Kann Deutschland genesen?

von Karl-Jürgen Müller

Im Land geboren, aufgewachsen, Jahrzehnte lang gelebt und gearbeitet, ist es mir nicht gleichgültig, was aus Deutschland wird. Ich fühle mich dem Land nach wie vor verbunden und bin betroffen über dessen Niedergang. Auch wenn ich schon seit 15 Jahren in der Schweiz leben kann, beschäftigt mich doch nach wie vor, was in Deutschland passiert und was aus dem Land wird. Aber es gibt nicht nur persönliche Gründe dafür. Deutschlands Schicksal war und ist eng mit dem Schicksal von ganz Europa verbunden.

Dass Deutschland, ganz gegen seine Nachkriegsvorsätze, wieder tief in einen Krieg verstrickt ist und auch die deutsche Armee, die Bundeswehr, auf Krieg in Europa getrimmt werden soll1, war nicht nur in dieser Zeitung in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder Thema. Diese katastrophale deutsche Aussenpolitik korrespondiert mit besorgniserregenden inneren Entwicklungen – nicht nur im Bereich von Wirtschaft und Finanzen, sondern auch im sozialen und kulturellen Leben. Wie eng der deutsche Kriegs- und Feuilleton-Betrieb miteinander verzahnt sind, zeigte die Verleihung des diesjährigen «Friedenspreises [!] des Deutschen Buchhandels» an einen rassistisch argumentierenden literarischen Propagandisten der ukrainischen Kriegspartei.2 Es geht um mehr als die Unterordnung unter die Diktate von «Diversität», «cancel culture» und Political Correctness. Drei weitere Beispiele aus den vergangenen zwei Wochen für den Zustand des Landes zeigen dies.

Cannabis legal …

Ihrem Koalitionsvertrag folgend, hat die deutsche Bundesregierung am 26. Oktober ein «Eckpunktepapier zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken [!]»3 beschlossen. Dort ist zu lesen: «Cannabis und Tetrahydrocannabinol (THC) [das ist der das Gehirn und anderes Fettgewebe besonders stark schädigende Bestandteil in Cannabis] werden künftig nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft. Genuss-cannabis, Medizinalcannabis und Nutzhanf werden vollständig aus dem Anwendungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes ausgenommen. […] Die Produktion, die Lieferung und der Vertrieb von Genusscannabis werden innerhalb eines lizensierten und staatlich kontrollierten Rahmens zugelassen [die Regierung denkt an Handelsorte wie «Coffee-shops» und Apotheken, obwohl sich Apothekerverbände deutlich von den Plänen der Regierung distanziert haben]. Der Erwerb und der Besitz bis zu einer Höchstmenge von 20 bis 30 Gramm Genusscannabis [das ist recht viel] zum Eigenkonsum im privaten und öffentlichen Raum [!] werden straffrei ermöglicht; privater Eigenanbau wird im begrenzten Umfang [es ist von drei Pflanzen pro Person die Rede] erlaubt. […] Als Mindestalter für den Verkauf und den Erwerb von Genusscannabis wird die Vollendung des 18. Lebensjahres des Erwerbers festgelegt. […] Umsätze aus Verkäufen von Genusscannabis sollen der Umsatzsteuer unterliegen. Daneben ist die Einführung einer besonderen Verbrauchssteuer (‹Cannbissteuer›) vorgesehen.» Schon diese wenigen Sätze eröffnen einen Einblick in eine schöne neue rot-gelb-grüne Drogenwelt voll Orwellschen Neusprechs. Dass aus dem Rauschgift Cannabis «Genusscannabis» werden soll, ist nur ein Beispiel dafür.
  Die Logik des Versuchs, Rauschgiftprobleme dadurch zu lösen, dass Rauschgifte leichter zugänglich sind und rechtliche Sanktionen aufgehoben werden, erschliesst sich bis heute nicht. Allein das Bekanntwerden der Pläne der Bundesregierung wird die gewöhnliche Kiffer-Mentalität beflügeln und mit Sicherheit noch mehr Drogenopfer zur Folge haben. Was das insbesondere für junge Menschen bedeutet, muss hier nicht ausgemalt werden. Ein Beitrag zur Förderung gemeinschaftlich orientierter jugendlicher Beziehungsgestaltung und jugendlicher Leistungsbereitschaft und -fähigkeit ist es sicher nicht. Da klingt die Formulierung im Eckpunktepapier, man «verfolge das Ziel, zu einem verbesserten Jugendschutz und Gesundheitsschutz für Konsumentinnen und Konsumenten […] beizutragen», wie Hohn.

… und Bildung auf dem Abstieg

Am 19. Oktober wurde berichtet, dass 20 Prozent der Viertklässler in Deutschland nicht einmal die Mindestanforderungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und in der Mathematik erreichen. Die Grundschüler wurden 2021 getestet, und die Ergebnisse sind nochmals signifikant schlechter als die von 2016, die wiederum signifikant schlechter waren als die von 2011. Heike Schmoll von der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» kommentierte am 19. Oktober zu Recht: «Schon am Ende der Grundschulzeit werden diese Kinder um ihre Zukunft gebracht.» Sie brachte damit zum Ausdruck, dass dieser schlechte Bildungsstand das Resultat aktiver bildungspolitischer Versäumnisse und Fehlentscheidungen ist.

Nicht zu schade, den Namen von Hannah Arendt zu missbrauchen

Am 14. Oktober verkündete das deutsche Aussenministerium mit einer Pressemitteilung: «Aussenministerin Baerbock und Kulturstaatsministerin Roth rufen mit der Hannah-Arendt-Initiative ein Schutzprogramm für Journalistinnen und Journalisten ins Leben.» Das Erstaunen darüber, dass etwas für eigenständig denkende Journalisten getan werden soll, die in den vergangenen Jahren der Gleichschaltung in der deutschen Medienwelt, den zunehmenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Deutschland4 und der Ausgrenzung zum Opfer gefallen sind, währt indes nur kurz. Denn um diese Menschen, von denen zum Beispiel im Buch «Zensur»5 von Hannes Hofbauer ausführlich die Rede ist, geht es gar nicht.
  Statt dessen ist diese Initiative Bestandteil der deutschen Kriegsführung und des Informationskrieges gegen Russland und andere nicht genehme Staaten, und Frau Baerbock und Frau Roth, beide von Bündnis 90/Die Grünen, sind sich dabei nicht einmal zu schade, eine Persönlichkeit wie Hannah Arendt für ihre Zwecke zu missbrauchen. Wo bleibt der Protest all derer, die das Leben und Werk von Hannah Ahrendt und ihren Einsatz gegen totalitäres Denken durchdrungen und gewürdigt haben? Ein totalitäres Denken und Handeln, das leider auch im heutigen Deutschland um sich greift.

Kann Deutschland trotzdem genesen?

Dem deutschen Widerstand in den Jahren ab 1933 ist es nicht gelungen, die totalitäre Machtausdehnung und den Unrechtsstaat der Nationalsozialisten zu verhindern. Auch die deutschen Verbrechen und die zig Millionen Opfer des Krieges konnten nicht verhindert werden. Deutschland musste militärisch niedergerungen werden. Eine Tragödie! Aber die verschiedenen Widerstandsgruppen haben etwas für die Zeit nach dem Spuk geleistet. Sie waren sittliche Vorbilder, haben geistige und moralische Grundlagen für ein neues Deutschland nach dem Krieg gelegt.
  Peter Bucher hat 1990 im Rahmen der Quellensammlung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt Stimmen und Dokumente aus Nachkriegsdeutschland der Jahre 1945–1949 auf fast 500 Buchseiten zusammengestellt. Es lohnt sich auch heute wieder, diese Texte zu lesen. Hier kommen Persönlichkeiten und Vereinigungen zu Wort, die nicht erst am Kriegsende begonnen haben nachzudenken, sondern zahlreiche Bezüge zum deutschen Widerstand in den Jahren 1933–1945 hatten. Die Weltanschauungen und politischen Positionen waren sehr unterschiedlich und auch kontrovers. Aber aus fast allen Texten scheint die Besinnung auf eine fundierte politische Ethik, die Abwendung vom reinen Machtdenken und der Respekt vor der Menschenwürde durch.
  Geschichte wiederholt sich nicht, die Deutschen von heute können nicht wie die Deutschen von damals sein. Aber auch heute gibt es Menschen, Persönlichkeiten in Deutschland, denen es nicht um Macht und Reichtum, sondern um ihre Mitbürger, ihre Mitmenschen geht. Menschen, denen das Schicksal ihres Landes nicht gleichgültig ist. Wenn sich diese Persönlichkeiten an die Arbeit machen, vielleicht noch ein wenig mehr als bislang schon und auch noch etwas mehr im Miteinander – über die Unterschiede hinweg mit Konzentration auf die Gemeinsamkeiten –, dann kann Deutschland genesen und der Spuk ein Ende finden.  •



1 vgl. «Zeitenwende in den Köpfen»; https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9060 vom 21.10.2022
2 vgl. «Die Russen sind ‹Unrat›: Pamphlet erhält den ‹Friedenspreis› des Buchhandels»; https://www.nachdenkseiten.de/?p=89603 vom 24.10.2022
3 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunktepapier_Abgabe_Cannabis.pdf
4 vgl. hierzu auch verschiedene Links zur aktuellen Verschärfung des deutschen Strafrechts (Paragraph 130, Absatz 5 StGB) mit Beschluss des Deutschen Bundestages vom 20. Oktober 2022: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw42-de-bundeszentralregister-915600;https://www.anti-spiegel.ru/2022/still-und-heimlich-eingefuehrt-das-ende-der-meinungsfreiheit-in-deutschland/; https://www.jungewelt.de/artikel/437430.justiz-und-grundrechte-enger-meinungskorridor.html; https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/volksverhetzung-voelkermord-kriegsverbechen-groeblich-verharmlosen-billigen-leugnen-130-stgb-holocaust/; https://www.nzz.ch/international/leugnung-von-kriegsverbrechen-deutschland-verschaerft-das-strafrecht-ld.1709118?reduced=true; https://www.tagesspiegel.de/politik/aufregung-um-verscharften-volksverhetzungsparagrafen-weitreichender-eingriff-oder-blosse-formalie-8805754.html; https://www.nachdenkseiten.de/?p=89655; https://www.nachdenkseiten.de/?p=89732; https://rtde.live/kurzclips/video/152733-hannes-hofbauer-zur-anderung-von/?utm_source=Newsletter&utm_medium=Email&utm_campaign=Email
5 vgl. die Buchbesprechung in Zeit-Fragen Nr. 14 vom 28.6.2022

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK