Zum Buch «Integration, Separation, Kooperation. Ein Beitrag aus heilpädagogischer Sicht»

von Marianne Wüthrich

Ob die Integration in eine Regelklasse für jedes Kind die menschlich und pädagogisch beste Lösung ist, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Es ist wohltuend, mit dem vorliegenden Buch von Riccardo Bonfranchi, Renate Dünki und Eliane Perret einen Einblick aus heilpädagogischer Sicht zu bekommen, der das Kind und sein Recht auf Bildung und soziale Teilhabe ins Zentrum stellt. Es richtet sich nicht nur an Eltern und ausgebildete oder werdende Heilpädagogen, sondern auch an Lehrerinnen und Lehrer in Regelschulen sowie interessierte Bürger, und nicht zuletzt auch an Bildungsverantwortliche.
  Ein Blick in die Geschichte der Sonder- und Heilpädagogik lässt erkennen, dass zunächst Einzelne sich für eine Bildung für alle einsetzten und Schulen auch für Kinder und Jugendliche einrichteten, für die sich die damalige Pädagogik nicht zuständig sah (z. B. Blindenschulen). Nach dieser historischen Einführung, die auch auf den Blickwechsel heutiger Ausbildung eingeht, folgt eine kurze rechtliche Einordnung. Sie greift internationale Konventionen, ihre Auslegung und rechtliche Umsetzung auf. Darauf aufbauend lernt der Leser anhand vieler anschaulicher Fallbeispiele Kinder mit unterschiedlichen kognitiven Beeinträchtigungen kennen und erhält einen Eindruck von der anspruchsvollen täglichen Arbeit heilpädagogischer Fachleute. Ein «Zwischenhalt» am Ende der einzelnen Kapitel erleichtert das Verständnis der dargelegten pädagogischen und sozialen Zusammenhänge.

Zwei wichtige rechtliche Aspekte

Als Juristin möchte ich zwei wichtige rechtliche Aspekte herausgreifen:

  • Die «Schule für alle» im Sinne der entsprechenden internationalen Konventionen meint nicht, dass alle Kinder gemeinsam beschult werden müssen, sondern dass jedes behinderte Kind das Recht auf eine seinen Möglichkeiten entsprechende Bildung hat – was in ärmeren Ländern leider oft nicht die Regel ist (S. 22f.).
  • Nach schweizerischem Recht beziehungsweise den Schulgesetzen der meisten Kantone ist die Einrichtung von Kleinklassen möglich und sollte nicht aus dogmatischen oder finanziellen Erwägungen abgelehnt werden, wenn sie für eine adäquate Schulung von Kindern mit Behinderung oder schweren Verhaltensauffälligkeiten sinnvoll wäre (S. 23f.).

Die Autoren halten fest, dass die Förderung eines kognitiv beeinträchtigten Kindes oder Jugendlichen in einer Kleinklasse oder einer Heilpädagogischen Schule oft «professioneller und deshalb gezielter möglich ist». Auch weisen sie das häufig angeführte Argument eines besseren sozialen Zugehörigkeitsgefühls des behinderten Kindes in der Regelklasse entschieden zurück, denn der ständige Vergleich wirke sich vielmehr schwächend auf die Persönlichkeit des Kindes aus, bagatellisiere seine Problematik und verletze es in seiner Würde (Zwischenhalt, S. 33). Anhand von sehr ansprechenden Lernsituationen wird gezeigt, wie in der heilpädagogischen Praxis «die Themen sorgfältig strukturiert, anschaulich, handlungsorientiert und verknüpft mit dem jeweiligen Erfahrungshintergrund vermittelt werden» (Zwischenhalt, S. 42). Der Klassenlehrerin in einer Regelklasse fehlt dafür allein schon die notwendige Zeit.

Befähigung zu einem möglichst selbstbestimmten Leben –
eine gemeinsame Aufgabe für Eltern und Schule

In Kapitel 5 geht es um die grosse Bedeutung der bündigen Zusammenarbeit zwischen Eltern und Heilpädagogen für eine positive Entwicklung des Kindes. Am Beispiel eines Kindes mit einem Downsyndrom wird die schwierige Lage der Eltern thematisiert, die sich für die Regelschule oder eine Heilpädagogische Schule entscheiden müssen. Die Autoren zeigen grosses Verständnis dafür, dass viele Eltern sich von der Integration in die Regelschule eine «normalere» Entwicklung ihres Kindes erhoffen. Aus diesem Grund entschliessen sich manche erst nach mehreren Jahren zum Wechsel in eine Heilpädagogische Schule, was die gedeihliche Entwicklung im Einzelfall erschweren oder verzögern kann. Im vorliegenden Fall wurde das Kind im Regelkindergarten zwar sehr liebevoll behandelt, erhielt aber die notwendige Förderung nicht, sondern gewöhnte sich daran, dass ihm von der Kindergärtnerin und seinen Gspänli vieles abgenommen wurde. In der Heilpädagogischen Schule erhielt es dann eine «auf die Achtung seiner besonderen Bedürfnisse eingerichtete Schulung» und machte bald die ersten Fortschritte.
  Ein essentielles Ziel der Bildung ist – wie für alle Jugendlichen – auch für kognitiv beeinträchtigte junge Menschen die Fähigkeit, ihr Leben als Erwachsene so gut wie möglich selbstbestimmt führen zu können. Die Autoren zeigen an differenzierten Fallbeispielen, wie junge Menschen angeleitet werden, sich im Alltag, zum Beispiel im öV, zurechtzufinden, und wie anspruchsvoll die Berufsvorbereitung und -vermittlung sein kann. Wenn es nicht möglich ist, auf dem regulären Lehrstellenmarkt etwas Geeignetes zu finden, gibt es in der Schweiz auch viele Ausbildungsplätze in einem geschützten Rahmen. Damit der Übergang zu einem selbstbestimmten Erwachsenenleben gelingen kann, ist ein frühzeitiger Beginn einer adäquaten Schulbildung aber unerlässlich. Im «Zwischenhalt» auf Seite 76/77 kritisieren die Autoren, dass es für sogenannte «Hochbegabte» zunehmend besondere Förderangebote gibt, während – vor allem auf der Primarschulstufe – Kleinklassen und spezialisierte Förderschulen für Kinder mit Behinderungen geschlossen werden. Wo bleibt die Respektierung der «Gleichwertigkeit» aller Kinder?

Kooperation oder teilweise Integration statt Inklusion

Schliesslich greifen die Autoren auch andere Schulformen auf, die für alle beteiligten Kinder eine Bereicherung sein können: «Die Frage stellt sich, ob es nicht Möglichkeiten gemeinsamer Aktivitäten und Begegnungen geben könnte. Denn das Anliegen, Menschen mit und ohne Behinderung miteinander in Kontakt zu bringen, ist sinnvoll und muss gefördert werden.» (S. 79) Die beiden Fallbeispiele dazu zeigen, dass gemeinsame Projekte oder das stundenweise Dabeisein eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen in einer Regelklasse seines Wohnortes eine gefreute Sache werden können. Es versteht sich von selbst, dass das Gelingen gemeinsamer Projekte in erster Linie vom Engagement der beteiligten Lehrer-teams abhängt. «Kooperations- und Teilintegrationsprojekte stellen hohe menschliche Anforderungen. Sie können deshalb nicht verordnet werden!» So die Autoren (S. 82). Es ist jedenfalls lohnenswert, solche zielführenden Ansätze weiterzudenken.

Kinder mit Verhaltens- oder Lernproblemen besser verstehen

Unter diesem Titel greift das Autorenteam auch diese grosse Gruppe von Kindern auf, die häufig als Hauptverantwortliche für die Störung der Bedürfnisse der «normalen» Schüler wahrgenommen werden. Die Autoren betrachten die Probleme hingegen aus dem Blickwinkel der sogenannten «Störenfriede», die in den Integrationsklassen oft zu kurz kommen, weil sie nicht ihren Bedürfnissen entsprechend gefördert werden. Denn sie brauchen eine ruhige Lernumgebung und einen klar strukturierten Unterricht, vor allem aber eine «enge, haltgebende Beziehung zu ihrer Lehrerin» (S. 87). Auch für diese Kinder kann die adäquate Förderung in einer Kleinklasse der bessere Weg sein. Es darf aber nie darum gehen, sogenannte Störer zu separieren, um das «Problem wegzuschaffen». Als zukunftsweisendes Modell nennen die Autoren die gelebte Kooperation einer Sonderschule und einer Regelklasse im selben Schulhaus (S. 89ff.).
  «Integration, Separation, Kooperation» ist ein wissenschaftlich fundiertes und einer heilpädagogischen Ethik verpflichtetes Fachbuch, das auch für Nicht-Fachleute sehr informativ ist. Die Autoren scheuen sich nicht, gängige Vorurteile und Fehlentwicklungen der Schulreformen beim Namen zu nennen. Dabei gehen sie immer vom Kind aus.  •

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