hat Hans Köchler, Präsident der International Progress Organization, Theoretiker und Praktiker des Dialogs der Zivilisationen und Autor bei Zeit-Fragen, auf die Frage, was diplomatisch getan werden kann und sollte, um den Konflikt zwischen dem «Westen» und Russland zu deeskalieren und eine Brücke für eine künftige diplomatische Lösung zu bauen, unter anderem geantwortet:
  «[Die] erfolgreichen Bemühungen von Staaten, die in der Lage waren, die Kommunikationskanäle mit beiden Seiten offenzuhalten, haben gezeigt, dass selbst in Zeiten des Krieges Verhandlungen über die heikelsten Fragen auf der Grundlage einer rationalen Bewertung der Interessen beider Parteien möglich sind, d. h. durch Verfolgung der Realpolitik – anstatt den Emotionen des Augenblicks nachzugeben. […]
»
  Eine wichtige Massnahme der Deeskalation auf westlicher Seite wäre die Aufgabe der umfassenden Sanktionspolitik, die von vielen in den Zielländern als Kollektivstrafe empfunden wird und die auch in den EU-Mitgliedsstaaten wegen ihres Rückschlageffekts zunehmend unpopulär ist.
  Eine weitere wichtige Massnahme wäre die Beendigung des Boykotts von Aktivitäten und Kooperationen in den Bereichen Kultur, Kunst und Wissenschaft, der das Klima unnötig vergiftet und die Kulturdiplomatie völlig unterminiert hat. Die Kultur darf nicht politisiert werden; sie darf nicht zu einem Werkzeug im Arsenal des hybriden Krieges werden. Wenn Staaten in Konflikte verwickelt sind, ist es die Zivilgesellschaft, die Brücken über die Kluft bauen kann. Darin liegt der Wert der Bürgerdiplomatie. Staaten sollten sich nicht in diesen Bereich einmischen.
  In erster Linie könnte eine Deeskalation jedoch durch eine Abschwächung der Rhetorik und Propaganda auf allen Seiten erreicht werden. Solange der Konflikt als Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt wird, besteht die Gefahr, dass er eine endzeitliche Aura annimmt, die um jeden Preis vermieden werden muss. Wie wir in früheren Epochen der Geschichte gesehen haben, kann eine derartige Kriegshysterie leicht Emotionen auslösen, die schnell ausser Kontrolle geraten können.»

Grundlagen für sachlich orientiertes und besonnenes Handeln

Das wären in der Tat sehr wichtige Elemente und zugleich Grundlagen für ein sachlich orientiertes und besonnenes Handeln. Hans Köchler nennt es Verantwortungsethik. Weitere Punkte sind hinzuzudenken: eine wissenschaftliche seriöse Analyse des Krieges, die ohne eine geschichtliche, polit-ökonomische und geopolitische Betrachtung nicht auskommen kann; ein wirkliches Verstehen und Ernstnehmen der Position der Gegenseite. Nicht zuletzt eine ehrliche und ernsthafte Analyse des eigenen Anteils an der Entstehung und am Verlauf des Krieges.
  Vor allem aber: der politische Wille, den Krieg zu beenden.  •



1 Ein Markstein war die Formulierung der Wolfowitz-Doktrin vom 18. Februar 1992; vgl. kurz: https://de.wikibrief.org/wiki/Wolfowitz_Doctrine
2 zitiert nach https://www.anti-spiegel.ru/2022/putins-rede-zur-verkuendung-der-teilmobilisierung-im-o-ton/; eine autorisierte englische Fassung der Rede findet man unter http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390
3 autorisierte Übersetzung ins Englische: https://mid.ru/en/foreign_policy/news/1830851/; Übersetzung ins Deutsche. (nicht ganz vollständig): https://www.anti-spiegel.ru/2022/was-westliche-medien-ueber-lawrows-rede-im-uno-sicherheitsrat-verschweigen/ vom 23.9.2022
4 Institute for Cultural Diplomacy (Washington/Berlin). «Grave Escalation in the Russia-Ukraine Conflict: from ‹Grain Diplomacy› to an All-Out-War. 5 Questions to Prof. Dr Hans Köchler», 23. September 2022; https://i-p-o.org/IPO-nr-RUSSIA-UKRAINE-ESCALATION-Interview-23Sept2022.htm; Übersetzung aus dem englischen Original

 

 

Grenzen in Europa wurden immer wieder geändert

km. Die Referenden in grossen Teilen von vier ukrainischen Oblasten über einen Beitritt zur Russischen Föderation haben die Schlagzeilen der vergangenen Tage geprägt – bei uns im Westen, aber auch in Russland. Zwei dieser Oblaste, Donezk und Luhansk, waren schon am 22. Februar 2022 von Russland als unabhängige Republiken anerkannt worden.
  Die Berichte und Urteile über diese Referenden können unterschiedlicher nicht sein. Für den Westen waren es «Scheinreferenden», die völkerrechtswidrig, undemokratisch und unter Zwang abgehalten wurden. Die westlichen Regierungen haben verkündet, dass sie die Ergebnisse «niemals» anerkennen und neue Sanktionen gegen Russland verhängen werden. Für Russland ist mit den Referenden das Recht auf Selbstbestimmung, das völkerrechtlich garantiert ist, zur Geltung gekommen. Die offiziellen Angaben sprechen von einer enorm hohen Abstimmungsbeteiligung und einer grossen Zustimmung in allen Oblasten. Wahlbeobachter aus anderen Ländern haben geäussert, dass die Abstimmungen weitgehend ordnungsgemäss abgelaufen sind.
  Die völkerrechtliche Legitimation und der tatsächliche Ablauf der Referenden können an dieser Stelle nicht abschliessend beurteilt werden. Die vorliegenden Stellungnahmen aus dem Westen wirken allerdings durchweg unsachlich und sind von einer antirussischen Grundhaltung geprägt. Auf die Fragen, wie es den Menschen in diesen vier Oblasten die vergangenen acht Jahre seit dem gewalttätigen Regierungswechsel in der Ukraine ergangen ist und was die Mehrheit dieser Menschen heute will, finden wir in den westlichen Mainstream-Medien keine überzeugende Antwort.
  Die grossmehrheitlich russischsprachige Bevölkerung in allen vier Oblasten wurde in den vergangenen acht Jahren stark diskriminiert, gegen die Menschen in den sich für autonom erklärten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk wurde massive Gewalt mit mehr als 10 000 zivilen Opfern angewendet. Das der Zivilbevölkerung gegenüber rücksichtslose Verhalten der ukrainischen Streitkräfte seit dem 24. Februar 2022 hat viele Menschen in diesen Oblasten noch mehr als bis dahin schon vom Staat Ukraine abgeschreckt. Es ist deshalb nicht abwegig, davon auszugehen, dass tatsächlich eine grosse Mehrheit in allen vier Oblasten für eine Unabhängigkeit von der Ukraine und für eine Integration in die Russische Föderation gestimmt hat. Wie damit umgehen, wenn ganze Landesteile eines Staates von einer Zentralregierung diskriminiert und mit Gewalt überzogen werden? Darauf wird im Westen keine Antwort gegeben. Aber eine solche Antwort wäre ein wesentlicher Teil einer sachlichen und besonnenen Diskussion.
  Es ist eine Tragödie der Geschichte, dass Grenzänderungen ganz selten ohne vorherige massive Gewalt vollzogen werden. Das gilt auch für das Europa des 20. und 21. Jahrhunderts. Diese Grenzänderungen waren zum Teil Ausdruck gewalttätiger Eroberungsgelüste, zu einem anderen Teil aber auch der Tatsache geschuldet, dass der Verbleib in einem Staat nicht mehr zumutbar war. Wo es ihm genehm war – so bei der Auflösung der Sowjetunion und von Jugoslawien – hat der Westen die Grenzveränderungen nicht nur bejaht, sondern auch massiv – auch mit Gewalt – unterstützt. Mit dem Feindbild Russland im Gepäck gilt dies für den Westen allerdings nicht, wenn Menschen mit ihrem Land Bürger Russlands werden wollen.
  Ist es in Zeiten des Krieges vollkommen unrealistisch, von den direkt am Krieg Beteiligten Sachlichkeit und Besonnenheit zu fordern? Sehr wahrscheinlich ja. Aber es gibt auch Menschen, die sich ihre eigenen Gedanken machen. Es wäre ein Schritt nach vorne, wenn sich diese Menschen gerade jetzt – wo dies noch möglich ist – auch öffentlich äussern und daran erinnern, dass für die Beendigung des Krieges – will man denn nicht auf den totalen Sieg oder die totale Niederlage setzen – Sachlichkeit und Besonnenheit unverzichtbar sind.

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