«Menschenhandel ist grausam – Schweigen auch!»

ep. Würde man sich in einer Umfrage erkundigen, ob es heute in der Schweiz noch Sklaverei gibt, wäre die Antwort wohl in den meisten Fällen ein Nein. Dieser Meinung setzten an der Medienorientierung am Donnerstag, dem 22. September, in Bern die Initiatoren der Kampagne «Gegen Menschenhandel» Fakten entgegen.

Sklavinnen und Sklaven des 21. Jahrhunderts

Es geht um Arbeitsausbeutung, Organhandel, missbräuchliche Adoptionen, Zwangsheirat und sexuelle Ausbeutung. Sie gehören leider zu den gesellschaftlichen Tatsachen in der Schweiz (und in Europa), an denen niemand mehr vorbeischauen und dazu schweigen darf. Das zeigten eindringlich die Ausführungen von Manfred Paulus, Erster Kriminalhauptkommissar a. D. und Träger des Bundesverdienstkreuzes für 40 Jahre Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Er leitete während 25 Jahren eine kriminalpolizeiliche Dienststelle, wo er verantwortlich für die Bekämpfung von Rotlichtkriminalität war. Zudem ist er seit 20 Jahren in der Präventionsarbeit in Ost- und Südeuropa tätig, eine äusserst wichtige Arbeit, um menschlichem Leid vorzubeugen. Nach wie vor arbeitet er als Lehrbeauftragter an Aus- und Weiterbildungsstätten in Deutschland. Deshalb konnte Paulus als profunder Kenner die Problematik der Prostituierten darstellen. Zu Recht spricht er von Sexsklavinnen, denn der allergrösste Teil von ihnen arbeitet nicht freiwillig in diesem Bereich. In der Schweiz kann man davon ausgehen, dass mehr als 95 % der Betroffenen aus Osteuropa, Vietnam, Nigeria und zunehmend auch aus China stammen. Viele von ihnen wollten ihrer von Armut und Perspektivlosigkeit gezeichneten Lebenssituation entfliehen und wurden mit falschen Versprechungen aus ihrer Heimat weggelockt. Zunehmend wird dabei die Methode «Loverboy» eingesetzt, bei der Männer den jungen Frauen Zuneigung, Liebe vorspielen. Sie geben sogar vor, eine Beschützerrolle zu übernehmen, und gaukeln ihnen eine goldene Zukunft vor. Zu diesem manipulativen Vorgehen gehören das systematische Herauslösen aus dem bisherigen Beziehungsnetz und die leise, jedoch stetige Erhöhung des psychischen Drucks auf die Mädchen und Frauen. Das zieht bei den Opfern eine tiefe Verunsicherung und Irritation nach sich. Oft merken sie gar nicht oder erst zu spät, dass sie in eine Falle geraten sind. So können die Täter ihre Macht ausnutzen, die Betroffenen mit zunehmender psychischer und auch physischer Gewalt gefügig zu machen, bis sie diese dort haben, wo man sie haben will: im Bordell. Die als «Ware Frau» Gehandelten weisen nahezu alle typische Opfereigenschaften auf. Sie kommen aus bitterer Armut, sehen für sich keine Zukunftssperspektiven, stammen meist aus schwierigen familiären und sozialen Verhältnissen, verfügen über wenig Bildung und sind anfällig dafür, verführt zu werden. Das wird von den Menschenhändlern schamlos ausgenutzt. Allein in Moldawien zum Beispiel existieren über 200 nicht lizenzierte «Agenturen», die sich diesem kriminellen Geschäft verschrieben haben. Die drei Phasen der Anwerbung, Schleusung und Ausbeutung sind verbunden mit Lügen, List und Gewalt. Letztlich enden die Opfer als Gefangene einer Subkultur, aus der sie sich aus eigenen Kräften kaum noch befreien können. «Sie tun es doch freiwillig.» «Sie haben es hier doch besser als zu Hause.» Diese oft gehörten Behauptungen – man könnte auch sagen: Wunschargumente der Legalisierungslobby – entlarvte Manfred Paulus mit seinen Ausführungen als realitätsfremd. Deshalb sei es auch ein verhängnisvoller Irrweg, Prostitution als Berufsgattung anzuerkennen und für entsprechende Rahmenbedingungen zu kämpfen. Falsch, betonte Manfred Paulus, denn durch die Legalisierung der Prostitution würde der bis anhin immerhin noch vorhandene gesetzliche Schutz wegfallen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf das sogenannte schwedische oder nordische Modell, das Prostitution verbietet bzw. den Freier büsst, der sexuelle Angebote sucht und kaufen will. Mit diesem Schritt wurde in Schweden eine gesellschaftliche Umbesinnung eingeleitet, und Prostitution wird heute gesellschaftlich geächtet. Interessanterweise sei seither auch die Organisierte Kriminalität auf dem Rückzug, weil ihr ein wichtiges Geschäftsfeld entzogen wurde.

Erhöhter Handlungsbedarf für Bund und Kantone

Für die Schweiz stehen also wichtige Schritte an, denn «Menschenhandel ist grausam – Schweigen auch!», so der berechtigte Name der von zehn Organisationen gestarteten Kampagne. Wie viele Opfer von Menschenhandel genau in der Schweiz leben, ist nicht bekannt. Laut einer Schätzung des Beobachters müsse von rund 5000 Personen ausgegangen werden, verbunden mit einer hohen Dunkelziffer. Die meisten Opfer sind im Sexgewerbe zu finden, Sexsklavinnen eben. Nur etwa fünf Prozent der Prostituierten in der Schweiz kommen aus dem Inland. Der weitaus grösste Teil wird – meist unter falschen Versprechungen oder auch mit Gewalt – aus Moldawien, Rumänien oder Bulgarien, den Armutsländern Osteuropas, sowie aus Afrika oder Asien rekrutiert. Seit einigen Jahren werden aber auch Opfer von Menschenhandel im Gastgewerbe, auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten verortet. Leider werden bis anhin nur wenig Personen wegen Menschenhandels verurteilt – in der Schweiz zum Beispiel waren es zwischen 2010 und 2020 gerade mal zwischen vier und 21, obwohl allein die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration Zürich (FIZ) in einem Jahr (2020) mehr als 300 Opfer von Menschenhandel betreute. Zudem muss von einer ausgesprochen hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Nach wie vor fehlen die nötigen Ressourcen, um wirksam Gegensteuer zu geben oder Betroffenen zu helfen, die aus ihrer furchtbaren Situation aussteigen möchten. Hier leistet Marianne Streiff, Nationalrätin EVP, seit Jahren vorbildliche Arbeit und hat schon mehrere Vorstösse im Parlament lanciert. Der Nationalrat hat bereits 2019 und 2020 zwei EVP-Motionen für mehr Ressourcen für den Kampf gegen den Menschenhandel sowie für einen eigenen Straftatbestand der Arbeitsausbeutung an den Ständerat überwiesen. Am Tag der Medienkonferenz reichte sie eine weitere Motion ein, mit der Ausstiegsprogramme aus der Prostitution gefördert werden sollen, denn «80 bis 90 Prozent der Menschen in der Prostitution würden sofort aus dem Sexgewerbe aussteigen, wenn sie eine Alternative dazu hätten», wie Marianne Streiff in der Begründung ihrer Motion festhält. Sie zeigt deutlich, dass es nicht angeht, die Augen vor Menschenhandel und Ausbeutung zu verschliessen. Gerade die Schweiz hätte durch ihre direkte Demokratie viele Möglichkeiten, die ausgeschöpft werden müssen. Nebst den gesetzlichen Massnahmen auf Bundesebene sind nun auch speziell die Kantone gefordert.

Opfer brauchen dringend Hilfe

Schliesslich legte Kampagnenleiter Ueli Haldimann von der Christlichen Ostmission die Gründe, Ziele und Elemente der Kampagne gegen den Menschenhandel in der Schweiz dar. Die Kampagne umfasst Medienmitteilungen, TV-Clips auf SRF1 und SRF2 sowie verschiedenen Regionalsendern, E-Boards an acht Bahnhöfen, einen eigens produzierten Song sowie eine Kundgebung auf dem Bundesplatz, die am 24. September stattgefunden hat und von vielen weiteren Organisationen unterstützt wurde. Damit wird grundlegende Informations- und Aufklärungsarbeit geleistet. Weiteres Schweigen kann nicht mit Unwissen entschuldigt werden. Diese Elemente der Kampagne spiegeln das in der Medienkonferenz spürbare, grosse Engagement der Organisationen, welche die Kampagne gegen Menschenhandel tragen. Eine Betroffenheit, die nun in der ganzen Schweiz einen Impuls auslösen müsste, diesem menschenverachtenden «Geschäftsfeld» den Boden entziehen müsste, was – so Manfred Paulus – nur durch ein gesellschaftliches Umdenken und eine Annäherung an das nordische Modell realisierbar ist.  •

«Sie gelten als die Sklavinnen und Sklaven des 21. Jahrhunderts. Menschenhandel und Sexsklaverei sind in Verbindung mit dem illegalen Drogenhandel schon heute das bedeutsamste Geschäftsfeld der Organisierten Kriminalität in -Europa.» (Manfred Paulus)

«Es geht nicht nur um die brutale Ausbeutung und Zerstörung von Frauen und Kindern und um zahllose Einzelschicksale. Es geht auch um den Erhalt elementarer Werte, um Menschenrechte und um Menschenwürde, um den Erhalt von Rechtsstaatlichkeit und um Glaubwürdigkeit.» (Manfred Paulus)

«In seinem jüngsten Bericht stellt das fedpol fest, dass die Kantone in der Bekämpfung des Menschenhandels die Arbeitsausbeutung zu wenig berücksichtigen, und ortet dort erhöhten Handlungsbedarf. Es empfiehlt nun auch einen eigenen Straftatbestand für Arbeitsausbeutung, um diese endlich effektiver ahnden zu können.» (Marianne Streiff)

«Menschenhandel ist ein abscheuliches Verbrechen, mit dem die Trägerorganisationen in ihrer Arbeit konfrontiert werden. Die Opfer sind in einer äusserst schlimmen Lage und brauchen dringend Hilfe.» (Ueli Haldimann)

Wie viele Sklaven gibt es weltweit? Schätzungen reichen von 20 bis 46 Millionen. Die Uno schätzt die Anzahl Opfer auf 27 Millionen, der Global Slavery Index sowie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) auf über 40 Millionen. Die Differenzen ergeben sich auf Grund unterschiedlicher Schätzmethoden und Definitionen. Anders als die Uno betrachten der Global Slavery Index und die ILO auch Kindersoldaten, Kinderbräute und Opfer anderer Zwangsehen als Sklaven. Praktisch alle Quellen bestätigen, dass 70 bis 80 Prozent der Opfer Frauen und Kinder sind.

Laut Staatssekretariat für Migration (SEM) werden mittels Asylbefragungen im Jahr durchschnittlich 70 Menschenhandelsopfer in der Schweiz identifiziert, meistens Frauen aus Nigeria oder Eritrea. Allein aus Nigeria gelangen 10  000 Frauen jährlich nach Europa, über 80 Prozent davon landen in der Zwangsprostitution, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM).

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